Einsamkeit verstehen und überwinden
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-86334-880-9
Verlag: adeo Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In ihrem Buch geht Stephanie Hecke der Frage nach, warum sich in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen einsam fühlen. Einfühlsam geht sie der Verbindung von Einsamkeit und Armut auf den Grund und zeigt auf, warum Einsamkeit nicht mit Alleinsein verwechselt werden darf und welchen Einfluss die weit verbreitete Einsamkeit auf unsere Demokratie hat.
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Was ist Einsamkeit?
Wie die Luft zum Atmen, so braucht jeder Mensch Beziehungen zum Leben. Wir Menschen sind soziale Wesen. Nicht nur, weil gemeinsam alles schöner ist als allein. Sondern ursprünglich auch deshalb, weil wir seit den frühesten Tagen auf dieser Erde auf Gemeinschaft angewiesen sind, um zu überleben. Allein hätten unsere Vorfahren den Gefahren der Natur kaum standgehalten. Aber es geht dabei nicht nur um Schutz und Versorgung, sondern um etwas Grundlegenderes: unser Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit. Beziehungen geben uns Halt und helfen uns, uns selbst zu verstehen. Wir definieren uns nicht nur durch unsere eigenen Gedanken und Gefühle, sondern auch durch die Rückmeldung, die wir von anderen Menschen bekommen. In der Begegnung mit anderen wachsen wir, lernen, wer wir sind, was uns wichtig ist, und finden einen Platz in der Welt. Beziehungen sind unser Spiegel – in ihnen erkennen wir uns selbst. Auch heute noch, nach Jahrtausenden der Entwicklung auf unserer Welt, sind wir Menschen in all unserer Unterschiedlichkeit soziale Wesen geblieben. Wir leben davon, in Beziehung zu anderen Menschen zu sein. Ob das familiäre, freundschaftliche oder berufliche Beziehungen sind, ist zweitrangig. Wer in Beziehungen eingewoben ist, erlebt nicht nur Gemeinschaft, sondern vor allem ein Grundgefühl von Verbundenheit, Zugehörigkeit und Geborgenheit. Dieses Grundvertrauen entsteht in allerersten Ansätzen bereits im Mutterleib und begleitet uns unser Leben lang. Nähe, Bindung, Gemeinschaft und Verbundenheit zu spüren ist ein universelles Grundbedürfnis der Menschheit. Doch was passiert, wenn diese Beziehungen fehlen? Wenn wir keine Bindung spüren, keine Verbundenheit erleben? Nicht nur das Bedürfnis nach Verbundenheit ist typisch menschlich, sondern auch die Angst vor dem Verlust der Gemeinschaft. Für unsere Vorfahren bedeutete das in der Tat eine existenzielle Bedrohung. Seit Jahrhunderten steckt uns die Angst in den Knochen, verlassen zu werden. Es ist die Urangst vor der Einsamkeit. Einsamkeit ist ein Alarmsignal unserer Seele. Sie erinnert uns daran, dass wir ohne die Nähe und Wärme anderer Menschen nicht leben können. Wer keine Verbundenheit zu anderen Menschen erlebt, wer sich keiner Beziehung oder Gruppe zugehörig fühlt, wird einsam. Doch anders als in den frühen Zeiten der Menschheit wirkt sie heute eher subtil, schleicht sich langsam in unser Leben, ohne dass wir sie sofort bemerken. Einsamkeit ist eine zutiefst persönliche Erfahrung
Einsamkeit zieht sich durch alle gesellschaftlichen Milieus, durch alle Lebensphasen und durch alle Generationen, durch alle Kulturkreise und durch alle Nationen. Millionen Menschen fühlen sich allein in Deutschland einsam. Doch wie wir Menschen die Einsamkeit erleben, ist höchst unterschiedlich. Die stille Gefährtin hat unendlich viele Facetten. Im Endeffekt erlebt sie jeder Mensch auf seine oder ihre persönliche Art und Weise im Kontext der individuellen Lebensgeschichte. Sie kann uns in jedem Alter treffen, egal ob Kleinkind oder hochbetagt, sie lässt sich bei Singles und in Familien nieder und kehrt bei Reichen wie Armen ein. Manchmal fühlt sich die Einsamkeit an wie ein Wirbelsturm, der alles durcheinanderbringt. Und manchmal lähmt uns dieses schmerzende Gefühl, sodass wir erstarren und der Körper zu gefrieren scheint. Manchmal legt sie einen Schleier der Traurigkeit über uns, der das Herz verdunkelt. Dann überkommen uns Gedanken, dass wir uns unser Leben so anders gewünscht haben, und wir fühlen all das Abgebrochene, all die Träume, die zu Ruinen geworden sind. An anderen Tagen macht sie uns schal und stumm, weil wir keine Worte finden und die größere und lautere Stimme der Lebensfreude und der Hoffnung in uns verstummt ist. Bei aller Unterschiedlichkeit, in der wir die Einsamkeit individuell erleben, bleibt eine Gemeinsamkeit: Einsam zu sein ist ein negatives Gefühl. Einsamkeit wackelt und rüttelt an den Grundfesten unserer Existenz, das macht Angst. Niemand ist freiwillig oder gar gern einsam. Viele Menschen beschäftigen sich in ihrem Alltag mit allen möglichen Dingen, um sich ja nicht mit sich selbst befassen zu müssen, um nicht dem Gefühl der Leere in ihnen Raum zu geben. Es kann Angst machen, sich ehrlich anzuschauen, was einem auf der Seele liegt. Denn dabei werden Sehnsüchte und Bedürfnisse wach. Es ist viel leichter, diese Gefühle zuzudecken und sich den Herausforderungen des Alltags hinzugeben. Vor allem, wenn man niemanden hat, dem man sich mit all diesen Gedanken und Gefühlen anvertrauen kann. Dann kann die Einsamkeit wie eine Spirale werden, in die wir hineinfallen und uns immer weiter in sie hineindrehen, bis wir nicht mehr wissen, wo wir aufhören und wo die Einsamkeit beginnt oder ob wir nicht schon eins geworden sind. Durch die Einsamkeitsforschung können wir heute exakter formulieren, was Einsamkeit ist. Die bekannteste Einsamkeitsdefinition geht davon aus, dass wir immer dann einsam sind, wenn wir einen negativen Unterschied zwischen den von uns gewünschten Beziehungen und unseren tatsächlich vorhandenen Beziehungen wahrnehmen.[1] Damit ist zuerst gesagt, dass Einsamkeit nichts ist, was man objektiv messen oder vergleichen könnte, denn jeder Mensch nimmt einen Mangel an Beziehungen im eigenen Leben individuell und somit unterschiedlich wahr. Einsamkeit ist eine zutiefst persönliche, subjektive Erfahrung. Weiterhin besagt diese Definition, dass sich der Unterschied zwischen den gewünschten und den tatsächlichen Beziehungen sowohl auf die Anzahl der Kontakte (Quantität) als auch auf die Qualität dieser Kontakte beziehen kann.[2] Das bedeutet, dass Einsamkeit entstehen kann, wenn wir für unser Bedürfnis zu wenig soziale Kontakte haben, und dass Einsamkeit auch dann entstehen kann, wenn wir zwar Kontakte in unserem alltäglichen Umfeld haben, diese Beziehungen jedoch nicht so vertraut und intensiv sind, wie wir es uns wünschen. So entsteht Einsamkeit auch dann, wenn Menschen sich nicht verstanden fühlen, egal ob von der Familie, von der Partnerin oder dem Partner, in einer Freundschaft oder von den Arbeitskollegen. Vielleicht kennst du das: Du bist in Gesellschaft, aber das Gefühl der Verbundenheit fehlt. Du redest mit Menschen, aber die Gespräche bleiben an der Oberfläche. Niemand versteht dich wirklich – oder weiß, wie es dir in deinem Inneren geht. Der Wunsch, verstanden zu werden, dazuzugehören und ein Teil einer Gemeinschaft zu sein, bleibt unerfüllt. Einsamkeit und Alleinsein – ein Unterschied
Damit wird klar: Einsamkeit ist nicht dasselbe wie Alleinsein. Einsamkeit darf auch nicht mit sozialer Isolation gleichgesetzt werden. Aus dem Alleinsein kann Einsamkeit resultieren, muss es jedoch nicht. Und auch andersherum ist es nicht gegeben, dass ein Mensch mit vielen sozialen Kontakten vor Einsamkeit geschützt wäre. Einsamkeit fühlt sich anders an, als allein zu sein. Sie entsteht, wenn die Verbindung zu anderen fehlt, obwohl wir sie uns wünschen. So kann jemand, der viel allein ist, glücklich sein, während jemand, der von vielen Menschen umgeben ist, einsam sein kann. Die bittere Konsequenz der Einsamkeit ist, dass man sozial wie emotional auf sich allein gestellt ist. In der Einsamkeit sind wir mit unseren Gedanken und Gefühlen ausschließlich auf uns selbst geworfen. Im schlimmsten Fall führt das in existenzielle innere Not, in der wir auch in uns kein gutes und liebevolles Gegenüber mehr haben. Ein bedrohliches Gefühl, das in letzter Konsequenz sogar das Leben gefährden kann. Die Folgen der Einsamkeit
Wenn wir einsam sind, spüren wir, dass etwas in unserem Leben fehlt – und das kann tiefgreifende Folgen haben. Denn Einsamkeit greift nicht nur unser emotionales Wohlbefinden an, sondern kann auch körperlich krank machen. Zahlreiche Studien zeigen, dass chronische Einsamkeit ähnlich schädlich für die Gesundheit sein kann wie Rauchen oder starkes Übergewicht. Sie schwächt das Immunsystem, erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und kann im schlimmsten Fall sogar unser Leben verkürzen. Für viele Menschen ist die Einsamkeit auch mit Scham verbunden. Wer sich eingesteht, einsam zu sein, hinterfragt sich oder zweifelt gar an sich. Viele einsame Menschen fragen sich, warum sie keine tiefen Verbindungen aufbauen können. Vielleicht kennst du diese Gedanken: „Was stimmt nicht mit mir? Es muss einen Grund dafür geben, dass ich keine engen Beziehungen in meinem Leben habe.“ Scham ist ein starkes Gefühl, das sich gegen uns selbst richtet. Diese Selbstzweifel können die Einsamkeit noch verstärken. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr man sich einsam fühlt, desto schwerer fällt es, auf andere zuzugehen. Einsamkeit in unserer Gesellschaft
Wer ist in unserer Gesellschaft besonders von Einsamkeit betroffen oder bedroht? Im Jahr 2024 erschien das aktuelle Einsamkeitsbarometer des Bundesgesellschaftsministeriums. In dieser Untersuchung wurde anhand von repräsentativen Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) die Langzeitentwicklung der Einsamkeitsbelastung vom Jahr 1992 bis in das Jahr 2021 untersucht.[3] In dieser Untersuchung wurden Personengruppen identifiziert, die für Einsamkeitsbelastungen besonders gefährdet sind. Das sind laut dem Einsamkeitsbarometer vor allem alte Menschen. Die Zahlen belegen, dass Menschen über 75 Jahren am stärksten von Einsamkeit betroffen sind.[4] Doch auch junge Menschen gehören zu den besonders gefährdeten Personengruppen. Im ersten Jahr der Coronapandemie ist der Einsamkeitswert junger Menschen[5] mit...