E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ostseekrimi
ISBN: 978-3-356-02081-6
Verlag: Hinstorff
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kommissar Festerling und Polizeianwärterin Emma Baader nehmen die Spur auf und es beginnt eine verzweifelte Suche nach dem Kind. Sie blicken dabei zwangsläufig in menschliche Abgründe. Plötzlich findet man Leichenteile am Strand, die jedoch zu einem jungen Mann gehören ... Regina Hartmann versteht es blendend, in einem protokollartigen Schreibstil die belastende Ermittlungsarbeit der Kripo zu schildern und hat mit Graal-Müritz die perfekte Kulisse für einen OstseeKrimi gefunden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Freitag, 29. Juli – Vermisst: Mareike Brandt
Immer wieder zog das rote Rettungsboot vor dem Strand von Graal-Müritz seine Runden, besetzt mit den drei jungen Männern, die für die Sicherheit der Badegäste sorgten. Viele Urlauber standen auf der Seebrücke und sahen dem Treiben zu. An diesem Freitag waren sie besonders zahlreich, denn am Abend begann das alljährliche Seebrückenfest – mit Musik, Tanz, Feuerwerk und an der Strandpromenade aufgereihten Buden, die Leckeres vom Fischer, aber auch allerlei Badeutensilien und Kleidung anboten. Plötzlich ertönte das Signalhorn der Feuerwehr, gefolgt von einem Polizeiwagen: Sie stoppten kurz vor dem Strandaufgang 14. Fast zeitgleich erregte ein Brummen am Himmel die Aufmerksamkeit der Urlauber, und nun richteten sich alle Blicke auf den Hubschrauber, der immer tiefer kreiste; direkt am Strand entlangfliegend entfernte er sich, um nach kurzer Zeit wiederzukehren. Mit ohrenbetäubendem Propellerlärm verharrte er einige Male über einer Stelle der Uferzone und bot einen surrealistischen Anblick mit seinem blauen schlanken Flugkörper und den überdimensionierten Rotorblättern, bis er schließlich abdrehte und über den in der Sonne glitzernden Wellen aus dem Blickfeld verschwand. Gegen 16 Uhr an diesem heißen Julitag stoppte die Musik, die aus Richtung der Strandmuschel kam. Ein Mann in Polizeiuniform trat an das Mikrofon und bat alle Anwesenden um Mithilfe: Gesucht wurde die zehnjährige Mareike Brandt, die mittags um zwölf Uhr bei ihren Großeltern hätte sein sollen, aber nicht gekommen war. Zur Person hieß es: blonder Pferdeschwanz, etwa 1,50 Meter groß und bekleidet mit einem blauen Rock und weißem T-Shirt. Die Durchsage endete mit der üblichen Aufforderung: Wer Hinweise zum Verbleib des Mädchens machen könne, der solle sich an die Polizei wenden. Die Polizei hielt in Graal-Müritz vor dem Haus der Dr.-Leber-Straße 16. Aus dem Wagen stiegen zwei Männer, Hauptkommissar Ralf Wenke, vierschrötig und Anfang vierzig, sowie sein junger Kollege Gert Jensen, der erst vor etwa einem Jahr seinen Dienst angetreten hatte. In der Tür wurden sie von der Oma des Mädchens, Gertrud Vesper, erwartet. Das Kind hatten sie bisher noch nicht gefunden und so standen die Polizisten vor der Aufgabe, die völlig aufgelöste Frau zu befragen. Sie mochte sechzig Jahre alt sein und machte keinesfalls einen hinfälligen Eindruck, sondern wirkte eher lebendig und resolut. Das musste sie wohl auch sein, denn ihr Mann litt an Demenz, sodass sie gewissermaßen für sie beide zu denken und zu handeln hatte. Hauptkommissar Wenke übernahm das schwierige Gespräch, das – immer wieder unterbrochen von Tränen und Händeringen – schließlich zu den folgenden Angaben führte: Mareike war in den Ferien bei den Großeltern, wie so oft in den vergangenen Jahren, denn ihre Mutter arbeitete als Köchin auf einer der Schwedenfähren der TT-Line und konnte in der Hochsaison keinen Urlaub nehmen. Sie war alleinerziehend – über den Vater wurde in der Familie nicht gesprochen. Frau Vesper hatte ihre Tochter, Wiebke, noch nicht informiert; zum einen war die Fähre gerade auf ihrem Weg nach Trelleborg, zum anderen, aber sicher vor allem, weil sie hoffte, das Verschwinden ihrer Enkelin würde sich als harmlos erweisen. Die Großmutter betonte immer wieder: »Mareike ist doch so ein zuverlässiges und selbstständiges Mädchen.« Hilfesuchend wandte sie sich an die Polizisten: »Was sollen wir denn jetzt tun? Sie kann doch nicht einfach so verschwinden?« Gert Jensen bemühte sich etwas unbeholfen, die fassungslose, in Tränen ausbrechende Frau zu trösten. Währenddessen ging Ralf Wenke die Fakten noch einmal durch, die sich aus den Angaben Gertrud Vespers ergeben hatten: Das Kind wollte zu dem direkt neben der Kurklinik gelegenen kleinen Spielplatz laufen, auf dem ein hölzernes Klettergerüst und andere Spielgeräte stehen. Das war nichts Außergewöhnliches, sie kam gern dorthin, denn sie fand stets Spielgefährten. Die wechselten zwar oft von einem zum anderen Tag, weil es Urlauberkinder waren, sodass Mareike keine festen Freunde hatte. Der Weg führte über eine viel befahrene, doch in einer Dreißigerzone liegende Straße, von der ein Waldweg abging. Er verlief durch den Küstenwald, der zum größten zusammenhängenden Forst Norddeutschlands gehörte und nach etwa fünf Kilometern zum Strand führte, das heißt, direkt auf den Strandaufgang 14 zulief. Das Mädchen hatte das Haus der Großeltern nach dem Frühstück, etwa gegen 9 Uhr, verlassen und musste um 12 Uhr wiederkommen, denn es gab an jedem Tag pünktlich Mittagessen. Namen von Spielgefährten kannte die Großmutter nicht; am Abend vorher hatte die Kleine wohl von einem »Tom« gesprochen, der so schöne Papierboote falten konnte, aber sicher war sie sich nicht – der Name hätte auch »Ron« oder so ähnlich sein können. Die beiden Polizisten versuchten, Gertrud Vesper zu beruhigen. Schließlich kannte Wenke durch seine langjährige Berufserfahrung die Statistiken. Danach fand sich die überwiegende Mehrheit der vermissten Kinder von allein wieder an. Die meisten hatten nur, völlig im Spiel versunken, die Zeit vergessen oder waren orientierungslos am Strand unterwegs. Letzteres passierte manchmal auch Erwachsenen, schließlich sahen Wasser und Sand überall ähnlich aus. Die alte Frau sah zu Boden und blickte den Hauptkommissar dann gerade an – und er las in ihren Augen ein klares »Nein« für diese Möglichkeiten. Tatsächlich schätzte er die Lage in diesem Falle aber anders ein: Wenn ein vermisstes Kind nicht noch am gleichen Tag, vor allem vor Einbruch der Nacht, gefunden wurde, sah es ernst aus. Das galt bei der Polizei an der Küste als unumstrittener Erfahrungswert; zu nahe liegend war die Annahme, dass das Wasser, das auf Kinder eine große Faszination ausübt, zum Verhängnis geworden war. Der Hauptkommissar hatte daher zwei Staffeln der Bereitschaftspolizei angefordert – eine Hundestaffel, die schon am gleichen Abend bereitstand, und den Hubschrauber, der mit einer Wärmebildkamera die Bodensuche unterstützen sollte. Nachdem die zwei Ermittler sich verabschiedet hatten, fuhren sie auf dem Lindenweg zurück zur Kurklinik und parkten das Auto dort auf dem Gelände neben den Mannschaftswagen der Kollegen. Ungeachtet der einbrechenden Dunkelheit sollten der auf der anderen Straßenseite beginnende Waldweg sowie seine unmittelbare Umgebung abgelaufen werden, um auszuschließen, dass das Mädchen dort umherirrte. Die Beamten bildeten eine Kette und knipsten ihre starken Taschenlampen an, denn der Waldstreifen lag groß und dunkel vor ihnen. Das Geräusch des Hubschraubers war mal lauter, dann wieder leiser über ihnen zu hören. Wenke und Jensen liefen auf dem Weg mit. Die nächtliche Suche war kräfteraubend, aber jeder der Anwesenden hoffte, das kleine Mädchen zu finden. Bei einer mit Kiefern bestandenen etwas lichteren Stelle zog Jensen seinen Block hervor und zeichnete die Strecke, die sie bisher zurückgelegt hatten; dabei ging es ihm um Auffälligkeiten im Gelände, markante Bäume, Findlinge und Ähnliches am Wegesrand, das auf der offiziellen Karte des örtlichen Tourismusbüros natürlich nicht eingetragen war. Nach etwa einem Kilometer passierten sie einen schmalen Brettersteg, der einen Graben überbrückte. Soweit im Licht der Taschenlampe zu erkennen war, führte dieser nur wenig Wasser, sondern war stark verkrautet und an einigen Stellen so zugewachsen, dass er selbst bei Helligkeit kaum noch auszumachen war. Jensen blickte den Hauptkommissar fragend an: »Ein Bach? Gibt es im Küstenbereich Quellen?« Der junge Mann kam aus Thüringen, das erklärte die Assoziation. Wie sollte er auch wissen, dass das Gebiet in breiter Ausdehnung einst moorig gewesen und der Graben im Zuge von Entwässerungsarbeiten angelegt worden war. Sein völlig vernachlässigter Zustand war darin begründet, dass die Gegend seit etwa zwanzig Jahren zu einem Landschaftsschutzgebiet gehörte. Das hieß auch, dass der Wald forstwirtschaftlich nicht mehr genutzt wurde. Die sich selbst überlassene Natur hatte sich ihr Terrain sehr schnell zurückerobert. Vom letzten Sturm umgestürzte Bäume wurden von kräftigem Unterholz überwuchert – ein naturbelassener Wald, für Touristen anziehend, doch für die Suchaktion natürlich hinderlich. Es war inzwischen so dunkel, dass nur die Taschenlampen den Weg erkennen ließen. Neben den beiden Kriminalisten führten die Lichtpunkte der links und rechts laufenden Polizisten einen Tanz auf, der einer eigenwilligen Choreographie zu gehorchen schien. Da ertönte ein Signalpfiff, der Einsatzleiter rief zum Sammeln, und schnell standen die zwanzig Frauen und Männer auf dem Weg: Die Suche wurde abgebrochen und sollte erst bei Tageslicht fortgesetzt...