Heim | Tanz oder stirb | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten

Reihe: Traumatherapeutin Nuria Haas

Heim Tanz oder stirb

Stuttgart-Krimi

E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten

Reihe: Traumatherapeutin Nuria Haas

ISBN: 978-3-8392-7686-0
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Nuria Haas arbeitet als Traumatherapeutin im trendigen Stuttgarter Westen. Zu ihr kommt Selina Seidel, eine 20-jährige Ballettschülerin mit krankhafter Angst zu fallen. Nach einem Unfall verschwindet Selina plötzlich. Nuria sucht nach ihr und findet die Leiche einer Frau. Unerwartet wird Nuria mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Denn sie verlor als Neunjährige ihre Adoptiveltern. Was ist damals passiert? Und wer hat die Frau umgebracht, die ihre leibliche Mutter sein könnte?
Heim Tanz oder stirb jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1
Sie lag auf der Seite. Sie hatte einen Schuh verloren, ein brauner Mokassin mit halbhohem Absatz. Sie trug Seidenstrümpfe. Ihr beiger Trenchcoat schimmerte wie das Fell eines Hasen. Ihr linkes Auge war geschlossen, die Nase bleich und spitz, der Mund lächelte. Aus ihrem rechten Ohr floss ein Rinnsal Blut. Um sie herum waren ihre Einkäufe verstreut: Erdbeeren, Möhren, ein Salatkopf, Waschpulver. Mittendrin eine zerbrochene Milchflasche, in deren Scherben sich die Abendsonne spiegelte. Ein clowngesichtiger Pfirsich kullerte an den Rand des Stilllebens und blieb dort liegen. Blut stahl sich dazu, fügte sich ungefragt in das Bild ein, das bis dahin perfekt gewesen war. Auch kamen störende Geräusche hinzu, welche die Stille durchschnitten: das Pfeifen des Frühlingswinds, das ferne Rauschen des Verkehrs, das röhrende Rattern einer Straßenbahn. Ein störrischer Vogel, der nicht schweigen wollte. Das alles untergrub die Andacht des Augenblicks, den vollkommenen Stillstand. Während sie so dalag, in der Erinnerung für immer so daliegen würde, am Rand der Straße, in ihrem eigenen Viertel, fast vor dem Haus, in dem sie wohnte, erblühten über ihr die Kastanien, als hätte jemand Kerzen in die Bäume gesteckt. Und diese Kerzen, die sonst stumm waren, sangen ein irrsinniges Lied. Immer, wenn Nuria glaubt, sie habe die Heimsuchung überwunden, überfällt sie diese Szene. Mit einer Eindringlichkeit, die sich mit den Jahren und Jahrzehnten gesteigert hat. Heute ist der Jahrestag. 35 Jahre ist es her, auf den Tag genau. Der 13. März, ein Freitag. Mama hat eingekauft, und dann fuhr sie mit dem Auto nach Hause. Dort, kurz vor dem Ziel, passierte der Unfall. Nuria war neun Jahre alt. Sie war nicht dabei, aber sie hat den Knall gehört und ist mit nackten Füßen rausgerannt. Sie hat ihre Mutter vom Kopfsteinpflaster aufgelesen. Die Einzelheiten wurden über die Jahre immer präziser, und es gesellten sich neue Eindrücke hinzu. Nuria weiß nicht, ob es der Abbau von Blockaden ist, der das ermöglicht, das Schwinden der Verdrängung, oder ob sich ihre Fantasie freie Felder erobert, die vorher mit nichts besetzt waren als mit einer vagabundierenden Angst. Nuria hat mit niemandem darüber gesprochen, niemals, auch damals mit ihrer Lehrtherapeutin nicht. Die sie während und nach der Ausbildung über einen langen Zeitraum hinweg begleitet hat, um aus ihr einen funktionstüchtigen Menschen zu machen, dessen Konflikte bearbeitet und dessen Bedürfnisse geklärt waren, damit er anderen Bedürftigen helfen konnte. Suse war ein kerniger Charakter, ausdauernd, duldend und willensstark, aber sie hat einfach nichts begriffen. Nichts. Mit beiden Beinen springt Nuria aus dem Bett und geht barfuß über den Teppich. An ihren Fußsohlen spürt sie die weiche Wolle, die an die sanfte Berührung von Moos erinnert und einen wohltuenden Kontrast abgibt zum kantigen, harten Kopfsteinpflaster. Und zum Asphalt, mit dem das Pflaster an manchen Stellen ausgebessert war, weil die Neubausiedlung im Bohnenviertel schneller wuchs, als man mit den Straßenarbeiten hinterherkam. Alles wucherte, keimte und blühte auf. Dann verdarb es schon wieder. Was gestern vollbracht war, wurde heute wieder aufgerissen, und morgen kam der Mai und machte alles nochmals neu. Alles war so ungeheuer lebendig. Nuria hat sich in ihrem Traum verheddert, sie ist noch nicht vollends wach. Sie befindet sich nicht 1987 im Bohnenviertel, wo sie als Kind durchgestiefelt ist auf dem Heimweg von der Jakobschule zum Olgaeck, sie lebt 35 Jahre später im Stuttgarter Westen. Nach dem Studium in Tübingen ist Nuria zurück nach Stuttgart gezogen, und nach der Trennung von Archie hat sie sich eine kleine, für ihre Verhältnisse schon damals viel zu teure Dachwohnung in einem reizenden Jugendstilbau in der Hasenbergsteige gekauft. Das Haus steht in luftiger Halbhöhenlage, mit großzügigem Abstand zu den unterschiedlichsten Villen, die dagegen alle massiv und klobig wirken. Es gleicht einem Solitär und wird umsäumt von Skulpturen. Die Hasenbergsteige verbindet Bäume mit Kunst; Mauern wurden mit Hasen besprüht, an einem begrünten Aussichtspunkt genießt man den Panoramablick vom Stuttgarter Kessel in die sich dahinter erstreckende geschwungene Hügellandschaft. In einer kleinen Parkanlage sind zahlreiche Großplastiken von Otto Herbert Hajek vor seiner verfallenden Villa zu Hause. Ein Stück weiter oben mündet die schmale Straße in einen Feldweg, er führt direkt in den Wald. Am Wochenende wird die Hasenbergsteige beherrscht vom Freizeitsport. Autos fahren dagegen kaum. Es ist eine der besten Wohnlagen Stuttgarts. In den bald zehn Jahren, die Nuria hier lebt, sind die Preise explosionsartig angestiegen, und Nuria betrachtet ihre Immobilie dankbar als zusätzliche Altersversicherung. Sie läuft zum Dachfenster und reißt es auf. Tief atmet sie den süßlichen Geruch ein, nach heißem Straßenbelag und Gully, der noch aus ihren Träumen kommt, dem Alp zwischen Schlaf und heraufdämmerndem Wachzustand. Die aufgehende Sonne verzittert im Abendlicht von damals. Sie riecht das Blut und schmeckt es auf der Zunge. Und sie fragt sich, wieder einmal, wie die Kastanien knospen, die Kerzen aufspringen konnten, es war doch erst Mitte März. Wo sind die Erdbeeren und die Pfirsiche hergekommen? Mama konnte das Obst unmöglich eingekauft haben, es müssen Äpfel und Tomaten gewesen sein. So spielt uns die Erinnerung einen Streich und macht der Wahrheit einen Strich durch die Rechnung. Nuria blinzelt in den farbigen Morgen. Der blattlose Baum gegenüber lässt das Blau des Himmels durchscheinen. Langsam ebben die Trugbilder ab, die Gerüche schwinden, und die Müllabfuhr röhrt und klappert. Der Stuttgarter Westen erwacht. Mit einem unbändigen Realismus, einer Lust an den Notwendigkeiten und einer Gier zu gefallen. Nuria registriert, dass es Sonntag ist. Sie muss sich also mit dem Müllauto geirrt haben. Wie an jedem zweiten Wochenende ist Rosalie bei ihrem Vater, und Nuria hat Zeit für sich. Später muss sie in die Praxis, nach dem Rechten sehen; ein paar Abrechnungen stehen noch aus. Außerdem muss der Putzhilfe hinterhergeputzt werden. Erdmute, die die Praxisräume mit Nuria teilt, hat schon an Kündigung gedacht, und auch sie selbst war kurz davor. Aber was ist das für eine Welt, in der eine Reinigungskraft nicht das Recht hat zu schludern, ohne damit gleich den Anspruch auf Krankenversicherung und Rente zu verlieren? Nuria möchte in so einer Welt nicht leben, und Erdmute will das auch nicht. Also wird Omar so schlampig weiterarbeiten wie bisher. Nuria macht sich einen Kaffee mit dem kleinen Espressokocher von Bialetti, den ihr Luisa vor vier Jahren aus Rom mitgebracht hat. Es ist der Klassiker, ein Kultgegenstand, und Luisa hat ihn ihr stolz überreicht, zusammen mit dem richtigen Espresso. Die silberne Dose mit dem rot-schwarzen Aufdruck benutzt Nuria immer noch. Und jedes Mal, wenn sie danach greift, denkt sie an Luisa. Was sie heute wohl macht, wo sie wohl ist? Ob sie sich ein neues Motorino gekauft und eine neue Liebe gefunden hat? Es ist schön, dass Rosalie nicht da ist. Nuria hat deshalb kein schlechtes Gewissen. Sie braucht diese Pausen, um sich zu entspannen, Zeit für sich zu finden, zu sich selber zu kommen. Wie alle 13-jährigen Mädchen kreist Rosalie unablässig um sich selbst, mit dem Unterschied, dass sie das schon vor der Pubertät getan hat und noch hinterher tun wird. Rosalie ist das Zentrum des Universums, sie ist die Sonne, an der sich Nuria ziemlich oft verbrennt. Deshalb ist es auch so kühl in der Wohnung, sobald sie nicht da ist, und die Luft erscheint seltsam leer. Sie ist fast zu dünn zum Atmen. Nuria weiß, dass sie ihre Tochter mehr liebt, als für sie selber gut ist, und dass sie es nicht verkraften könnte, wenn ihr etwas zustieße. Rosalie wiederum braucht diese Liebe, um existieren und wachsen zu können, und sie braucht Archies nervtötende Lässigkeit, um zu vergessen, dass sie anders ist, anders und anstrengend. Mit Espressotasse, Toast und Frühstücksei setzt sich Nuria an den Küchentisch. Schütter scheint die Sonne auf die Wochenzeitung, die ungelesen vor ihr liegt. Da­rauf schlummert ihr Diensthandy. Nuria hat es lautlos gestellt. Dennoch schnarrt es. Nuria kann es nicht lassen. Sie geht ran. »Ja?« »Frau Haas? Mein Name ist Selina Seidel. Sie sind mir empfohlen worden.« Eine junge Stimme. Fest. Stark. Fast voluminös. »Hören Sie, es ist Sonntag.« »Das ist doch jetzt egal.« »Außerdem habe ich keine Termine zu vergeben. Die nächsten Vorgespräche sind im Mai. Therapieplätze gibt es frühestens im Sommer. Bis dahin bin ich ausgebucht.« »Oh.« Für einen Augenblick bricht die Selbstsicherheit der jungen Frau zusammen. Nuria kann förmlich hören, wie es in ihr arbeitet. »Aber ich kann Sie natürlich auf die Warteliste setzen. Ich speichere Ihre Nummer, und ich rufe Sie dann an. Versprochen.« »Wollen Sie gar nicht wissen, was mir zugestoßen ist?« »Darüber reden wir dann.« »So geht das nicht«, erwidert Selina Seidel. »Und warum nicht?« »Weil ich dann tot bin. Und Sie sind schuld.« Nuria lacht. Sie weiß, dass das gemein ist. Aber sie lacht laut und herzlich. »Kennen Sie das Gebiet um die Parkseen? Ich möchte dort im Wald joggen, am Bärenschlössle vorbei den Bärensee entlang und mit einem Abstecher zum Rotwildgehege die Runde zurück übern Pfaffensee. Das ist ein ziemliches Stück. Ich starte am Parkplatz am Neuen See. Wenn Sie wollen, treffen wir uns da. Ich werde Sie nicht daran hindern, sich mir anzuschließen.« »Joggen ist für mich kein...


Heim, Uta-Maria
Uta-Maria Heim, geboren 1963 in Schramberg, lebt als Hörspieldramaturgin und Autorin in Baden-Baden und Stuttgart. Sie studierte in Stuttgart Literaturwissenschaft, Linguistik und Soziologie und arbeitete für die Stuttgarter Zeitung und den Süddeutschen Rundfunk. 1993 bis 2002 lebte sie in Hamburg und Berlin. Neben vielen Features, Essays und Hörspielen veröffentlichte sie zahlreiche Bücher, vor allem Krimis. Zuletzt erschien 2022 der Roman »Albleuchten. Eine Herbstreise 1790«. Sie erhielt zweimal den Deutschen Krimi-Preis, den Förderpreis Literatur des Kunstpreises Berlin, ein Stipendium der Villa Massimo in Olevano Romano sowie den Friedrich-Glauser-Preis. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.