E-Book, Deutsch, Band 66, 707 Seiten
Reihe: Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ)
Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese
E-Book, Deutsch, Band 66, 707 Seiten
Reihe: Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ)
ISBN: 978-3-7720-0149-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Jan Heilmann ist Lehrstuhlinhaber der Professur 'Neues Testament und griechisch-römische Kultur' an der LMU München. 2020 hat er sich an der Evang.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum mit der vorliegenden Arbeit habilitiert. Diese wurde mit dem Hanns-Lilje-Preis 2020 der Göttinger Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet.
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1.1 Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand
Eine Forschungsgeschichte zum Lesen im frühen Christentum zu schreiben, ist nicht möglich, da wir mit der paradoxen Situation konfrontiert sind, dass es keine umfassenden Spezialuntersuchungen zum hier zu erschließenden Forschungsfeld gibt und ein relativ geringes Interesse am Leseakt als solchem festzustellen ist, wie oben bereits ausgeführt wurde. Allerdings ist das Thema mit zahlreichen etablierten Forschungsfeldern und -diskursen verwoben und berührt unzählige exegetische Einzelfragen. Zu den etablierten Forschungsfeldern und -diskursen gehören z.B.: liturgiegeschichtliche Fragen nach der Genese des christlichen Gottesdienstes; die alte Frage über den literarischen Charakter der neutestamentlichen Texte, der z.B. einflussreich von Overbeck und Deissmann vehement in Frage gestellt wurde, bzw. die Frage nach der literaturgeschichtlichen Einordnung und den intendierten Adressaten neutestamentlicher Texte; die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie der Lesefähigkeit in Antike und frühem Christentum; die Frage nach der Angemessenheit von methodischen Zugängen zum NT aus den Literaturwissenschaften, insbs. die Rezeptionsästhetik (reader response criticism). Die Situation wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass einige dieser Forschungsdiskurse in einem besonderen Maße interdisziplinär mit anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen vernetzt sind. Diese Diskurse und ihr Bezug zum Thema „Lesen“ können hier im Einzelnen nicht dargestellt werden. Im Folgenden werden wichtige Forschungsbeiträge zum Thema entlang von drei Kontextualisierungsparadigmen diskutiert, in denen unterschiedliche Zugänge gewählt werden, um Lesen im frühen Christentum zu beschreiben. Weil diese Kontextualisierungsparadigmen von der in den Altertumswissenschaften umfangreich diskutierten Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen abhängig sind, ist darauffolgend diese Debatte ausführlicher darzustellen, bevor dann systematisch die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung darzulegen sind. Abschließend wird die Fragestellung und der Forschungsansatz der vorliegenden Studie entfaltet und die Beschreibungssprache eingeführt. 1.1.1 Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“
Das Thema „Lesen im frühen Christentum“ ist forschungsgeschichtlich eng verbunden mit der liturgiegeschichtlichen Frage nach Entstehung und Entwicklung des christlichen Gottesdienstes und insbesondere mit der Frage nach einem „Wortgottesdienst“, der als Gegenüber zum „eucharistischen Gottesdienst“ konstruiert wird. Es ist hier weder zielführend noch möglich, diese umfangreiche Forschungsgeschichte ausführlich darzustellen. Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie ist jedoch relevant, dass der Gebrauch von Termini wie „gottesdienstliche Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. (G. Theißen spricht diesbezüglich sogar vom „kultischen Gebrauch“) in vielen Publikationen durch eine deutliche definitorische Unschärfe gekennzeichnet ist. Was Schriftlesung bedeutet und in welche sozialen und kulturgeschichtlichen Kontexte sie einzubetten ist, wird im Grunde als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt. Vielfach bekommt man den Eindruck, spätere liturgische Lesepraxis werde in die Zeit des frühen Christentums zurückprojiziert. Dies zeigt sich z.B. schon an der fragestellungsleitenden Unterscheidung zwischen einem Wortgottesdienst auf der einen Seite und einem „eucharistischen“ Gottesdienst auf der anderen Seite, die angesichts neuerer Forschungen zum Mahl im frühen Christentum und zur Entstehung des Gottesdienstes im frühen Christentum hochproblematisch geworden ist. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht z.B. schon in der Verwendung des deutschen Gottesdienst-Begriffs, der für viele quellensprachliche Lexeme „zu unspezifisch und zu weit ist“ bzw. deren Bedeutungsfülle nicht abdeckt und daher als metasprachlicher Terminus klar definiert werden müsste. Außerdem zeichnen sich viele Arbeiten durch ein genealogisches Ableitungsmodell der frühchristlichen Lesepraxis aus dem „jüdischen Synagogengottesdienst“ aus. Dies wird unter 7.4 weiter zu thematisieren sein. Wenn im Rahmen dieser Studie Begriffe wie „Gottesdienst“, „Liturgie“, „Ritual“ (resp. die zugehörigen Adjektive) dennoch verwendet werden, dann beziehen sie sich auf die unspezifischen und weitgehend definitorisch unterbestimmten Kontextualisierungsmodelle, die sich in der Forschungsliteratur finden. Die definitorische Unschärfe der Begriffe „gottesdienstliche Lektüre“, „liturgische Lesung“, „Wortgottesdienst“ etc. ist forschungsgeschichtlich besonders deswegen relevant, da das vorausgesetzte Konzept eines frühen christlichen „Gottesdienstes“ und der darin implizierten Lesepraxis vielfach als Kontext für die Erstrezeption neutestamentlicher Schriften vorausgesetzt wird. Dieses Kontextualisierungsmodell wird z.B. für die Erstrezeption der Paulusbriefe und der Apc verwendet und ist insbesondere für die Markusforschung von Relevanz. In Bezug auf Markus findet es sich schon Ende des 18. Jh. bei J. G. Herder. Der Rezeptionskontext des MkEv wird maßgeblich aus dem sprachlichen Stil abgeleitet, wie exemplarisch bei M. Hengel deutlich wird, der aus dem sprachlichen Stil sogar Rückschlüsse auf den Produktionskontext zieht: „Wahrscheinlich ist das Evangelium aus dem lebendigen mündlichen Vortrag herausgewachsen und für die lectio sollemnis im Gottesdienst abgefaßt worden. Die kurzen, oft rhythmisch geformten Kola weisen auf die mündliche Rezitation in der Gemeindeversammlung hin. Das Evangelium ist für das Ohr des Hörers geschrieben, und darum alles andere als ein künstliches literarisches Schreibtischprodukt, das aus obskuren schriftlichen Quellen, aus zahlreichen Zetteln und Flugblättern zusammengestückelt wurde.“ Insbesondere die Verwendung der Kategorie lectio sollemnis zeigt hier deutlich, dass das spätere Konzept einer festlichen liturgischen Verlesung biblischer Texte im Gottesdienst anachronistisch in den Befund hineinprojiziert wird. Es handelt sich eindeutig um einen späteren liturgiegeschichtlichen Terminus. Aus den frühen Quellen lässt sich dessen Gebrauch weder in quellensprachlicher noch in metasprachlicher Hinsicht rechtfertigen. So ist das Kontextualisierungsmodell „Gottesdienst“/„liturgische Lesung“ für die Frühzeit insgesamt mehrfach zu Recht kritisiert worden. Anschaulich formuliert C. Buchanan: „To inspect the liturgical evidence of the first and second centuries is like flying from Cairo to the Cape in order to get a picture of Africa, only to find that there is thick cloud cover all the way, with but half a dozen gaps in it.“ Andererseits spielt die Kategorie „Verlesung im Gottesdienst“ eine entscheidende Rolle bei vielen Rekonstruktionen der Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Am wirkmächtigsten war in dieser Hinsicht wohl die monumentale Arbeit T. Zahns, der zwar nicht als erster, aber doch prominent – und in Frontstellung gegen die dogmengeschichtlichen Zugänge Baurs und Semlers – die Interdependenz zwischen der Verlesung im Gottesdienst auf der einen Seite und der Sammlung von Schriften sowie der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite postuliert. Im neutestamentlichen Kanon sieht er also von Beginn an eine Sammlung „kirchlicher Vorlesebücher“. Diese These ist zwar schon früh kritisiert worden – insbesondere die Spannung...