Haushofer | Schreckliche Treue | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Haushofer Schreckliche Treue

Gesammelte Erzählungen

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0799-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ihre minuziöse Schilderung der Welt im Kleinen, der sehr persönlichen, unauffälligen Schwierigkeit des Zusammenlebens, ihre Darstellung eines sehr kunstvoll-bescheidenen Erzählerbewusstseins und ihr Stil der negativen Ironie gehören zum Genauesten und Bemerkenswertesten, was die moderne Literatur zu bieten hat.'
Tagesspiegel
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DIE KIRSCHEN Einmal bin ich als Kind in eine schreckliche Lage gekommen. Es war, glaube ich, in der zweiten Klasse Gymnasium. Unser Katechet stand vor der Tafel und diktierte irgend etwas, was wir in kleinen Heftchen mitschreiben mußten. Ich weiß nicht mehr, lag es am Vortrag, oder machte mich die Junisonne so müde; jedenfalls war ich nahe daran, einzuschlafen. Das durfte nicht geschehen! Der Katechet diktierte langsam und deutlich, und ich ließ meine Gedanken Spazierengehen: Wie es wohl wäre, wenn man »Evangelium« mit f und k schriebe? Spielerisch versuchte ich es. Komisch sah das Wort jetzt aus! Und erst »Apostel« mit b und ll – wie lächerlich! Langsam geriet ich in Eifer und stellte mir die Aufgabe, in jedem Wort zwei bis drei Fehler zu machen. Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Als wir drei Seiten geschrieben hatten – ich war eben dabei, das unschuldige Wörtchen »ist« zu verschandeln –, nahm mir der Katechet plötzlich das Heftchen aus der Hand, um das Geschriebene zum Vergleich noch einmal vorzulesen. Seither weiß ich, wie dem letzten Menschen eine halbe Stunde vor dem Weltuntergang zumute sein wird. Bei »Efankelium« stutzte der Katechet schon, aber da es immerhin ein Fremdwort war, ließ er es hingehen. Bei »Abostell« lief er aber schon blutrot an, und zwei Zeilen später – bei dem Wort »Ovenparrung« erfolgte die Katastrophe. Mit bebender Stimme las er alle Fehler vor. Und das war das Unvernünftigste, was er tun konnte, denn die Klasse konnte unmöglich ernst bleiben. Das Gelächter wollte kein Ende nehmen. Instinktiv fühlte ich, daß diese Heiterkeit für mich nichts Gutes bedeutete. Der arme Katechet wurde schon ganz blau im Gesicht. Und dann begann er zu schreien. Es war ein schrecklicher Anblick. Mein Herz klopfte wild, und die Knie begannen mir zu zittern. Er schrie so laut, daß die erste und dritte Klasse entsetzt vor unserer Tür standen und horchten. Und er schrie auch noch die ganze Zehnuhrpause hindurch. Mein Kopf war schon ganz verwirrt und schwindlig. Weshalb war er denn nur so wütend? Ich hatte ihn doch gar nicht ärgern wollen! Immerhin war mir damals schon bekannt, daß sich die großen, gescheiten Leute häufig über die unbegreiflichsten Dinge aufregen können. Vielleicht hatte der Herr Katechet einen Herzfehler, oder er war nervös? Sofort bereute ich, ihn so geärgert zu haben. Wenn ihn nur nicht der Schlag trifft! dachte ich. Endlich lief er aus der Klasse und nahm mein Heftchen mit sich. Ich blieb völlig vernichtet zurück. Er würde zur Direktorin gehen und ihr alles erzählen. Sie kam auch wirklich gleich darauf mit ihm in die Klasse, und ihre tiefe Stimme beruhigte mich ein wenig. Aber wie ein zürnender Racheengel stand der Katechet neben ihr und wies mit bebendem Zeigefinger auf mich. Man nahm mich ins Verhör. Weshalb ich es getan hätte …? Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Wußte ich denn überhaupt noch, warum ich es getan hatte? Es war mir halt so eingefallen. Aber das hätte mir ja kein Mensch geglaubt. »Aus reiner Bosheit hat sie es getan«, grollte der Katechet. Die Direktorin sah mich nachdenklich an. »Hast du es aus Dummheit geschrieben oder mit Absicht?« fragte sie streng. Sollte ich hier vor zweiunddreißig Mitschülerinnen sagen, daß ich es aus Dummheit getan hatte? Niemals, lieber sollte die ganze Welt untergehen. »Mit Absicht«, sagte ich rasch. Ich sah das traurige Staunen in den Augen der Nonne und senkte den Blick. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie hinaus, und stolz erhobenen Hauptes folgte der Herr Katechet. Für mich begann eine Leidenszeit. Zunächst kam einmal die Pensionatsvorsteherin über mich und putzte mich so herunter, daß ich nachher beinahe selber glaubte, ich hätte Tag und Nacht nur darüber nachgedacht, wie ich den armen Katecheten ärgern könnte. Alle Schwestern schüttelten bedauernd den Kopf, sobald sie mich nur von weitem auftauchen sahen, und die Kinder gingen mir wie einer Aussätzigen aus dem Weg. Mein Verbrechen mußte wirklich verabscheuungswürdig sein. Jeden Tag brachte man mir eine neue Hiobsbotschaft: Einmal, ich würde eine Vier aus Religion, Deutsch und Betragen bekommen; dann, als ob das noch nicht genügt hätte, fügte man auch noch hinzu, daß der Herr Katechet so gekränkt und beleidigt sei, daß er mich nie mehr zu sehen wünsche. Dieser Wunsch beruhte auf Gegenseitigkeit, aber es war mir ganz klar, daß man lieber auf meine Gegenwart verzichten würde als auf die des Herrn Katecheten. Meine Nächte begannen schlaflos zu werden. Ungefähr nach einer Woche teilte man mir mit, daß die Oberin von meinem Ausschluß abgesehen habe und noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen wolle. Aber man hatte meinen Eltern geschrieben, daß sie kommen und mich exemplarisch bestrafen sollten. Die folgenden Tage waren eine wahre Qual für mich. Zutiefst bedauerte ich meine Eltern, die ein so ungeratenes Kind haben mußten, und am Abend, wenn die anderen Mädchen schon ruhig schliefen, weinte ich vor mich hin und stopfte den Polsterzipfel fest in den Mund, um nicht laut zu schluchzen. Ich malte mir aus, wie alles sein würde. Vielleicht kommt die Mutter, das schien mir noch das Günstigste zu sein. Sie wird mir im Sprechzimmer ein paar Ohrfeigen geben und einen halben Tag mit mir schimpfen, bis ich ganz klein und weich bin. Zum Abschied wird sie mir – zwar mit bösem Gesicht, aber doch – einen Kuß geben. Damit wird die Sache erledigt sein. Wie aber, wenn der Vater selber kommt? Noch nie hatte er mich auch nur mit einem Finger angerührt, mich immer in Schutz genommen und versichert, daß ich »das nie mehr tun würde«. Diese Enttäuschung aber konnte er bestimmt nicht ertragen. Ich wußte, wie zornig Vater werden konnte, wenn seine Hunde nicht parierten. Diesmal würde mich sein gerechter Zorn treffen. Vielleicht würde er mich vor allen Kindern züchtigen, oder er würde mich mit nach Hause nehmen und nicht mehr in die Schule gehen lassen. Meine Phantasie malte mir immer wieder neue beunruhigende Bilder aus. Ich zog mir die Tuchent über den Kopf und wünschte mir den Tod. Am Sonntagvormittag, während der Studierstunde, kam plötzlich die Pfortenschwester und holte mich ins Sprechzimmer. Die Pensionatsvorsteherin sah ich gerade aus dem Zimmer gehen, als ich eintreten wollte. Also hatte sie schon alles erzählt. Mein Herz wurde schwer wie ein Stein. Langsam schlich ich durch die Tür. Vater stand mitten im Zimmer. Seine große vertraute Gestalt versetzte mich heute in Angst. Ob er mich gleich schlagen wird? dachte ich und kam zögernd näher. Nichts geschah. Er umarmte mich wie sonst und befahl mir, mich umzuziehen, weil ich mit ihm ausgehen dürfe. Schnell lief ich hinauf, schlüpfte in mein weißes Matrosenkleid und band mir neue Maschen auf die Zöpfe. Die Mädchen sahen mir boshaft und schadenfroh aus den Fenstern nach, als ich mit Vater über die Straße ging. Wieder packte mich die Angst. Vielleicht sollte ich meine Strafe mitten auf der Straße bekommen? Vater begann mich allerhand auszufragen, über die Schule und meine Freundinnen. Gleich wird er davon anfangen, dachte ich, aber immer wieder ging die Gefahr vorüber. Wir sahen uns ein wenig in der Stadt um, und ich bestaunte die Auslagen der Spielzeuggeschäfte und Bücherläden. Um zwölf Uhr kamen wir dann in ein großes Gasthaus, und Vater bestellte Schnitzel und nachher eine Torte. Noch immer wagte ich nicht, ihm in die Augen zu schauen. Mir schien es manchmal, als ob er ganz sonderbar lächle. Plötzlich durchzuckte es mich: Hier wird er mich strafen, hier vor allen Leuten. Das überlebe ich nicht, dachte ich verzweifelt und drückte an meiner Torte herum. Aber wieder geschah nichts. Ich durfte sogar ein paar Schlucke Wein trinken, und obwohl er mir nicht sonderlich schmeckte, fühlte ich mich doch sehr gehoben. Nach dem Essen wurde Vater ein wenig schläfrig. Wir setzten uns im Park auf eine Bank und ließen uns die Sonne auf den Rücken scheinen. Die Rosen, die um den Springbrunnen gepflanzt waren, begannen gerade aufzublühen, und als ich nicht mehr stillsitzen konnte, lief ich von einer zur anderen, um daran zu riechen. Am süßesten duftete eine große Dunkelrote. Außerdem saß auf ihrem gelben Herzen ein grüner Käfer. Vater war ein wenig eingenickt. Die Bahnfahrt hatte ihn wohl ermüdet. Es bedeutete jedesmal ein großes Opfer für ihn, in die Stadt zu fahren. Ja, er verabscheute alles, was damit zusammenhing. Wieder überfiel mich die Reue. Meinetwegen mußte er das alles auf sich nehmen und hätte doch daheim so friedlich unter dem Birnbaum sitzen können. Eine ungeratene Tochter war ich auf jeden Fall. Später gingen wir ins Kino. Es war mein erster Film, und ich wurde nicht recht klug daraus. Ein unglücklich aussehender Mann saß auf einem Sessel und kaute an seinem Schnurrbart. Dazu tanzten ein paar erschreckend magere junge Damen fortwährend um ihn herum, und zwischendurch trat ein junger Mann mit besonders blühenden Wangen auf und wurde von jedermann geohrfeigt. Hoffentlich erinnert er sich jetzt nicht an den Zweck seines Kommens, dachte ich und warf einen schiefen Blick auf Vater. Aber der lachte so herzlich und heiter, daß er gewiß keine finsteren Absichten hegen konnte. Ich muß sagen, ich fand an der ganzen Sache nichts zu lachen. Der junge Mann mit der dicken Backe tat mir leid. Wer weiß, ob er so gesund war, wie er aussah? Vielleicht war er nur so verschwollen. Es war jedenfalls ein Film für Leute mit einem ganz reinen Gewissen. Ich atmete erleichtert auf, als er zu Ende war. Es war gleich fünf Uhr, und wir mußten zur Bahn. Ich durfte Vater...


Haushofer, Marlen
Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. 1946 veröffentlichte sie ihren ersten Text. Sie zählt heute mit Ingeborg Bachmann zu den Vorläuferinnen der modernen Frauenliteratur. Marlen Haushofer wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Sie starb 1970 in Wien.


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