Eine Herbstreise 1790
E-Book, Deutsch, 413 Seiten
ISBN: 978-3-8392-7408-8
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der heimatverbundene Köhler möchte Land und Leute studieren. Seine Kommilitonen vom Tübinger Stift, Hölderlin und Hegel, sowie der junge Schelling begleiten ihn durch die kargen Dörfer und die herbstliche Landschaft - sie verbindet das Streben nach Höherem. Und das eigensinnige Mädchen Karoline von Günderrode, das eine große Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben in sich trägt, vermittelt virtuos zwischen diesen Welten.
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Dußlingen
Wir erreichen unten im Tal Dußlingen. Den Einwohnern sagt man nach, dass sie die ungeschliffensten und unflätigsten Leute in der ganzen Gegend seien. Rechte Dussel eben. Damit sind die beiden Hutsimpel schon wieder am Schimpfen und Schelten, obwohl sich kein Mensch auf der Gasse zeigt. Über uns schwebt ein breitflügeliger Bussard, verhöhnt und verfolgt von einem Krabb3, der ihn stupft und scheucht. Dabei stößt er schrille, krächzende Laute aus. Fritz zeigt mit dem Finger hinauf. »Ein absoluter Quälgeist.« »Der absolute Geist!«, schreit der Alte begeistert. »Kunst. Religion. Philosophie.« »Und alles Getrennte«, spottet der Fritz, »findet sich wieder.«4 »Das ist«, sage ich, »Dialektik. These, Antithese, Synthese.« »Das Fritzle.« Fritz bleibt stehen, grimassiert und fuchtelt wegwerfend. »Komm, gang mer weg. Was versteht Er von der Kunst der Unterredung?« Der Alte langt nach seinem Sacktuch und tupft sich die Stirn. »Es geht um die Lehre von den Gegensätzen in den Dingen beziehungsweise den Begriffen«, entgegne ich, »sowie um die Auffindung und Aufhebung dieser Gegensätze.« Ich weiß selber nicht, wo ich das jetzt herbringe. Wir drei stehen wie die Grasdackel mitten auf der Straße. Wie angewurzelt. Der Alte bückt sich nach dem Sacktuch, das ihm runtergefallen ist. »Interessant«, proletet er laut. »Man hebt etwas auf, indem man es aufhebt, und damit hebt man es auf.« »Das«, bestätige ich, »habe ich damit sagen wollen.« Als wir Dußlingen passieren, haben wir bereits zwei Stunden Wegs hinter uns. Fritz und der Alte laufen blicklos durch das Dorf. Die Hauptstraße säumen Wirtshäuser, sie sind wie die übrigen Häuser und Scheuern des Tals mit Stroh bedeckt. Die meisten Hauswände werden nicht wie in der Stadt hochgemauert, sondern das Balkenwerk wird mit einer Mischung aus Holzsplittern, Mörtel und Kalk verbunden. Die Kirche steht auf einer Anhöhe, die teilweise bewaldet ist. Nach dem Gestank auf dem Bläsiberg genießen wir die klare Luft hier. Oben biegen wir von der Chaussee ab und wandern über die Wiesen Richtung Nehren. Sie werden nur zweimal im Jahr abgemäht, danach weiden Kühe darauf. Die sind kleinwüchsig und nicht allzu robust, weil sie zu früh trächtig werden. Nehren hat keinen Kälberhirten, der auf die Stiere aufpasst, und die Kalbinnen geben schon Milch, ehe sie zwei Jahre alt sind. Den Bauersleuten ist das recht; sie wollen nicht einsehen, dass es für die Viehzucht schädlich ist. Inmitten der fruchtbaren Herbstlandschaft hinkt uns ein Bettler entgegen, der arg gebrechlich wirkt. Sein Körper ist missgestaltet, er humpelt am Stock und kann sich nur mühsam taumelnd und stolpernd fortbewegen. Mich dauert er, denn es gibt keine Einrichtung, die ihn aufnehmen könnte, er bekommt keinerlei Unterstützung, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Hand aufzuhalten. Im Gegensatz zu den Tagdieben, die an den Landstraßen herumlungern und die Reisenden belästigen, anstatt einer Arbeit nachzugehen, ist er vom Schicksal gebeutelt. Wir geben alle ein paar Kreuzer, ohne zu zögern auch der »alte Mann«. Ich lobe ihn dafür. »Überhaupt hat es mit der Aufklärung gute Wege, und es darf niemand bange sein, dass die Welt bald vollkommen sein werde.«5 »Das Fritzle wieder«, spottet der Fritz. »Sei Er unter die Weltverbesserer gegangen? Frön Er gar dem deutschen Idealismus? Genial.« »Das ist der neueste Schrei«, pflichtet der Alte ihm bei. »Man wird dem noch nachgehen müssen. Nicht dass ich mich übertrieben für diesen Kant interessiere, aber wir werden ihn vom Kopf auf die Füße stellen. Mit einem Systemprogramm, das sich gewaschen hat. Kant ist halbgar. Er wird notorisch überschätzt. Man kann bei seiner ›Kritik der praktischen Vernunft‹ nicht stehen bleiben. Doch es ist ein langer Marsch. Um Württemberg ist es weit schlechter bestellt, als manche Schmeichler behaupten. Ein paar Kreuzer aus Mildtätigkeit werden daran nichts ändern. Alles andere ist simple Einfalt, selbst wenn es sich zu höchsten Höhen aufschwingt.« Fritz nickt und wendet sich nun auch mahnend an mich: »Bleib auf dem Boden, Fritzle. Dir fehlt das Zeug zur deutschen Dichtkunst und Philosophie. Nicht alle schrägen Vögel sind zu Höherem berufen. Du lässt dich halt leicht auf der Leimrute fangen. Aus dir wird ein gescheiter Gimpel werden, dazu taugt immerhin dein allzu zahmer Verstand.« »Das bodenständige Pfaffenhandwerk will auch gelernt sein«, ergänzt der überzwerche Alte. Der Fritz lacht sich schlapp, und der Alte fällt ein. Er senkt den Kopf, wohl weil er die Theologie weit unter sich vermutet. Dann fängt er an, besinnungslos zu schreien. Er zeigt auf den Boden. Zwischen seinen Füßen sitzt ein handtellergroßes, rotbraunes, ungewöhnlich abstoßendes Tier. Es hat einen riesigen Kopf mit Chitinpanzer und Facettenaugen, vorne und hinten kurze und lange Fühler, vier Flügel und sechs Beine. Die vorderen gleichen Grabschaufeln. »Zu Hilf!«, krächzt der Alte. Das Gesicht bleibt ihm stehen. Taumelnd tritt er einen Schritt zurück. Jetzt bin ich es, der sich krumm und bucklig lacht, obwohl ich weiß, dass ich mit meinem Lachkrampf alles zerstöre. Bevor ich die Besinnung verliere, erhebt sich das teuflische Tier in die Lüfte und fliegt brummend davon. »Das ist eine Werre, du Simpel«, rufe ich und fuchtle wild hinter dem schweren Insekt her. »Eine Werre, eine Maulwurfsgrille, Gryllotalpa. Ein harmloser Feldschädling vom Stamm der Heuschrecken.« »Ah so.« Der »alte Mann« schnauft. »Das ist ein Werren, ein Sich-selber-Werren, im Moment vom Erkennen, vom denkenden Erkennen. Es kommt also darauf an, das schwindende Sein als Selbst zu begreifen, als Entfaltung des Subjekts.« Wie immer, wenn es ihm zu bunt wird, tut der Alte beleidigt. Er nuschelt. Ihn plagt die Angst drunterzukommen, als Dummkopf enttarnt und deshalb erst recht ausgelacht zu werden. Seltwegen flieht er in die entlegensten Winkel seines Verstands, und sein Schwäbisch, das doch eigentlich aus der Stadt stammen sollte, wird alleweil krautiger. Ich halte die Gosch, damit mir nichts Falsches herausrutscht. Mir entweicht glücklicherweise auch kein glucksender Lacher. Das darf nicht passieren, wenn es ums Philosophieren geht. In diesen Dingen versteht der Alte keinen Spaß. Fritz greift nach seinem Schmierheft und dem neumodischen Bleistift und macht sich Notizen. Seine Zungenspitze fährt über den rechten Mundwinkel. Das ist so eine Marotte, die er sich angewöhnt hat. Nach einer Weile lässt er es wieder bleiben. Er kriegt seine Untugenden meistens in den Griff. Ich will mich mit dem harschen Urteil meiner Kommilitonen nicht abspeisen lassen. Meine geistigen Rivalen sollen endlich begreifen, dass ich mit ihren Höhenflügen durchaus mithalten kann, wenn auch auf etwas erdigerem Gebiet als dem der Poesie. Anstatt zu feixen, kehre ich zur Vergänglichkeit des Lebens zurück, womit ich mich beim Galgen schon beschäftigt habe. Ich doziere über den Wandel der Bestattungskultur, worüber ich in meiner Lieblingszeitschrift gelesen habe. »Die pompösen Leichenbegräbnisse werden abgeschafft, und man führt die Verblichenen auch auf dem Lande still wie das Vieh auf die Gottesäcker hinaus. In der Stadt, wo kräftig gestorben wird, mag das ja seinen Sinn haben, wenn die Leichenzüge die Straßen nicht verstopfen. Doch das Wegfallen der Leichenpredigten fördert die Irreligiosität und Untugend der vom Luxus verdorbenen und allzu sparsamen Hinterbliebenen. Das Schwinden aufwendiger Rituale verhindert Umkehr und Besserung der Menschen, die sich am Geist der Erhabenheit stärken und laben müssen. Demut und Erbarmen bleiben dabei auf der Strecke. Das Pragmatische des Fortschritts spricht dennoch dafür, es fürderhin so unfeierlich zu halten. Doch sollte man dann nicht auch auf das kostspielige Gepränge der Hochzeiten verzichten? Und auf den Firlefanz bei den Taufen, die ganze Kugelfuhr der christlichen Feste? So käme es gar zu einer Reinigung.« Der Alte kennt die Zeitschrift wohl auch. »Du hast den Artikel im ›Journal von und für Deutschland‹ trefflich referiert und nebenher eigene Gedanken eingefügt«, erklärt er. »Aber mir fehlt bei dir eine Linie. Du schwingst nach allen Seiten aus wie ein Pendel.« »Einerseits wird gefrömmelt und die rechte Moral verkündet, andererseits die produktive Ökonomie angebetet, mit einem praktischen Fanatisieren, das an materialistischen Okkultismus gemahnt«, pflichtet der Fritz ihm bei. Ja so. Die zwei sind sich einig wie selten. Der gemeinsame Gegner bringt den Händel zwischen ihnen zum Erliegen. Das Fritzle ist der Sündenbock – und lässt sich das brav gefallen. Was soll’s, immerhin verlaufen die ersten Stunden der Reise damit ungewohnt harmonisch. Fritz und der Alte zanken sich sonst viel. Zwar verbindet sie das Band ewiger Freundschaft, doch sind beide überempfindliche Hitzköpfe, die sich noch im ärgsten Streit gegenseitig darin bestärken, die Wahrheit gepachtet zu haben. So auch in diesem Fall und in rarer Eintracht. Der Vorwurf an mich lautet, dass ich nicht gefestigt sei. Und dass man nicht wisse, woran man bei mir ist. Da mag ich mich nicht weiter hineinvertiefen. Es ist manchmal gescheiter, über eine Herabsetzung oder eine Kritiksucht hinwegzugehen. »Wenigstens gibt es in Württemberg noch genug aufzuklären.« Zur Ablenkung erzähle ich, dass in Mössingen, nur eine Stunde von Nehren entfernt, im Sommer noch ein...