E-Book, Deutsch, Band 5,5, 130 Seiten
Reihe: Elder Races
ISBN: 978-3-8025-9495-3
Verlag: LYX
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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1
Herd
Sobald Xanthe in Adriyel angekommen war, brachte sie ihr Pferd in die Stallungen des Palastes und sandte dem Sicherheitschef Ihrer Majestät die Nachricht: »Es ist vollbracht.« Xanthe unterschrieb die Nachricht nicht. Er würde wissen, von wem sie kam. Auch rechnete sie nicht mit einer schnellen Antwort. Mit der Erledigung ihres Auftrags gab es keine Eile und keinen dringenden Handlungsbedarf mehr. Da sie längere Zeit in Amerika verbracht hatte, machte sie am Marktplatz halt, um Lebensmittel einzukaufen: frisches Brot, Fleisch, Eier, Gemüse und Obst. Die Vertrautheit dieser Tätigkeit beruhigte ihre Nerven, die von der langen Zeit in der Fremde, umgeben von stetiger Gefahr, müde und angespannt waren. Jetzt, mitten am Nachmittag, waren die besten Waren schon weggekauft, doch die Auswahl war noch groß genug, um ihren unmittelbaren Bedarf zu decken. An den Marktständen gab es Fleisch und Fisch, Gemüse, Obst und Getreide von den umliegenden Farmen, eine Vielzahl gekochter Gerichte, prächtige, aufwendig genähte Kleidung in leuchtenden Farben, Töpferwaren, Gewürze, Seife und Metallarbeiten sowie seit Neustem auch die schrillen Waren aus Amerika. Händler priesen ihre Waren an, und der Duft von warmem Essen zog durch die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen. Als sich das kleine Lebewesen in ihrer Reisetasche bewegte, hielt Xanthe inne. Ein so kleines Wesen hatte womöglich zu großen Hunger, um zu warten, bis sie das Abendessen gekocht hatte. Nach kurzem Überlegen ging sie noch einmal zum Bäckerstand zurück und kaufte eine Fleischpastete. Zuletzt erstand sie noch einen irdenen Krug frischer Milch und ein kleines Fässchen Frischkäse. Wenn sie Milch und Käse verbraucht hatte, würde sie dem Milchmann Krug und Fässchen zurückbringen. Das Zappeln in ihrer Reisetasche wurde drängender. »Hab Geduld«, sagte sie. Dann verließ sie die Stadt zu Fuß auf einer schmalen Straße, die einige Kilometer lang dem Flusslauf folgte, bis sie zu dem überwucherten Pfad kam, der zu einer kleinen Steinhütte führte. Zwei Zimmer, die ihr ganzes Leben lang ihr Zuhause gewesen waren. Ohne auf das immer kräftigere Zappeln in ihrer Reisetasche zu achten, begutachtete sie beim Näherkommen das Haus. Es wirkte ein wenig vernachlässigt, was nur normal war, schließlich war sie mehr als vier Jahreszeiten lang fort gewesen. Aber immerhin schien das Dach dicht zu sein, was sie zu der Hoffnung verleitete, dass es drinnen trocken war. Sie öffnete die Tür und sah sich im dunklen, staubigen Innenraum um. Im ersten Moment kam ihr alles zu bäuerlich, klein und fremd vor. Dann fiel die Fremdheit der letzten paar Monde – Monate, wie man in Amerika sagte – von ihrem Blick ab, und die Hütte war ihr wieder so vertraut wie ihre Westentasche. Sie war zu Hause. Sie erinnerte sich an etwas, das sie einmal in der seltsamen Zeltstadt Devil’s Gate im amerikanischen Staat Nevada gehört hatte. Ein sonnenverbrannter Mensch hatte mit zynischer Miene gesagt: »Du weißt ja, wie man sagt – es führt kein Weg zurück.« Xanthe war noch nie zuvor in Amerika gewesen und kannte die Redewendung nicht. Sie wusste nicht genau, was der Mensch gemeint hatte. Sie legte ihre Einkäufe auf den staubigen Tisch, setzte die Reisetasche ab und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Dann nahm sie den Schultergurt mit ihrem Schwert ab und streckte die müden Schultern. Sie war den ganzen Tag gereist, und es gab noch so viel zu tun, bevor sie sich heute Abend ausruhen konnte. Sie ließ die Tür offen stehen, um die frische, kühlende Abendluft hereinzulassen. Jetzt verkündete das kleine Lebewesen in ihrer Reisetasche mit schrillen Lauten seine Unzufriedenheit. Es klang wie ein schreiendes Baby. Sie öffnete die Tasche und zog ein dürres, strampelndes Kätzchen mit orange getigertem Fell heraus, das ihr aus den Händen auf den Tisch sprang und unter erbärmlichem Miauen die eingepackte Fleischpastete umkreiste. »Ja, ich weiß«, sagte Xanthe zu dem Tier. »Aber einen oder zwei Augenblicke wirst du noch warten müssen.« Unterwegs von der Übergangspassage nach Adriyel war es ihr zur Gewohnheit geworden, mit der kleinen Katze zu reden. An den Abenden der kurzen dreitägigen Reise hatte sich eine Art Ritual eingespielt – die Katze schlief schnurrend auf ihrem Schoß oder am Lagerfeuer ein, während Xanthe die zauberhaft handgemalten Tarot-Karten betrachtete, die sie von einem Vampyr und zwei Medusen bekommen hatte. Das war auf dem Weg nach Chicago gewesen, wo sich die Übergangspassage nach Adriyel befand. Die Leute in Amerika hatten ein merkwürdiges Wort für Orte wie Adriyel. Sie nannten sie Anderländer, aber für Xanthe war Amerika das Anderland. Meistens schien das Kätzchen den Klang ihrer Stimme zu mögen, aber im Augenblick war es offenbar nicht an einer Unterhaltung interessiert. Es schlug mit der Tatze nach der Pastete und miaute wieder, wobei es scharfe, weiße Zähnchen und eine winzige rosa Zunge zeigte. Xanthe inspizierte ihren Geschirrschrank. Wie auch alle anderen Möbel in der Hütte hatte ihr Vater den Schrank aus getrocknetem Holz selbst gebaut. Da sich keine kleinen Tierchen darin eingenistet hatten, wischte sie ein Schälchen mit dem Ärmel ihrer Tunika aus, goss etwas Milch hinein und stellte es auf den Boden. Nachdem das Kätzchen schnurrend vom Tisch gesprungen war und anfing, die sahnige Flüssigkeit aufzuschlecken, wickelte sie die Fleischpastete aus und brach sie in der Mitte auf. Sie war noch heiß, und aus der Bruchstelle stieg duftender Dampf. Xanthe kratzte Fleisch und Soße auf einen Teller, blies darauf, bis es sich ein wenig abgekühlt hatte, und stellte es dann neben das Milchschälchen auf den Boden. Während das Kätzchen sein Abendessen hinunterschlang, machte sich Xanthe an die Arbeit. Sie wischte Staub und beförderte Spinnen und einige Mäusenester nach draußen. Da sie jetzt die Katze als Mauser hatte, würden sie nicht wiederkommen. Dann holte sie einige Scheite halb verwittertes Holz von dem kleinen Stapel, der noch unter dem Vordach lag, zündete ein Feuer an, deckte den Brunnen auf und holte Wasser, schnitt das rohe Fleisch und das Gemüse klein, gab alles in einen Topf und hängte ihn zum Kochen übers Feuer. Sie wusch Tisch und Stühle ab, schleppte die Matratze aus dem spartanischen Schlafzimmer und klopfte sie aus, bis keine Staubwolken mehr aufstiegen, schleppte sie wieder ins Haus und packte die Laken und Decken aus, die sie mit duftenden Zedernspänen in einer Kommode aufbewahrt hatte. Aus ihrer anfänglichen Müdigkeit wurde bald Erschöpfung. Sie hätte in der Stadt übernachten können, um die vernachlässigte Hütte erst am nächsten Morgen in Angriff nehmen zu müssen, aber sie hatte es einfach nicht abwarten können, nach Hause zu kommen. Nachdem sie das Bett gemacht hatte, sah sie nach dem brodelnden Topf auf dem Feuer. Sie malte sich aus, wie herrlich es sein würde, eine Schüssel heißen Eintopf zu essen und anschließend ins Bett zu fallen – als der Eingang plötzlich von einem riesenhaften Schatten verdunkelt wurde. Panisch sauste die Katze an ihr vorbei, das Fell stand ihr senkrecht vom Körper ab. Mit erhobenen Augenbrauen drehte sich Xanthe um und sah das Tier ins Schlafzimmer flitzen. Es verschwand unter dem Bett. Dann wandte sie sich zur Eingangstür, wo ein gewaltiger, ganz in strenges Schwarz gekleideter Mann stand. Es war Lord Tiago Black Eagle, Sicherheitschef der Königin der Dunklen Fae. Er war ein Donnervogel-Wyr, für alle Zeit ein Fremder im Herzen des Dunkle-Fae-Landes. Überrascht verbeugte sie sich vor ihrem Arbeitgeber. »Willkommen, Mylord. Kommen Sie doch bitte herein.« Seine Züge waren so streng wie seine Kleidung. Für Augen, die an die schmale Statur, die großen grauen Augen und die blasse Haut der Dunklen Fae gewöhnt waren, wirkte er fremdartig, aber Xanthe hatte sich inzwischen an das schroffe Gesicht und die imposante Erscheinung gewöhnt. Seine obsidianschwarzen Augen verengten sich, als auch er der Katze nachsah. »Tenanye«, begrüßte er sie auf jene abrupte Art, die nach ihrem Aufenthalt in Amerika nicht mehr ganz so befremdlich auf sie wirkte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich nicht so nennen. Tiago reicht völlig. Was zum Teufel hat das hier verloren?« Als er in Richtung Schlafzimmer deutete, hob sie erneut die Brauen. »Das Kätzchen?«, fragte sie. »Ich habe es gefunden. Es streunte in Chicago auf der anderen Seite der Übergangspassage durch die Gegend, da habe ich es mitgenommen.« Die Übergangspassage zwischen Adriyel und Chicago lag auf einem dreißig Hektar großen Stück Land nordöstlich des Loops, des Stadtzentrums von Chicago. Das Grundstück mit einem großen Anwesen im gregorianischen Stil war von einer hohen Steinmauer mit Stacheldrahtrollen eingefasst, doch die schmiedeeisernen Eingangstore standen inzwischen offen, nachdem Adriyel seine Grenzen geöffnet hatte. Vom Hauspersonal dieses Anwesens hätte niemand ein Haustier aufgenommen, aber da anderen Arten nun freier Zugang gewährt wurde, hatten auch die wild lebenden Tiere der Stadt ausreichend Gelegenheit, durch die offenen Türen auf das große bewaldete Gelände zu schlüpfen. Tiago warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, ehe er sich an ihr vorbeischob und mit großen Schritten ins Schlafzimmer marschierte. »Komm da raus«, sagte er mit Nachdruck. Xanthe starrte ihn an, ihr müder Kopf war völlig leer vor Verblüffung. Das Kätzchen kam unter dem Bett hervorgeschlichen. Wie es da vor den Füßen des Wyr-Lords kauerte, sah es...