Heindl / Potz | Kurt Schwertsik und der Begriff der Moderne im Wandel | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Heindl / Potz Kurt Schwertsik und der Begriff der Moderne im Wandel

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7065-6301-7
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kurt Schwertsik (*1935) zählt zu den Pionieren der Neuen Musik in Österreich. Seit den 1950er Jahren entwickelte er als Komponist eine Tonsprache, die in eigenständiger Weise auf die verschiedenen Strömungen der musikalischen Avantgarde antwortet. Begegnungen mit internationalen Größen wie John Cage, Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel prägten Schwertsiks Perspektive auf das, was im Rückblick unter dem Stichwort der "Moderne" subsumiert wurde. Die "Moderne im Wandel" steht als Sinnbild für Schwertsiks eigene Metamorphose, die sein Werk vielschichtig und zugleich authentisch macht.

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf ein Symposium zurück, welches anlässlich des 85. Geburtstags von Kurt Schwertsik am Archiv der Zeitgenossen in Krems stattfand, wo sich auch der Vorlass des Komponisten befindet. Ein detailliertes Werkverzeichnis zeigt im Anhang die Vielfalt seines künstlerischen Schaffens.

Mit Beiträgen von Lucia Agaibi, Peter Davison, Martin Eybl, Matthias Henke, Marco Hoffmann, Gottfried Franz Kasparek, Susanne Schedtler, Christian Scheib, Claus-Christian Schuster, Julian Schutting und Gundula Wilscher.
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Christian Scheib
„… dass ich eigentlich ein Nostalgiker der Moderne bin“ – Kurt Schwertsik und die Sehnsucht
Lieder der Bäume lautet der Titel eines schmalen, 37-seitigen Buches, das im Jahr 1914 in Prag erscheint.1 Der Autor des Buches ist Erzherzog Ludwig Salvator, Mitglied der Kaiserhausfamilie ebenso wie Quergeist, Naturforscher und Poet. Ein Leben lang ist er auf dem und rund um das Mittelmeer unterwegs, meist mit seiner Dampffregatte Nixe. Unaufhörlich protokolliert und sammelt er alles, was Naturgeschichte und Kulturgeschichte des mediterranen Raumes betrifft. Viele Dutzende Bücher erscheinen, viele werden international preisgekrönt. Das Buch Lieder der Bäume trägt den Untertitel Winterträumereien in meinem Garten in Ramleh, also in Ägypten. Kurz nach dem Erscheinen des Buches bricht der 1. Weltkrieg aus. Ludwig Salvator muss sein geliebtes Mittelmeer auf kaiserliche Anordnung Richtung Tschechien verlassen und stirbt ein Jahr später. Die Lieder der Bäume sind so poetische wie detailgenaue, akustische Beobachtungen des Raschelns der Blätter im Wind, zwischen den verschiedenen Baumsorten wird klanglich penibel unterschieden. Vor dem geistigen Ohr entstehen beim Lesen ganze Baumsymphonien, vom zarten Säuseln zum mächtigen Aufbrausen. Aber natürlich ist im Folgenden nicht von Ludwig Salvators Baum- und Blätterrauschen die Rede, sondern – in diesem Zusammenhang – von einem Werk des Komponisten Kurt Schwertsik. Nachdem Kurt Schwertsik ein Großmeister des Gehaltvollen in leichtfüßigem Gewand ist, hoffen wir, dass er diese Introduktion zu Überlegungen zu seinen eigenen Baumgesängen (op. 65, 1992) goutieren kann. Dass die Salvator’schen Lieder der Bäume und die Schwertsik’schen Baumgesänge weitläufig miteinander verwandt sind, liegt auf der Hand, auch wenn Kurt Schwertsik mit der Zuschreibung der Poesie ein wenig vorsichtig ist. „Dass Bäume singen“, heißt es in der handschriftlichen Notiz zu seinen Baumgesängen, „ist natürlich eine poetische Unterstellung. […] Aber ist die Poesie nicht die Erinnerung an eine Wirklichkeit, die reicher war […]?“2 Vom zarten Säuseln zum mächtigen Aufbrausen: Die Bäume können das alles in Kurt Schwertsiks Baumgesängen. Um die Unterschiedlichkeit, wenn nicht gar Gegensätzlichkeit der einzelnen Baumgesänge anzudeuten, seien noch die Satzüberschriften angeführt: 1. Satz, Breit gesungen (Cantabile, ma pesante), dann, zweieinhalb Minuten später, Lebhaft, aggressiv (Vivace), gefolgt von Bleischwer (Molto pesante). Der vierte Satz ist dann Sehr gedehnt (Allargare il tempo), bevor wir uns mit Beweglich (Poco rubato) sowie Lebhaft, aggressiv (Vivace) im Finale wiederfinden. Aneignung von Natur oder Transformation von Natur, in Natur aufgehen oder nach ihr suchen: Auf all das werden wir bei den folgenden Überlegungen zu Kurt Schwertsiks Musik wieder stoßen. In Friedrich Schillers Text Über naive und sentimentalische Dichtung aus dem Jahr 1795 heißt es: Sie werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen. Daraus entspringen zwei ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschöpft und ausgemessen wird. Alle Dichter, die es wirklich sind, werden, je nachdem die Zeit beschaffen ist, in der sie blühen, oder zufällige Umstände auf ihre allgemeine Bildung und auf ihre vorübergehende Gemütsstimmung Einfluß haben, entweder zu den naiven oder zu den sentimentalischen gehören. […] Ganz anders verhält es sich mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser reflektiert über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft.3 Naiv sind also laut Schiller die an das Unmittelbare Glaubenden, sentimentalisch hingegen die sehnsuchtsvoll und reflexiv produktiv Weiterarbeitenden. Naiv wäre demgemäß die Moderne mit ihrem Glauben an die aus sich selbst heraus mögliche Neuerschaffung der Welt, dem Glauben an die Junggesellenmaschine; sentimentalisch hingegen die reflexive Postmoderne. Kurt Schwertsik vermeidet dezidierte Musiker-Hommagen eher, auch wenn es explizite Bezüge auf Musik von den Beatles bis John Cage gibt. Vielleicht tut er dies, weil sein Werk seit Jahrzehnten insgesamt das Gefühl des Reflektierens „über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen“ zum Gegenstand hat. Wie der [Mauricio] Kagel gesagt hat: Wir glauben vielleicht nicht alle an Gott, aber alle Musiker glauben an Bach. Und das ist eine Vorgabe, an der muss man sich messen. Und die ist natürlich dermaßen erdrückend. Es gibt so viele erdrückende Dinge, aber er ist das Symbol des Erdrückenden. Mich interessiert der musikalische Fluss, wenn ich das durchspiele, und der ist von einer unbegreiflichen Selbstverständlichkeit und Schönheit. Man kommt auf den Berg zu und bleibt immer gleich weit entfernt. Und das ist halt ein langer Weg. Und immer wieder stellt sich die Frage, warum komponiert man dann überhaupt, warum komponiert man. Eigentlich haben seit Bach und Beethoven alle trotzdem komponiert und haben versucht, ja, es gibt noch etwas, das man hinzufügen kann, man kann es ein bisserl anders formulieren, das Lebensgefühl ist halt ein anderes.4 Nach Jahren der aktiven Teilhabe an der Nachkriegsavantgarde in und rund um Darmstadt wandelte sich Kurt Schwertsiks kompositorisches Selbstverständnis nicht zuletzt durch Freundschaften wie jene mit Cornelius Cardew und gewährte den Abbildern der realen Welt mehr und mehr Einlass in seine Musik. Von den aufmüpfigen Aspekten der MOB art & tone ART über die politisch lokal-reflexiven Aspekte der Wiener Chronik 1848 (op. 28), über eindeutig historisch Position beziehende Werke wie Ein empfindsames Konzert (op. 56) bis hin zur großen Reflexion über die symphonisch-orchestrale Tradition in Irdische Klänge (op. 37) spannt sich der Bogen von Kurt Schwertsiks zutiefst sehnsuchtsvollem, wenn auch manchmal kasperlndem5 Versuch, die Vergangenheit in die Zukunft weiterzuschreiben. Letztlich, wie er anlässlich der Uraufführung seines Streichquartetts mit Bandoneon mit dem Titel Adieu Satie (op. 86) erzählt, ist das Arbeit an der Trauer über die verlorengegangene Kraft der Moderne. Im Radiostudio sagte Schwertsik: Aber da geht’s nicht eigentlich um Satie, es geht um mehr, es geht um die Moderne. Und ich habe für mich in den letzten Jahren herausgefunden, dass ich eigentlich ein Nostalgiker der Moderne bin, das heißt, mein Begriff von dem, was Moderne ist, war wahrscheinlich immer geprägt von dieser Zeit, von der Malerei, der Dichtung und der Musik Anfang des 20. Jahrhunderts. Meine These war ja immer, dass, nachdem der Faschismus die Moderne beendet hat, nach dem Krieg alles noch einmal passiert, in ähnlicher Form, nur ein bisschen hochtechnologiemäßig. Also die serielle Musik, uhh, da ist man ja als Komponist vor diesen wunderbaren Gedankengebäuden in Verehrung erstarrt, und auch der Dadaismus von Cage und den Leuten um ihn herum und diese quasi neue Sachlichkeit von Steve Reich und anderen, all das hat auch eine gewisse Hochglanzpolitur im Vergleich mit den Ereignissen und Aufbrüchen vor dem Krieg. Und dann dachte ich, was ist denn da passiert, jetzt ist überhaupt nichts mehr von dem da, was für mich wichtig gewesen ist. Für mich war die Moderne ja nicht einfach, dass man diese oder jene Klänge oder Bilder macht, sondern das war eine Lebensaufgabe, eine weltverändernde Tätigkeit. Nun, von all diesen Dingen ist ja überhaupt nichts übriggeblieben. Und das ist bitter. Ich sehe das 20. Jahrhundert als eine Ideologievernichtungsmaschine an. Und da stehen wir jetzt, mit allerhand, na ja, interessanten Vorgängen in der Kunst, aber eigentlich ratlos. Das Skurrile an unserer Situation ist, dass die Technik wirklich irre Fortschritte macht heutzutage und kein Mensch mehr an sie glaubt. Andererseits ist genau das ein sehr lustiges und ganz neues Lebensgefühl. Insofern bin ich wieder sehr interessiert daran, wie es weitergeht, weil ich das Gefühl hab, aus dem kann noch sehr viel werden, aus dieser ganz verrückten geistigen Situation, in der wir sind, wo wir eigentlich gänzlich alleingelassen sind.6 Kurt Schwertsik reagiert schließlich mit Musik, die einen doppelten Boden zu haben scheint. Bevor es dazu kommt, noch ein Blick in, nennen wir es, das vorhin kurz angesprochene Frühwerk des Komponisten. Die frühen Jahre des Komponisten Kurt Schwertsik, die er selbst als Lern- und Lehrjahre empfindet, also die späten 1950er bis in die mittleren 1960er Jahre, empfand und empfindet er selbst als besonders beglückende Zeit. Er ist in Wien, Donaueschingen, Darmstadt zugange, in Venedig, London, Köln, teilweise mit Stipendien, und zu Beginn der 60er Jahre auch in Rom. Es wäre jetzt Namedropping, all jene Komponisten und Künstlerinnen aufzuzählen, die damals entscheidende Einsichten und...


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