Buch, Deutsch, Band 50, 494 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 213 mm, Gewicht: 620 g
Reihe: Campus Historische Studien
Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert
Buch, Deutsch, Band 50, 494 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 213 mm, Gewicht: 620 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-38876-2
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Europäische Länder
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Regional- & Stadtgeschichte
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Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Die Wolga als Idil': Der Erinnerungsort der Türkvölker an der mittleren und unteren Wolga
3. Die Wolga als Jordan: Der orthodoxe Erinnerungsort
3.1. Einleitung
3.2. Die poetische Legende: Das Tolgskij-Kloster bei Jaroslavl'
3.3. Zur Bedeutung des Tolgskij-Klosters und zur Verehrung der Ikone
3.4. Die Wolga und die kulturelle Expansion des orthodoxen Raumes
3.5. Zusammenfassung: Die Wolga als Jordan
4. Die Wolga als imperialer Fluss
4.1. Die Wolga als "Ursprung aller Kommunikation im Russländischen Reich"
4.1.1. Imperiale Geographie und Kanalbauprojekte im frühen 18. Jahrhundert
4.1.2. Russland als ökonomischer Raum und die Kanalisierung der Wolga im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert
4.1.3. Zusammenfassung
4.2. Die imperiale Aneignung des Flusses: Katharinas Fahrt auf der Wolga im Jahre 1767
4.2.1. Zur Vorgeschichte zarischer Flussreisen
4.2.2. Die Wolgafahrt von Katharina II.
4.2.3. Folgen: Traditionsbegründung herrschaftlicher Wolgafahrten
4.3. Die Wolga als Rha. Westeuropäische Landesbeschreibungen, Reise- und Expeditionsberichte vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
4.4. Zusammenfassung: Die Wolga als imperialer Fluss
5. Die Wolga als "Mütterchen Wolga": Die Wolgatreidler vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
5.1. Die "kulturelle Entdeckung" der Wolgatreidler in der Mitte des 19. Jahrhunderts
5.2. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte der Wolgatreidlerei
5.2.1. Aufstieg bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
5.2.2. Höhepunkt und Niedergang bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
5.3. Die Wolga in Treidlerliedern
6. Stepan Razin und die Wolga als Fluss der Freiheit
7. Im Zeitalter der Dampfschifffahrt: Wolgafahrten als Fahrten in die eigene Kultur und Geschichte
7.1. Vorbemerkung
7.2. Das Wolgadampfschiff
7.3. Auf dem Passagierschiff die Wolga abwärts: Der Schauraum des Imperiums
7.3.1. Vier Pionierdarstellungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts
7.3.2. Die Wolga als Rhein: Wie die Wolga russisch wurde
7.3.3. Abseits des Dampfschiffes: Die Sakralisierung der Wolgaquelle
7.3.4. Die Wolga als Nil und die Frage nach der russischen Zivilisation
7.4. Zusammenfassung
8. Zusammenfassung
Verzeichnis der Abkürzungen
Verzeichnis der Abbildungen
Bibliographie
Register
7. Im Zeitalter der Dampfschifffahrt: Wolgafahrten als Fahrten in die eigene Kultur und Geschichte
7.1. Vorbemerkung
Die Bevölkerungsmehrheit Russlands kannte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihr eigenes Land weder aus eigener Anschauung noch durch Lektüre. Dabei war sie trotz der erst 1861 aufgehobenen Leibeigenschaftsordnung in den Jahrhunderten zuvor sehr mobil gewesen. Aber der lebensweltliche Hintergrund geographischer Mobilität war durch sehr spezifische Zwecke und Ziele geformt: die Flucht aus der Leibeigenschaft ("Läuflingswesen") in die weniger vom Staat durchdrungenen peripheren Regionen, ein im nördlichen Teil Russlands durch den geringen Bodenertrag erforderlicher jahreszeitlicher Wechsel zwischen der Arbeit auf dem Feld und gewerblicher Tätigkeit im Dorf oder in der Stadt, auch die Arbeitsmigration von bäuerlichen Sondergruppen wie der Treidler und von handeltreibenden Bauern, die gewaltsame Umsiedlung von Bauern auf gutsbesitzerlich-adligen Willen, der Militärdienst, die Verschickung nach Sibirien oder das Wallfahrtswesen, um nur einige Gründe zu nennen. Die geographische Mobilität wurde auch durch den schlechten Zustand der Verkehrswege, Land- wie Wasserwege, behindert. Kaufleute hatten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder ihre Verbesserung gefordert. Trotzdem waren sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch in einem kümmerlichen Zustand und nur im Sommer und Winter zu gebrauchen. Aber ohne Zweifel setzte im 19. Jahrhundert ein beschleunigter Wandel ein. Neue Technologien wie das Dampfschiff begannen in der Mitte des Jahrhunderts die alten Segel- und Ruderschiffe abzulösen, erste Eisenbahnen begannen durchs Land zu fahren. Die wirtschaftlichen Beziehungen dynamisierten sich mit dem Wegfall der Leibeigenschaftsordnung, die Migration in die Städte beschleunigte sich, und es entstanden neue Möglichkeiten der Beschäftigung in Gewerbe und Industrie. Aus den russischen Kaufleuten waren noch keine Bürger geworden, aber ältere kirchlich-patriarchalische Bindungen brachen auf und Unternehmergeist wurde erkennbar.
Die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit war aber weder lese- noch schreibkundig. Sie hatte auch keine Verwendung für ein abstraktes geographisches Wissen und sah deshalb auch keine Notwendigkeit, es sich anzueignen. "Volksaufklärung" war ein Schlagwort, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der sich als Intelligencija verstehenden intellektuellen oder akademischen Sozialgruppen Verbreitung gefunden und in der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Gründung von einigen "Volksaufklärungsvereinigungen" gemündet hatte. Die Dorfgeistlichkeit fiel aufgrund ihres geringen kulturellen Interesses für solch ein Projekt und eine aktive Rolle in solchen Vereinigungen weitgehend aus. Die Vereinigungen entfalteten in der ländlichen Bevölkerung erst seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine intensivere Tätigkeit, häufig in Verbindung mit den Landschaftsorganen (zemstva). Patriarchalisches Verhalten und ein normatives Verständnis dessen, was die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit wissen sollte, führten häufig zu Konflikten mit den Lesewünschen einer sich alphabetisierenden Bevölkerung, vor allem der in die Städte abwandernden bäuerlichen Bevölkerung, die Helden-, Räuber- und patriotische Kriegsgeschichten in Wort und Bild, in Zeitungen wie Volksbilderbögen, bevorzugte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Adlige das intellektuelle Leben bestimmt, und manche Gutshäuser waren zu kulturellen Zentren auf dem Lande geworden. Die Zahl der Gelehrten oder Wissenschaftler in den großen Städten Russlands war noch gering, aber sie hatten Verständnis für abstraktes geographisches und kulturhistorisches Wissen, das sie in Enzyklopädien und anderen Formen veröffentlichten. Über die Herkunft des Namens Wolga und die frühe Geschichte ihrer Erforschung konnte man sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen Nachschlagewerken gut informieren. Im Enzyklopädischen Lexikon erschien in den 1830er Jahren ein Artikel, der darauf hinwies, dass Herodot und Ptolemäus die Wolga zwar bereits (als Ra oder Rau und Aras, Araks, Araxes) kannten, aber nur eine ungenaue Kenntnis über ihren Verlauf hatten. Er wies auch darauf hin, dass die mittelalterlichen arabischen Geographen die Wolga recht gut kannten und sie bis zur Gegenwart bei ihrem Namen Itil', Etel', Etil' oder Atil' nannten. Der Artikel selbst ging von der finnischen Herkunft des Namens Wolga aus, unter dem der Fluss jetzt "in ganz Europa" bekannt sei und der "heiliger Fluss" bedeute.
Das Aufkommen der Dampfschiffe und der Dampfschifffahrt auf der Wolga verdeutlicht vor allem das Wechselverhältnis zwischen technologischem und kulturellem Wandel. Die Bevölkerung Russlands kannte ihr Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits deutlich besser - auch wenn diese allgemeine Aussage empirisch nur schwierig zu belegen ist -, weil sich die infrastrukturelle Erschließung verbessert hatte und die Alphabetisierung der Bevölkerung fortgeschritten war. Die Wahrnehmung von Orten, Regionen und Ereignissen begann sich zu wandeln; abstrakte Kategorien wie Nation und Staat wurden mit konkreten Orten und historischen Spuren in der materiellen Kultur verknüpft und gewannen in der Bevölkerung an Bedeutung. Der kulturgeographische und -historische Horizont der Bevölkerung ordnete sich räumlich neu. Orte und Regionen eines Landes wurden von einem wachsenden Bevölkerungsanteil auch miteinander oder im internationalen Maßstab verglichen und erhielten vor diesem Hintergrund neue Bedeutungen. Da Geschichte für die Legitimations- und Identifikationsprozesse von Gemeinschaften im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann, vor allem als nationale Gemeinschaften, erhielten Orte und Regionen ihre Bedeutung immer mehr durch ihre Bedeutung für die nationale Geschichte. Die Ewigkeitsillusionen der Nationen weckte im 19. Jahrhundert bei ihren Protagonisten das Interesse, sich lebendige kollektive Erinnerungen und Erinnerungsorte als nationale anzueignen. Das war ein Homogenisierungsprozess, der sowohl integrierte als auch ausschloss.
Die Wolga wird im Folgenden in diesem allgemeinen Kontext als ein Erinnerungsort untersucht, der - so meine Hypothese - eine Umdeutung erhielt und in unterschiedlichem Ausmaß nationalisiert wurde. Erinnerungsorte haben die Funktion, eine kollektive Erinnerung zu stabilisieren. Sie entstehen in Krisensituationen, wobei die Krisen häufig in einem drohenden Verlust an Tradition, an lebendiger kollektiver Erinnerung bestehen. Nach Pierre Nora können Erinnerungsorte diese Funktion nur dann überzeugend übernehmen, wenn eine materielle Dimension des Ortes und eine symbolische Dimension des Gedächtnisses zusammentreffen. Wenn die Wolga als ein Erinnerungsort untersucht wird, der im 19. Jahrhundert einer Nationalisierung unterlag, so ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass er nicht durch ein bestimmtes Ereignis (eine Schlacht) oder eine bestimmte Person (ein Held, ein Denkmal) strukturiert ist und dass er für unterschiedliche Akteure bis zur Mitte des 19. Jahrhundert sehr verschiedene (auch regional verschiedene) Bedeutungen hatte.
Zu einem neuen Erinnerungsort wurde die Wolga im 19. Jahrhundert vor allem, so eine weitere Hypothese dieses Kapitels, durch die Dampfschifffahrt, denn sie transportierte nicht nur in bis dahin ungekannten Mengen Güter, sondern auch Menschen über den Fluss. Sie schuf erstens ein neues Verhältnis zwischen technologischer Modernisierung und kulturellem Wandel, zweitens eine soziale Öffnung und Zugänglichkeit der Wolgafahrt für neue Bevölkerungsgruppen, drittens neue Zwecke für eine Wolgafahrt, die viertens die Verbreitung von kulturellem Wissen erforderlich machten und förderten. Das Kapitel analysiert die Wolgafahrt auf dem Dampfschiff als eine rituelle Handlung, das heißt als eine symbolische, sinnschaffende Handlung, die eine kulturell ordnende Funktion ausübte und ein Mittel zur Gemeinschaftsstiftung und zur Reproduktion der sozialen und kulturellen Ordnung war. Zu einem neuen Erinnerungsort wurde die Wolga aber nicht ausschließlich durch die Wolgafahrer und -fahrten, sondern auch durch die Leser der Wolgaführer. Sie waren gewissermaßen Wolgafahrer "der zweiten Art", unternahmen als Leser und "Wirklichkeitssimulanten" die Fahrt im Kopf mit. Erst durch sie wurde die Wolgafahrt gewissermaßen zu einem Massenereignis.