Eine handlungsorientierte Einführung
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-17-039888-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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3 Deskriptive Ethik
3.1 Moral
Moral als Praxis der zwischenmenschlichen Handlungskoordination nimmt eine Mittelstellung zwischen Normen und Kultur ein. Hierbei umfasst die Moral die Summe der Normen in einem Lebensbereich einer Praxis. Neben diesem normorientierten Regelwerk beinhaltet das Moralsystem des Weiteren einen gemeinsam geteilten Werte- und Sinnhorizont (Ethos). Die Normen sowie der Sinn- und Wertehorizont regulieren das Zusammenleben in der jeweiligen moralischen Praxis. Hierbei tritt die Moral beobachtungstechnisch durch gleichförmige Lebensvollzüge ihrer Mitglieder innerhalb der Gruppe in Erscheinung. Moral wird zu einer speziellen Antwort, wie eine Handlungsanforderung zu erledigen ist (vgl. Knoepffler 2010, 19?ff.; Pieper 2007, 30?ff.). Beispielsweise kann beobachtet werden, dass Menschen auf einer belebten Einkaufsstraße in Deutschland »Rechtsverkehr« praktizieren oder beim Einkaufen sich am Ende einer Schlange einreihen. Zugleich ist aber auch feststellbar, dass einige Menschen dies nicht beachten und gegen den Strom in der Einkaufsstraße gehen oder versuchen, beim Einkaufen an der Schlange vorbeizukommen bzw. sich vorzudrängeln. Die Moral als Summe der Verhaltenserwartungen, die eine gleichförmige Handlungskoordination innerhalb einer Gruppe und zwischen Gruppen ermöglicht, ist einerseits auf eine »Praxis« zu beziehen und andererseits soziologisch aufzuklären – wieso es so ist, wie es geschieht. Moral ist im Leben, hat dort seinen Platz, ist statisch und dynamisch zugleich (kann sich wandeln), wird nicht theoretisch konstruiert, sondern bildet sich in der jeweiligen Praxis aus dem Handlungsgeschehen heraus. In der Abgrenzung von Moral steht Kultur, ein Begriff, der auch vielfältig definiert und vielschichtig erläutert werden kann. Der Kultursoziologe Gunnar Otte (2019, 79?f.) trifft in dem Zusammenhang fünf grundlegende Aussagen: · Die Kultur wird der Natur gegenübergestellt und erfasst alles menschlich Geschaffene als Kulturleistung. · Die Kultur erfasst nicht die realen Lebensvollzüge der Menschen, sondern wird durch die Summe der gleichförmig ausgeführten Moralen einer definierten Praxis konstituiert. · Die Kultur erfasst daher über die vielen Moralen ein allgemein abstrakt Gelebtes und ist nicht an Bedingungen gebunden. · Die Bedeutungszuschreibung des Kulturellen (Cultural Turn), also warum die Menschen was, wie und womit gleichförmig machen, bildet die Basis einer Kulturgemeinschaft. · Kultur hat Sinn, verweist auf einen Wertehorizont und repräsentiert einen Orientierungsrahmen. Exemplarisch kann hier der wechselseitige Zusammenhang zwischen Normen, Moral und Kultur (? Abb. 4) am Beispiel des Umgangs mit der deutschen Schriftsprache dargestellt werden. In der Praxis des Moralsystems der allgemeinbildenden Schulen finden die Normen des Dudens und der Kultusministerien ihre Anwendung. In der moralischen Praxis von privaten E-Mails werden Halbsätze und Icons verwendet. Wiederum andere Regeln existieren in der Schriftsprache bei der Erstellung fachwissenschaftlicher Texte. Die gelebte Kultur im Schriftverkehr der Gesamtpraxis Deutschlands ist die deutsche Sprache in unterschiedlicher Verwendung der anerkannten Schriftsprache in den Einzelpraxen (hier: Schule, Privatsphäre und Wissenschaft). Die deutsche Sprache als schriftlicher Mitteilungscharakter ist das kulturell Einende. Abb. 4:Deskriptiver Interdependenzzusammenhang zwischen Kultur, Moral und Normen Ein Moralsystem – als die Summe von geschriebenen und ungeschriebenen Normen und Werten in einer Praxis, die das Zusammenleben der Menschen in dieser Praxis koordiniert – nimmt den Begriff der Praxis als zentralen Begriff auf. Die griechische Wurzel des Wortes verweist dabei auf eine Vielzahl von Bedeutungen: Tat, Handlung, Beschäftigung, Ereignis oder Ausführung. Im Zusammenhang mit dem moralischen Handeln sind zwei Bedeutungen von Praxis relevant: · Praxis im engeren Sinne umfasst nach Aristoteles das »mitmenschliche Handeln«, d.?h., wie sich die Einzelne gegenüber der Gemeinschaft und seinen Mitmenschen verhält: empathisch oder ignorant, wertschätzend oder missachtend oder konventionell bzw. unkonventionell? Im mitmenschlichen Handeln kommt die Selbstzweckhaftigkeit zwischen Menschen als würdehafte oder einzigartig zu beachtende Person?(en) zum Ausdruck. Der aristotelische Praxisbegriff wird mit zwei weiteren Handlungsarten des Menschen erwähnt: der Theorie und der Poiesis. Heute würde man sagen, dass unter Theorie die Anwendung oder Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Poiesis das gute, herstellende Handeln zu verstehen ist: Welt und Menschen verstehen als Theorie, Technik verstehen und anwenden als Poiesis und Praxis als ein Handeln, welches das Miteinander unter Menschen meint. Hierbei strebt nach Aristoteles jede Handlung nach einem Gut: Die theoretische Handlung nach Erkenntnis (theoretischer Vernunft) und eine poietische Handlung ist gut, wenn das Hergestellte seinen Zweck optimal erfüllt (in einem Haus lässt es sich z.?B. gut wohnen) und das praktische Tun auf das summum bonum (höchste Gut) der Glückseligkeit (eudaimonia) gerichtet ist (praktische Vernunft). Es geht um das menschliche Streben nach einem erfüllten Leben. Um dies zu erreichen, ist der Einzelne gefordert, klug und tugendhaft sein Leben zu gestalten (vgl. Aristoteles 1972, 1038?–?1042, S. 20?–?31; Wildfeuer 2011, 1774?–?1804). Mit dem Begriff der Praxis wird also ein kommunikatives Handeln angesprochen, das im Miteinander werteschätzend ist und zugleich eine humanere Gemeinschaft anstrebt. Im Kern geht es um eine Verantwortungswahrnehmung zur Handlungsgestaltung des Miteinanders, des politischen Lebens und der Bestimmung eines erfüllten und sinnvollen Lebens. · Praxis im weiteren Sinne umfasst einen gänzlich anderen Inhaltsbereich. Hier sind Orte gemeint, in denen gleichartige und immer wiederkehrende, typische Handlungen vollzogen werden (z.?B. die Praxis der frühkindlichen Erziehung). Aus einer Vogelperspektive heraus betrachtet steht jede Praxis mit anderen Praxen in Verbindung. Beispielsweise hängt die erziehende Familienpraxis (Vater und Mutter) mit der Erziehungspraxis in der Kita zusammen; und die Kita ihrerseits mit der Wissenschaftspraxis und dem gesellschaftlichen Mainstream. Dabei entsteht innerhalb einer jeden Praxis ein eigenes Moralsystem als verbindliches Miteinander. Insofern sind die »Spielregeln des Miteinanders« in den Kitas kulturell vergleichbar und doch eigen. Das organisationale Handeln ist dabei in zwei Bereiche einzuteilen: zum einen in das Interaktionshandeln zwischen Klientin/Patient/Edukand und den Helfenden als direktes Miteinander-Handeln in der Dienstleistungserbringung; zum anderen im indirekten Arbeitsbereich, also im organisationalen Rahmen, in dem die direkte Dienstleistungserbringung stattfindet. Dieser Raum zeichnet sich dadurch aus, dass Strukturen (z.?B. Dienstpläne) und Prozessabläufe (z.?B. Konzepte) sowie Stellenpläne entwickelt werden und eine Materialwirtschaft herrscht, die zusammen das Interaktionshandeln ermöglichen. Nach Derbolav (1975) besteht jede Einzelpraxis aus drei Bereichen (? Abb. 5): · der Naturwüchsigkeit als gewordene Praxis, als ein Ort mit wiederkehrenden, standardisierten und moralisch geregelten Handlungsweisen; · einer mit diesem Handeln einhergehenden Theorie, die erklärt, warum in der naturwüchsigen Praxis so gehandelt wird, wie gehandelt wird; · und einer regulativen Idee, die der jeweiligen Praxis eine qualifizierende Ausrichtung, Orientierung gewährt. Abb. 5:Elemente einer Einzelpraxis (nach Derbolav 1975, 159) Diese Praxeologie oder Praxistheorie im weiterem Sinne ist seit den 1970er Jahren ein Bestandteil der Geistes-?, Sozial- und Kulturwissenschaften. »Praxistheorie wird dabei als ein Feld verstanden, dessen Konturen sich umreißen lassen, dessen Grenzen jedoch fließend sind« (Schäfer 2016, 9). Grundsätzlich bleibt hierbei eine Dualität offen, die zwischen der systemrelevanten Handlungslogik (»alle machen das«) und der akteurstheoretischen Variante (»ich bin ich, und ich mach das so«) differenziert. Diese dichotome Differenz von »Agency und Struktur« bleibt offen und verweist auf die Affinität zwischen Moral und Moralität. Josef Derbolav hat im Anhang seines Buches »Pädagogik und Politik« bedeutsame Überlegungen zu einer »Praxeologie« aus geisteswissenschaftlicher Perspektive angestellt (1975, 91?–?129). Derbolav geht von zwei unterschiedlichen Bereichen aus: (1) Er beschreibt, was eine einzelne Praxis beinhaltet und (2) wie die einzelnen Praxen im...