E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Reihe: zur Einführung
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-083-1
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Nachdem 1989 die Berliner Mauer gefallen war und damit der endgültige Zusammenbruch der meisten kommunistischen Regime begonnen hatte, wurde im Westen alsbald das ›Ende der Geschichte‹ ausgerufen. Dieses Schlagwort hatte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit seinem Buch The End of History and the Last Man (1992) in Umlauf gebracht. In ihm hatte Fukuyama einen finalen Sieg des Westens diagnostiziert. Im Prozess der Geschichte habe sich die Verbindung von liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft als allen anderen Systemen überlegen erwiesen. Kein System sei denkbar, das dem liberal-demokratischen Kapitalismus seinen Rang als beste aller möglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens noch streitig machen könne. Auch die Existenz letzter Widerstandsnester lasse keinen Zweifel daran zu, dass sein Sieg eine ausgemachte Sache sei. Noch im Jahr 2008 hat der neoliberale französische Publizist Guy Sorman die Diagnose Fukuyamas wiederholt.1 In Korea ebenso wie in Deutschland sei der Wettstreit der Systeme gleichsam unter Laborbedingungen ausgetragen worden. Man habe diese Länder jeweils in zwei Hälften geteilt und im Norden bzw. im Osten auf den Kommunismus, im Süden bzw. im Westen hingegen auf den Kapitalismus gesetzt. Nach vierzig Jahren habe man schließlich die Ergebnisse vergleichen können, welche an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig gelassen hätten. Dagegen hat Slavoj Žižek mit Blick auf die Ereignisse vom 11. September 2001 und ihre Folgen einerseits, auf die Finanzkrise von 2008 andererseits eine doppelte Niederlage der scheinbar ehernen und siegreichen Verbindung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie ausgemacht, eine Niederlage, die sich, getreu dem Diktum von Karl Marx, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce ereignet habe: »Der 11. September […] markiert das Ende der fröhlichen Neunziger, der Clinton-Jahre, er kündigt eine Ära an, in der überall neue Mauern auftauchen – zwischen Israel und dem Westjordanland, um die Europäische Union herum, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Es hat jedoch den Eindruck, als müsse Fukuyamas Vision zweimal sterben: Der Zusammenbruch der liberal-demokratischen politischen Utopie am 11. September stellte die ökonomische des globalen Marktkapitalismus nicht infrage. Doch wenn die Finanzkrise von 2008 einen historischen Sinn hat, dann jenen, daß sie nun auch das Ende der ökonomischen Aspekte von Fukuyamas Entwurf einläutet.«2 Und doch scheint sich der liberal-demokratische Kapitalismus durch die Folgen des 11. September und durch die Finanzkrise auch gegenwärtig nicht diskreditiert zu sehen, zumindest nicht in prinzipieller Hinsicht. Nach wie vor wird er, so Žižek an anderer Stelle, »als die endlich gefundene Formel der bestmöglichen Gesellschaft akzeptiert, und man kann anscheinend nichts weiter tun, als ihn gerechter, toleranter usw. zu gestalten«3. Krisen werden gerade nicht als Infragestellungen interpretiert, sondern als Anlässe zur Systemoptimierung. Politik sieht sich reduziert auf das ›Drehen an Stellschrauben‹ oder auf die schlichte Exekution von Sachzwängen. Und das westliche politische Denken, das sich der »endlich gefundenen Formel« verpflichtet weiß, bewegt sich innerhalb des festen Kategorienapparats, den der Diskurs des liberal-demokratischen Kapitalismus ihm vorgibt. So wurde auf der einen Seite der ›arabische Frühling‹, die ›Arabellion‹, im Westen sogleich als Heraufziehen einer liberalen Demokratie auch in Nordafrika und dem Nahen Osten verbucht. Auf der anderen Seite wird beispielsweise ein Phänomen wie der Klimawandel keinesfalls als das beurteilt, was es jedenfalls nach dem britischen Ökonomen Nicholas Stern auch ist: der größte Fall von Marktversagen, den die Welt je gesehen hat. In einem bestimmten Sinne kann ein Denken, das die Diagnose eines ›Endes der Geschichte‹ unterschreibt, post-politisch genannt werden. Wird die Verbindung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie für alternativlos ausgegeben und damit die Frage nach der angemessensten Form der Einrichtung von Gesellschaft für endgültig beantwortet erklärt, dann kann sich Politik nur mehr als Verwaltung der menschlichen Bedürfnisse im Rahmen der ein für alle Mal glücklich gefundenen Ordnung verstehen. Allerdings zeigt schon der Blick etwa auf das China unserer Tage, dass die (Selbst-)Einschätzung der westlichen Gesellschaftsordnung als alternativlos trügerisch ist. Man muss schließlich kein Fürsprecher des chinesischen Systems sein, um zu sehen, dass dessen (ökonomisch überaus erfolgreiches) Konzept einer ›sozialistischen Marktwirtschaft‹ die westliche Verbindung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Ökonomie wenn auch vielleicht nicht als zufällig, so doch als kontingent erscheinen lässt. Ein Denken aber, das solcher Kontingenz nicht in allein empirisch-historischer, sondern in prinzipieller Absicht Rechnung trüge, wäre politisch in einem nicht mehr nur ›post-politischen‹ Sinne: Es verschriebe sich nicht bloß einer Verwaltung und Reproduktion der nun einmal gegebenen Ordnung der gesellschaftlichen Dinge, sondern es beträfe »gerade den Rahmen […], der festlegt, wie die Dinge funktionieren«4. Wenn heute die politischen Alternativen einerseits ausgestrichen scheinen, andererseits die politischen Realitäten eine Entkopplung von Kapitalismus und Demokratie nahelegen, dann lässt sich das als Anlass begreifen, auf einen Moment zurückzugehen, in dem im westlichen Europa gesamtgesellschaftlich an einer Alternative gearbeitet wurde: auf den Mai 68. Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen, bietet sich ein solcher Rückgriff auf 1968 in vielerlei Hinsicht an. So hat Jean-Luc Nancy in einem neueren Text einen Bogen von 1968 zu gegenwärtigen Diskussionen über die Demokratie geschlagen und in beidem gleichermaßen eine Enttäuschung über die Demokratie als Impuls ausgemacht (vgl. WD 15ff.).5 Alain Badiou wiederum, der die Notwendigkeit der Neuerfindung der kommunistischen Hypothese auch in der Treue zum Mai 68 begründet sieht, hat in einem Text auf die Entwicklungen neuer Organisations- und Artikulationsformen hingewiesen, die den Mai 1968 begleiten und sich aus der Ablösung von der Gewissheit geschichtlicher Gesetze entwickelt haben (vgl. KH 47). Diese beiden Momente – der Zweifel an der liberal-kapitalistischen Demokratie und der Verlust der Sicherheit historischmaterialistischer Geschichtsgesetze – bilden eine Matrix, die auch die gegenwärtige Suche nach einem adäquaten Begriff der Politik bestimmt. Die Philosophie, die die Politik in ihrem Begriff zu denken versucht, sieht sich durch diese historische Konstellation vor die große Herausforderung gestellt, diesen Begriff neu auszurichten. Wie ist die Politik zu denken, wenn sie weder in dem, was die westlichen Demokratien unter Politik verstehen, noch in den realsozialistischen Vorstellungen – und was von ihnen übrig blieb – aufgeht? Dass damit eine Frage benannt ist, die die Philosophie wesentlich betrifft und nicht nur einen ihrer Gegenstände, wurde beispielhaft auf einem Colloquium zu Ehren Jacques Derridas im Jahr 1980 deutlich. Organisiert von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, galt dieses Colloquium genauer Derridas Text Fines hominis, den dieser zuerst 1968 vorgetragen hatte. Christopher Fynsk stellt in einem Beitrag zwei Zitate von Derrida nebeneinander, die ein zentrales Ausgangsproblem markieren: Das erste Zitat vom Anfang des Textes Fines hominis stellt »die seit jeher vorhandene Verbindung zwischen dem Wesen des Philosophischen und dem des Politischen« heraus.6 Das zweite Zitat stammt aus einem Interview mit Derrida, in welchem dieser betont: »›Die philosophische Aktivität erfordert keine politische Praxis, sie ist, in jeder Hinsicht, eine politische Praxis. Wenn man erst einmal für deren Anerkennung gekämpft hat, beginnen andere Kämpfe, philosophische und politische.‹«7 Wie Fynsk unterstreicht, scheinen diese Zitate zunächst evident zu machen, dass jede philosophische Aktivität im Kontext politischer Rahmungen zu verstehen ist. Mit dieser Evidenz zeigt sich jedoch zugleich die Problematik, dass die Bestimmung dessen, was eigentlich politisch sei, abhanden gekommen ist. Ähnlich verhält es sich, fährt Fynsk fort, mit der Philosophie: Der Verlust einer allgemeinen Beschreibung dessen, was Philosophie sei, scheint auf ein Ende der Philosophie im allgemeinen Sinn hinzudeuten. Dieses Ende fordert aber nun das Denken einer – wie man sagen könnte – Philosophie nach der Philosophie heraus: Und aus dieser Möglichkeit des Denkens, so Fynsk, muss die Frage nach der Verbindung von Philosophie und Politik neu bearbeitet werden. An Stellen wie diesen entstehen Fragen, die kurze Zeit später die entscheidenden Einsätze für die Zusammenarbeit von Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe bilden. Auf Einladung Derridas übernehmen Lacoue-Labarthe und Nancy im November 1980 die Leitung des neu gegründeten...