Harnisch / Maull / Schieder | Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung | Buch | 978-3-593-38875-5 | sack.de

Buch, Deutsch, 433 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 536 g

Harnisch / Maull / Schieder

Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung

Beiträge zur Soziologie der internationalen Beziehungen

Buch, Deutsch, 433 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 536 g

ISBN: 978-3-593-38875-5
Verlag: Campus


Nationalstaaten markieren gemeinhin die "natürlichen" Grenzen von Solidarität. Im Prozess der Globalisierung verlieren nationale Solidaritätspraktiken jedoch an Bedeutung: die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Binnen- und Außenmoral verschwimmt. Während die einen erwarten, dass sich eine weltumspannende Solidarität entwickelt, argumentieren andere, solidarisches Handeln müsse sich auf eng begrenzte Gruppen beschränken. Die Autoren untersuchen die Konsequenzen dieser Haltungen für eine politische Ordnung jenseits des Nationalstaats.
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Vorwort 7

I Einleitung

Zur Theorie der Solidarität und internationalen Gemeinschaft 11
Siegfried Schieder

II Solidarität im europäischen und globalen Kontext

Europäische Solidarität: Erkundung eines schwierigen Geländes 63
Steffen Mau

"Fremde Freunde": Solidarität in der französischen und deutschen
Politik gegenüber den MOE- und AKP-Staaten 89
Rachel Folz, Simon Musekamp, Siegfried Schieder

Transnationale Solidarität: Mehr Hilfe für entferntes Leid? 115
Katrin Radtke

Die Institutionalisierung der Solidarität und der Globalisierung:
Der Fall Darfur 137
Thomas Olesen

III Internationale Gemeinschaftsbildung

Die Konstitutionalisierung der EU: Eine internationale
Gemeinschaftsbildung mit transformativem Charakter? 161
Stefan Seidendorf

Die Erweiterungspolitik von Sicherheitsgemeinschaften:

Die NATOisierung Polens 193
Cornelia Frank

Jenseits von Altruismus und Egoismus:
Die britische Entwicklungspolitik unter New Labour 221
Christine Wetzel

IV Solidarität und internationale Gemeinschaft zwischen Moral, Interesse, Respekt und Recht

Die Ambivalenz der Moral: Interessen und
Gemeinschaftsgefühl in der französischen Afrikapolitik 257
Klaus Schlichte

Politische Schuld, moralische Außenpolitik? Deutschland,
Namibia und der lange Schatten der kolonialen Vergangenheit 277
Stefan Engert

Respekt, Solidarität und Kooperation in den
internationalen Beziehungen 305
Reinhard Wolf

Demokratische Solidarität in der Weltgesellschaft -
Zur gegenwärtigen Verfassung der globalen Rechtsgemeinschaft 339
Hauke Brunkhorst

V Ausblick

Solidarität und Gemeinschaftsbildung: Interdisziplinärer Dialog
und Synthese 361
Sebastian Harnisch

Forschungsfragen und Forschungslücken 375
Hanns W. Maull

Abkürzungsverzeichnis 379
Literatur 383
Autorinnen und Autoren 431


1. Einleitung

"Solidarität" zählt zu jenen "buzzwords", die im alltäglichen Sprachgebrauch häufig und gerne verwendet werden. Solidarität wird begrifflich beispielsweise sowohl in persönlichen Beziehungen (Solidarität in der Familie, unter Freunden und in der Nachbarschaft), im binnenstaatlichen Bereich (wohlfahrtsstaatliche Solidarität) als auch auf der überstaatlichen Ebene (europäische Solidarität) gebraucht (vergleiche Wiemeyer 2007: 271). Dennoch wäre es voreilig, hieraus den Schluss zu ziehen, in der Literatur bestünde Klarheit über den Bedeutungsinhalt von Solidarität und mit ihr würden ausschließlich positive Assoziationen geweckt. Denn es existieren ja nicht nur die Solidarität streikender Arbeiter, das Mitleid mit den Armen und Schwachen dieser Welt oder die Solidarität mit dem Staate Israel als Teil der deutschen Staatsräson, sondern auch die Solidarität der Mafia oder einiger radikaler Muslime, die den Kopf eines ihrer Meinung nach gotteslästerlichen Schriftstellers (Salman Rushdie) oder Mohammed-Karikaturisten (Kurt Westergaard) verlangen. Antagonistische Solidaritäten verfolgen dabei kollektive Interessen gegen konkurrierenden Kollektiva, wobei es vor allem um die Abwehr von "Feinden" oder die Selbstbehauptung gegen Widersacher geht. Solidarität ist nicht immer moralisch gut und sozial erwünscht; und wo sie erwünscht ist, gibt es Grenzen ihrer Verträglichkeit, was zu Solidaritätskonflikten führt (Prischung 2003: 190): Die Staatsbürgerinnen und Bürger eines Landes solidarisieren sich gegenüber Arbeitsmigranten, die ihnen angeblich ihre Arbeitsplätze streitig machen; europäische Regierungen solidarisieren sich gegen unilaterales militärisches Vorgehen der USA (beispielweise im Irak 2003), aber sie bringen auch ihre "uneingeschränkte Solidarität" mit Amerika zum Ausdruck, wenn die USA - wie die Ereignisse vom 11. September 2001 gezeigt haben - durch den internationalen Terrorismus herausgefordert werden.
Solidarität ist nicht nur ein ambivalentes Phänomen. Im Unterschied zu aversen Gefühlen wie Misstrauen, Feindschaft oder Hass kommt Solidarität in graduellen Abstufungen und Differenzierungen vor. In der Familie oder Verwandtschaft bestehen oft starke solidarische Bande. Es gibt aber auch Bindungen zu den Menschen in der örtlichen Gemeinde oder der Region. Es sind wiederum andere solidarische Verbundenheitsgefühle, die im Nationalstaat (Anderson 1983), in Europa (Mau 2005) oder im globalen Referenzrahmen (Höffe 2002: 413-418) wirksam sind. Letztlich ist es wohl das Schillernde, das Solidarität unleugbar zu einem der "zentralen politischen ›Fahnenwörter‹" macht, "mit denen sich die Menschen die Vorgänge der Welt erklären", so Prisching (2003: 190). Umso paradoxer mutet es an, dass die Politik- und Sozialwissenschaft dieser Begrifflichkeit zumindest bis in die jüngste Zeit hinein keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt hat (Stjernø 2005: 19; Radtke 2007: 3). Nicht umsonst ist Solidarität als "Stiefkind [.] der Gesellschaftstheorie" bezeichnet worden (Münkler 2004: 15).
Herrscht schon in der Politik- und Sozialwissenschaft insgesamt ein gewisser Vorbehalt gegenüber Solidarität, so verwundert es kaum, dass sich die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB) umso schwerer mit der Kategorie der Solidarität tut. Denn zum einen bezieht sich Solidarität gemeinhin auf individuelle Gefühle und moralische Verpflichtung, während die IB-Disziplin sich primär mit kollektiven Akteuren (Staaten, internationalen Organisationen und Interessengruppen) beschäftigt. Zum anderen fehlt der internationalen Ebene eine den Staaten übergeordnete Zentralinstanz, aber auch unterhalb dieser eine gesellschaftliche oder gar gemeinschaftliche Sozialintegration (Waltz 1979). Entsprechend galt die internationale Ebene lange als "kategoriales Gegenstück nationaler Gesellschaften" (Deitelhoff 2006: 11). "Issues of solidarity questions of the self-understanding of the actors concerning the game they are involved in are systematically exluded, since the ›anarchical‹ structure and shared ideas serve as the major explanans" (Kratochwil 2008: 445). Erst im Prozess der territorialen Entgrenzung und "ungleichzeitigen Denationalisierung" (Zürn 1998) von Ökonomie, Politik und Gesellschaft verlieren nationalstaatliche Grenzen an Bedeutung, so dass die Unterscheidung zwischen Binnen- und Außensolidarität zunehmend porös wird. Einige Autoren sehen deshalb im Aufbau einer postnationalen Gemeinschaft auch eine der dringlichsten Aufgaben der heutigen Weltpolitik (Benhabib 2008).
Nun ist die mangelnde Thematisierung von Solidarität in den IB schon deshalb bemerkenswert, weil seit den 1990er Jahren vermehrt moralische und soziologische Ansätze Eingang in die IB-Forschung gefunden haben (vergleiche Kratochwil 2008). Je stärker im Prozess der Globalisierung das "Internationale" und die Gesellschaft sich überschneiden, desto mehr nehmen auch die Bemühungen zu, die Fächer "Internationale Beziehungen" und "Soziologie" füreinander zu öffnen (Fuchs 2007: 1). Während Normen (Finnemore 1996), kollektive Identität (Wendt 1999), Rolle (Holsti 1970; Kirste/Maull 1996), Moral (Lumsdaine 1996; Hasenclever 2001; Hattori 2003; Tannenwald 2007; Etzioni 2008) und Gerechtigkeit (Welch 1993; Nöel/Thérien 1995; Steffek 2004) inzwischen zum Theoriekanon der IB gezählt werden können, kann dies von Solidarität als "Schlüsselbegriff" der Sozialtheorie und des modernen politischen Diskurses nicht behauptet werden (Beckert u.a. 2004b: 9; Stjernø 2005: 1). Deutliches Indiz dafür ist schon das Fehlen des Solidaritätsvokabulars in den Sachregistern führender IB-Handbücher (Reus-Smit/Snidal 2008; Carlsnaes u.a. 2002) oder Forschungsbänden (etwa Hellmann u.a. 2003).
Obwohl das Solidaritätskonzept im theoretischen IB-Diskurs allenfalls implizit eine Rolle spielt (Weber 2007: 694), gibt es durchaus theoretische Traditionen, an die eine systematische Beschäftigung mit Solidarität in den internationalen Beziehungen anschlussfähig ist, man denke nur an Karl W. Deutschs vielbeachtete Studien über das Konzept der "Sicherheitsgemeinschaft" (Deutsch u.a. 1969) und dessen konstruktivistische Weiterentwicklung (Adler/Barnett 1998a, Adler 2008). Bezüge gibt es auch zur konstruktivistischen Identitätsforschung (Wendt 1999: 298-308) sowie zur internationalen Sozialisationsforschung (Schimmelfennig u.a. 2006; Thomas 2008). Sowohl das Herzstück von Deutschs Sicherheitsgemeinschaft, der "sense of community", als auch das "Gemeinschaftsethos" in der IB-Sozialisationsliteratur können - vereinfacht ausgedrückt - als ein Bündel von Solidaritätsgefühlen begriffen werden, welche die Mitglieder an die zentralen Symbole einer Gemeinschaft binden (Rittberger/Schimmelfennig 2006b: 25). Darüber hinaus bestehen auch inhaltliche Anknüpfungspunkte zu den Arbeiten der "Englischen Schule" (Dunne 2008; auch Bergman 2007), zum kommunikativen Handeln in den internationalen Beziehungen (Risse 2000; Niesen/Herborth 2007) sowie nicht zuletzt zu der langen Tradition philosophischen Nachdenkens über die Rolle der Ethik in der internationalen Politik (etwa Chwaszcza/Kersting 1998; Weber 2007; Jabri 2007; Coicaud/Wheeler 2008a). Eine systematische Untersuchung und theoretische Verankerung von Solidarität in den IB steht - von wenigen Beiträgen abgesehen (Beckert u.a. 2004a; Olesen 2005a; Magnusson/Stråth 2007; Radtke 2007; Karagiannis 2007a) - jedoch noch weitgehend aus.
Der vorliegende Band unternimmt einen ersten Schritt auf diesem Weg und fragt nach der Relevanz von internationaler und transnationaler Solidarität sowohl auf der Ebene handlungsleitender Motive von Staaten und Gesellschaften als auch auf der Ebene von internationalen Institutionen. Ausgangspunkt ist die These, dass Solidarität einen eigenständigen Erklärungswert in den internationalen Beziehungen hat. Sie ist nicht nur eine unhintergehbare und keineswegs nur in residualen Handlungsfeldern Geltung findende sozio-moralische Ressource, sondern sie liegt auch quer zu der in der sozialwissenschaftlichen Literatur überbetonten Dichotomie von sozialer Norm und Eigeninteresse. Damit verschiebt sich auch die Auseinandersetzung in der IB-Debatte zwischen Rationalismus und Konstruktivismus, und zwar zugunsten einer Diskussion von Handlungslogiken der solidarischen Verbundenheit und des sorgenden Interesses, die bisher nicht hinreichend theoretisiert und empirisch untersucht worden sind.
Trotz unterschiedlicher theoretischer und methodischer Zugänge zum Solidaritätsthema haben die einzelnen Beiträge gemeinsam, dass sie zwei mit dem Band verbundene Ziele verfolgen: Erstens soll Solidarität für die empirische Analyse internationaler Beziehungen fruchtbar gemacht werden. Dazu werden einerseits in Abgrenzung zu anderen Konzeptionalisierungsversuchen Operationalisierungen von Solidarität vorschlagen, die sich für die IB als heuristisch sinnvoll erweisen. Andererseits soll Solidarität aber auch gegenüber anderen Handlungsmotiven abgegrenzt werden. Dies gilt nicht nur im Verhältnis zu der Kategorie des Interesses, sondern auch zu verwandten de-ontologischen Konzepten wie Gerechtigkeit oder Moral. Die empirische Untersuchung von Solidarität im Spannungsfeld von Interesse, Moral, Respekt und Recht dient dem Zweck, Solidarität als Analysekategorie im gegenwärtigen Forschungskontext der IB zu bestimmen.
Zweitens will der Band aber auch - wie der Untertitel andeutet - einen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion für eine Soziologie der internationalen Beziehungen leisten. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Nachrangigkeit der Gesellschaftlichkeit gegenüber dem Thema "Staatlichkeit" in der IB-Forschung (dazu etwa Leibfried/Zürn 2006). Auch wenn die Vielzahl soziologischer Bezüge in den IB weder geleugnet noch abgetan werden soll, so wurde doch insgesamt "ein relativer Mangel an gesellschaftstheoretischen Konzeptionen" in den IB konstatiert (Fuchs 2007: 3). Die Untersuchung von Prozessen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung auf der internationalen Ebene ist darüber hinaus aber auch ein Prüfstein dafür, ob Solidarität mit der Entgrenzung von Gemeinschaften schwindet beziehungsweise sich Inklusions- und Exklusionsmechanismen in der Weltgesellschaft auflösen oder ob es zu einer Revitalisierung von Solidaritätsgeneratoren (Nation, Geschichte, Kultur und so weiter) kommt. Sollte sich empirisch zeigen, dass Solidaritätspraktiken in den internationalen Beziehungen Wirkung entfalten, dann würde dies nicht nur zentrale Annahmen gängiger IB-Theorien - vom Realismus bis zum Marxismus - in Frage stellen, sondern auch jene soziologischen Ansätze und theoretischen Einsichten herausfordern, die annehmen, dass sich Gesellschaft auch auf globaler Ebene durch einen konsequent durchgehaltenen Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung auszeichnet. Schließlich eröffnet die Frage nach der Rolle von Solidarität für die internationale Gemeinschaft auch den Blick für die Historizität und Plastizität der internationalen Beziehungen, die sich über Prozesse der inklusiven und exklusiven Gemeinschaftsbildung entwickeln.
Die Übertragung und Anwendbarkeit einer Konzeption von Solidarität auf internationale Sachverhalte setzt zunächst ein genaueres Verständnis von Solidarität auf der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Ebene voraus. In Abschnitt 2 dieses Beitrages wird deshalb der Geltungsbereich der Solidarität umrissen. In Abschnitt 3 werden dann unter Rückgriff auf anthropologische, soziologische und moraltheoretische Arbeiten zentrale Ansätze zur konzeptionellen Bestimmung von Solidarität diskutiert. Welchen theoretischen Stellenwert Solidarität in den IB-Theorien hat und welchen forschungslogischen Problemen wir bei der empirischen Untersuchung von internationalen Solidaritätspolitiken begegnen, wird in Abschnitt 4 erörtert. In Abschnitt 5 werden die Einzelbeiträge kurz vorgestellt.


Schieder, Siegfried
Siegfried Schieder, Dr. phil, ist wiss. Mitarbeiter am SFB 600 »Fremdheit und Armut« der Universität Trier.

Maull, Hanns W.
Hanns W. Maull ist Professor für Internationale Beziehungen und Außenpolitik in Trier.

Harnisch, Sebastian
Sebastian Harnisch ist Professor für Internationale Beziehungen und Außenpolitik in Heidelberg.

Sebastian Harnisch und Hanns W. Maull sind Professoren für Internationale Beziehungen und Außenpolitik in Heidelberg und Trier. Siegfried Schieder, Dr. phil, ist wiss. Mitarbeiter am SFB 600 'Fremdheit und Armut' der Universität Trier.


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