E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Hamsun / Haefs Eine ganz gewöhnliche Fliege und andere heitere Erzählungen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-15-962333-7
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-15-962333-7
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der humorvolle Hamsun Ein Schriftsteller auf missglückter Lesereise, eine Frau, die ihren Mann durch ein fingiertes Straßenbahnunglück loswerden will, eine illustre Runde an herrlich verschrobenen Sommergästen und eine Fliege als ungewöhnliche Mitbewohnerin - in seinen zu Unrecht vergessenen Erzählungen zeigt Knut Hamsun eine überraschende Seite: heiter, komisch, grotesk. Diese abwechslungsreiche Sammlung lädt dazu ein, das vielseitige erzählerische Talent des norwegischen Schriftstellers zu entdecken. Eine literarische Entdeckung für alle, die den Literaturnobelpreisträger Hamsun bislang nur als düsteren Romanautor kannten. »Und darin, dass er menschliche Schwächen aufspießt und vorführt wie kein anderer, darin findet sich sowohl der alte als auch der junge Hamsun. Die Erzählungen seiner frühen Schaffenszeit weisen den Weg zu den großen Romanen der späteren Jahre.« Gabriele Haefs
Der Nobelpreisträger Knut Hamsun (1858-1952) schlug sich als Schulmeister, Hilfssheriff, Ladenangestellter, Landarbeiter und Schaffner in Skandinavien und Amerika durchs Leben, ehe er sich als Dramatiker und Romanautor etablierte. Er gilt als »Vater der modernen Literatur«. Übersetzung: Gabriele Haefs, geb. 1953, ist eine mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin und Autorin. Ins Deutsche übertragen hat sie u. a. Werke von Jostein Gaarder, Anne Holt, Selma Lagerlöf und Agatha Christie.
Autoren/Hrsg.
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I
1888 also erhielt ich Geld für eine kleine Reise irgendwohin – ich erzähle es so, wie es ist. Ich brach Richtung Schweden auf und wanderte fröhlich entlang der Bahngleise, während Tag für Tag ein Zug nach dem anderen an mir vorbeifuhr. Unterwegs traf ich viele Menschen, und alle diese Menschen grüßten mich, sie sagten »Grüß Gott!« und ich sagte auch »Grüß Gott«, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte antworten sollen. Als ich in Göteborg ankam, war mein erstes Paar Schuhe in einem jämmerlichen Zustand; aber darum geht es jetzt nicht. Noch bevor ich nach Göteborg kam, ereignete sich der Vorfall, von dem ich nun erzählen will. Ich frage dich: Wenn dir eine Frau einen Blick durchs Fenster zuwirft und später keinerlei Notiz von dir nimmt, dann belässt du es dabei und machst dir keine Hoffnungen; du müsstest ein Narr sein, wenn du dir auf so einen kurzen beiläufigen Blick etwas einbildest. Aber wenn die Frau dich nicht nur mit größtem Interesse ansieht, sondern dir auch noch ihr Zimmer, ja sogar ihr Bett in einer schwedischen Posthalterei überlässt, ist das deiner Meinung nach nicht Grund genug, an ihre wahren Absichten zu glauben und ein kleines bisschen Hoffnung zu schöpfen? Ich finde schon, und ich habe bis zum Schluss gehofft: Vor einer Woche musste ich dafür sogar mit einer schmerzhaften Reise nach Kalmar bezahlen … Ich kam schließlich an der Posthalterei in Bårby an. Es war schon spät am Abend und ich war seit dem Vormittag zu Fuß unterwegs gewesen, also beschloss ich, für heute Schluss zu machen. Ich ging in die Gaststube und fragte nach einer Mahlzeit und einer Unterkunft. Ja, Essen sollte ich bekommen, aber eine Unterkunft konnte man mir nicht anbieten, alle Zimmer waren belegt, das Haus war voll. Ich sprach mit einem jungen Mädchen, der Tochter des Hauses, wie sich später herausstellte. Ich sehe sie an und tue so, als verstünde ich nicht, dass das Haus voll ist. Wollte sie mich spüren lassen, dass ich Norweger bin, ein politischer Gegner? »Das sind eine Menge Wagen, die hier stehen«, sage ich beiläufig. »Ja, hier übernachten viele Marktleute«, antwortet sie. »Wir haben kein einziges freies Bett mehr.« Dann geht sie hinaus und bestellt mein Essen. Als sie zurückkam, begann sie wieder damit, wie ausgebucht das Haus sei. Sie sagte: Du kannst entweder zur nächsten Station weitergehen, nach Ytterån, oder ein Stück mit dem Zug zurückfahren. Hier ist, wie gesagt, alles voll. Ich verzieh dem naiven Kind, ich wollte mich ihr gegenüber auch nicht übertrieben mürrisch verhalten; aber ich hatte natürlich nicht vor, mich vor dem nächsten Morgen von hier wegzubewegen. Ich befand mich in einer öffentlichen Posthalterei, und ein Bett musste ich bekommen! »Das Wetter ist fabelhaft«, sagte ich. »Ja«, antwortete sie. »Es wird eine Freude sein, heute Abend nach Ytterån zu gehen. Es ist nicht weit, nur eine gute Meile.« Jetzt wurde es mir aber zu viel, mit ernster Stimme sagte ich langsam: »Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass Sie mir hier und heute eine Übernachtung ermöglichen; ich möchte nicht mehr weitergehen, ich bin müde.« »Aber wenn doch alle Betten belegt sind«, antwortet sie. »Tja, das ist nicht mein Problem.« Bei diesen Worten ließ ich mich mit meinem ganzen Gewicht auf einen Stuhl sinken. Tatsächlich tat mir das Mädchen leid, sie schien mir nicht aus reiner Bosheit Schwierigkeiten bereiten zu wollen, sie hatte ein ehrliches Gesicht und ihren Hass auf die Norweger im Griff. Sie können mir ein Bett bereiten, wo Sie wollen, gern auch hier auf dem Sofa, sagte ich. Aber es stellte sich heraus, dass sogar das Sofa schon vergeben war! Nun bekam ich es langsam mit der Angst zu tun. Wenn ich noch eine gute schwedische Meile laufen müsste, würde mich das meine Gesundheit kosten; eine gute Meile nimmt in Schweden nämlich kein Ende, das wusste ich. »Herrgott nochmal, sehen Sie denn nicht, dass ich meine Schuhe zerschlissen habe?«, rief ich. »Sie jagen doch wohl niemanden in solchen Schuhen wieder vor die Tür?« »Ja, aber die Schuhe werden morgen auch nicht besser sein«, merkte sie lächelnd an. Nun, damit hatte sie recht, und ich wusste mir keinen Rat mehr. Im selben Moment geht die Tür auf und ein weiteres junges Mädchen stürmt herein. Sie lacht über etwas, das ihr passiert ist oder woran sie gerade denkt, und sie öffnet den Mund, um davon zu erzählen. Als sie mich bemerkt, ist sie nicht im Geringsten verlegen, sondern schaut mich unverwandt an und nickt mir schließlich sogar zu. Dann fragt sie leise: »Was ist denn los, Lotta?« Lotta antwortet etwas, das ich nicht hören kann, aber ich verstehe, dass es bei ihrer Flüsterei um mich geht. Ich sehe die beiden an und lausche, als werde über mein Schicksal entschieden. Jetzt werfen sie einen verstohlenen Blick auf meine Schuhe, und ich höre sie miteinander kichern. Die hinzugekommene junge Frau schüttelte den Kopf und war im Begriff, wieder zu gehen. An der Tür drehte sie sich plötzlich um, als ob ihr etwas eingefallen wäre, und sagte: »Aber ich kann heute Nacht doch bei dir schlafen, Lotta, dann kann er mein Zimmer haben?« »Nein«, antwortet Lotta, »das können Sie wirklich nicht machen.« »Aber natürlich kann ich das!« Pause. Lotta denkt darüber nach. »Nun ja, wenn Sie unbedingt wollen.« Dann – und an mich gewandt – fährt Lotta fort: »Das Fräulein möchte Ihnen also ihr Zimmer überlassen.« Ich springe auf, nehme Haltung an und verbeuge mich, ich glaube, es gelang mir ganz ordentlich. Ich bedankte mich auch mit Worten bei dem Fräulein, sagte, dass sie mir eine Liebenswürdigkeit entgegengebracht habe, die in meinem Leben einmalig sei, und fügte abschließend hinzu, dass ihr Herz genauso gut sei wie ihre Augen schön – mein Fräulein! Damit verbeugte ich mich erneut und machte auch dieses Mal eine gute Figur. Doch ja, ich schlug mich außerordentlich gut. Sie wurde rot und rannte mit einem lauten Lachen zur Tür hinaus, und Lotta rannte hinterher. Ich blieb alleine zurück und dachte über die Sache nach. Es lief gut; sie hatte gelacht, war rot geworden und hatte gelacht, einen besseren Anfang gab es nicht. Mein Gott, wie jung sie war, kaum achtzehn Jahre, mit Grübchen in den Wangen und einer kleinen Kinnspalte. Kein Tuch um den Hals, nichts um den Hals, es gab nicht einmal ein paar Rüschen am Ausschnitt ihres Kleides, nur eine dünne Kordel. Und dazu das süße Gesicht mit einem schweren, dunklen Blick. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Gut, sie hatte mich mit Interesse beobachtet. Eine Stunde später sehe ich sie draußen auf dem Hof; sie hat sich in einen der leeren Kutschwagen gesetzt und knallt mit einer Peitsche. Wie jung sie ist und so voller Lebensfreude, sitzt dort ganz allein, summt und knallt mit der Peitsche, als wäre angespannt. Ich nähere mich ihr, verspüre den Drang, die Pferde zu ersetzen und die Kutsche selbst zu ziehen, ich lüfte meinen Hut und setze an, um etwas zu sagen. Da steht sie auf einmal auf, groß und stolz wie eine regierende Fürstin, sieht mich einen Moment lang an und steigt aus der Kutsche. Das werde ich nie vergessen; obwohl sie keinen Grund hatte, sich so zu verhalten, war sie einfach großartig, wie sie so aufstand und ausstieg. Ich setzte meinen Hut auf und schlich mich beschämt davon. Verflucht sei diese Laune, die Kutsche ziehen zu wollen! Andererseits: Was war los mit ihr? Hatte sie mir nicht gerade ihr Zimmer überlassen? Wozu dann diese Ziererei? Alles nur gespielt, sagte ich mir, sie tut nur so, ich kenne den Trick, sie will mich zappeln lassen, – gut, ich werde mich darein schicken, ich werde zappeln! Ich setzte mich auf die Treppe und zündete meine Pfeife an. Um mich herum liefen die Händler hin und her; ab und an hörte ich, wie im Haus Flaschen geöffnet wurden und Gläser klirrten. Das Fräulein bekam ich nicht mehr zu sehen. Die einzige Lektüre, die ich dabeihatte, war eine Karte von Schweden. Ich sitze da, rauche und ärgere mich, und schließlich hole ich die Karte aus der Tasche und fange an, sie zu studieren. Nach ein paar Minuten erscheint Lotta in der Tür, bereit, mich auf mein Zimmer zu geleiten, wenn ich es wünsche. Es ist bereits zehn Uhr, ich stehe auf und gehe mit. Im Flur treffen wir auf das Fräulein. Jetzt passiert etwas, an das ich mich bis ins kleinste Detail erinnere: Die Vertäfelung im Flur ist gerade frisch gestrichen worden, doch davon weiß ich nichts, ich trete zur Seite, als wir das Fräulein treffen, und schon ist das Malheur passiert. Das Fräulein schreit auf: »Die Farbe …!« Aber es ist zu spät, ich habe meine linke Schulter vollständig ans Paneel gedrückt. Sie sieht mich völlig bestürzt an, schaut dann zu Lotta und fragt: »Was machen wir denn jetzt damit?« Sie sagte wortwörtlich: Was machen wir jetzt damit? Und Lotta antwortet, dass wir es mit etwas abreiben sollten, woraufhin sie in Gelächter ausbricht. Wir gehen zurück zur Treppe, und Lotta findet etwas, womit sie mich abreiben kann. »Seien Sie bitte so gut und setzen sich hin«, sagt sie, »sonst komme ich da nicht heran.« Und ich setze mich hin. Dann beginnen wir zu plaudern … Ob du es mir nun glaubst oder...