Hagen | Nationalsozialistische Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 30, 500 Seiten

Reihe: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte

Hagen Nationalsozialistische Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg

E-Book, Deutsch, Band 30, 500 Seiten

Reihe: Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte

ISBN: 978-3-7065-6190-7
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieses Buch untersucht erstmals systematisch und umfassend Gestalt und Auswirkungen nationalsozialistischer Kulturpolitik in Tirol und Vorarlberg – vom „Anschluss“ im März 1938 bis zum Ende des NS-Regimes im Mai 1945. In den Blick genommen werden sowohl die zentralen Institutionen und Akteure in der Region – von Gauleiter Franz Hofer über das führende Personal in der Reichsgauverwaltung bis hinab zu den Propagandisten und Kulturfunktionären in den Kreisen – als auch die zahlreichen heimischen „Kulturschaffenden“, die sich eifrig in den Dienst des Nationalsozialismus stellten. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Funktion von „Volkskultur“, Brauchtum und Schützenwesen als wirksame Identifikationsmittel. Besonders deutlich wird, wie Kultur und Kunst zur Mobilisierung der Massen genutzt wurden und wie einzelne kulturpolitische Initiativen des Regimes bis in die Gegenwart weiterwirken.
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I. Rausch und Realität. März 1938–März 1940
Die ersten Tage und Wochen nach dem so genannten „Anschluss“, dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März 1938 und dem voran- bzw. damit einhergehenden Aufstand der österreichischen Nationalsozialisten, waren geprägt durch propagandistische Masseninszenierungen.80 Stets anwesend waren, wie man den geradezu schematischen Presseberichten zu diesen Ereignissen entnehmen kann, die lokalen Parteigrößen, die neuen kommissarischen Bürgermeister und vor allem auch die örtlichen Musikkapellen. In Schruns im Montafon fand sich am 15. März – „spontan“, wie das Vorarlberger Tagblatt suggerierte – eine Menschenmasse zu einer Freudenkundgebung zusammen: „Heute Abend kam nun in aller Stille unsere Musik vor dem Gemeindehause auf dem Adolf-Hitler-Platz zusammen, um den dort schon bei ernsten Besprechungen weilenden neuen Bürgermeister Pg. Heinrich Dajeng, mit einem Ständchen zu überraschen. Im Nu war wieder eine stattliche Menge beisammen […].“81 Die Dorfplätze und Straßen waren, wie in Schruns, vielerorts rasch umbenannt worden und dienten als große Freiluftbühnen für das sich entfaltende Siegesspektakel. Eine Feier folgte auf die nächste, quer durch die Talschaften und Gemeinden, und so gleichen sich auch die unzähligen Berichte in Zeitungen und Chroniken. „Mehrere Tage wurde im Ort fast nichts gearbeitet, zu gewaltig waren die Eindrücke, zu rasch ging alles vor sich“, hielt etwa der Kemater Schulleiter Othmar Friedl in einem Bericht über die Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme fest.82 In der Bezirksstadt Feldkirch inszenierten die örtlichen Nationalsozialisten, wie in allen größeren Gemeinden, bereits am 13. März einen großen Fackelzug, in den sämtliche Musikkapellen „Groß-Feldkirchs“ integriert worden waren und an den lokalen Parteiführern vorbeidefilierten.83 Je näher die für den 10. April 1938 anberaumte, nachträgliche Volksabstimmung über die bereits erzwungene „Wiedervereinigung“ Österreichs mit dem Deutschen Reich rückte, umso mehr steigerte sich der Reigen an Konzerten, Aufmärschen, Fackelzügen und Kundgebungen in den Städten und Landgemeinden. Ein beträchtlicher Teil der Vereinslandschaft, insbesondere jene Vereinigungen, die seit jeher dem deutschnationalen Lager nahegestanden waren, stellte sich ganz in den Dienst der Sache. In Frastanz notierte der Chronist des örtlichen Männergesangsvereins den Ablauf eines solchen Propagandaeinsatzes, wie er wohl in den meisten Gemeinden an den Vorabenden der großen Abstimmung stattfand: „Gleichsam als Auftakt für die am 10. April stattfindende Volksabstimmung führten wir in den Nachmittagsstunden des Samstag ein Straßensingen durch. An 8 Plätzen der Gemeinde sangen wir abwechselnd die Chöre ‚Wo gen Himmel Eichen ragen‘ und ‚A deutsch Trutzgsangl‘. Nach kurzer Einkehr im Gasthause zur ‚Post‘ beteiligten wir uns auch noch am Aufmarsche zum Adolf-Hitler-Platz bei der ‚Sonne‘ zum Gemeinschaftsempfange der Führerrede.“84 Ansprachen, Musik, Gesang, Rundfunk, Film, Plakate und Presse verschmolzen zu einem multimedialen „Heim ins Reich“-Getöse. In der Stadt Dornbirn wurde, so die Historikerin Ingrid Böhler, „die Bevölkerung zuerst mit Siegesfeiern, dann mit dem nahtlos anschließenden Werbefeldzug für die ‚Anschluss‘-Abstimmung in Atem gehalten“.85 Eine detaillierte Aufstellung aller Feierlichkeiten, Platzkonzerte, Fackelzüge und Filmvorführungen dieser wenigen Wochen im März und April 1938 würde bereits viele Seiten füllen und doch nur stets dasselbe replizieren.86 Den Höhepunkt dieses „Anschlussrauschs“87 stellte Adolf Hitlers Besuch in Innsbruck am 5. April dar. Der Historiker Horst Schreiber hat dieses für Westösterreich zentrale Ereignis als eine Massenekstase charakterisiert, die förmlich kultische Züge zeigte: „Bereits um die Mittagsstunden befanden sich zehntausende Menschen in einer fiebernden Stimmung, als Kampflieder der Bewegung zu hören waren und Musikkapellen in Tiroler Trachten durch die Stadt marschierten, die Bauern waren in ihren traditionellen Festkleidern gekommen.“88 Am 9. April, dem Vorabend der Abstimmung, waren alle katholischen, evangelischen und altkatholischen Kirchen dazu angehalten, die in Wien veranstaltete Schlusskundgebung mit synchronem Glockengeläute zu untermalen. In einer Instruktion an die Unterbehörden hieß es: „Nach der Rede des Führers wird das Niederländische Dankgebet gesungen. Bei den Worten des dritten Verses: ‚Herr, mach uns frei!‘ sollen in ganz Deutschland einschliesslich Österreich die Glocken aller Kirchen und Religionsgemeinschaften zu einem feierlichen Geläute einsetzen.“89 Dass die Eindrücke dieser Tage und Wochen für die Nachwelt erhalten bleiben würden, ja unser heutiges Bild der damaligen Ereignisse entscheidend mitformen, dafür sorgte der nationalsozialistische Propagandaapparat gleich selbst.90 Über die Zeitungen, die in diesen Tagen im Stakkato über die Feierlichkeiten berichteten, erging der Aufruf an die „Amateurphotographen des Gaues […] Lichtbilder aus den großen Tagen der Erhebung des Landes und dem Werden Großdeutschlands der Gaupropagandaleitung zu senden und zu überlassen.“91 Der unscheinbare Aufruf gibt einen ersten Einblick hinter die Kulissen und auf jenen Apparat, der diese Feierlichkeiten in Bewegung setzte, inszenierte und gleichzeitig auch entsprechend vermarktete und dokumentierte. In den beiden Gauwahlleitungen in Innsbruck und Bregenz war jeweils eine Hauptabteilung Propaganda eingerichtet worden, die primär damit beschäftigt waren, den Veranstaltungsreigen minutiös durchzuplanen und ins rechte Bild zu rücken.92 In ihrer Ästhetik und in ihrem Ablauf waren diese nationalsozialistischen Massenfeiern keineswegs vollkommen neu. Ihre Inszenierung mit marschierenden Trachtengruppen93 und Blasmusikkapellen erinnerte nicht zuletzt an traditionelle kirchliche Feiern, etwa die großen Fronleichnamsprozessionen. Auch das christlich-soziale Regime hatte sich ähnlicher Inszenierungsformen bedient und so ähneln sich die Bilder und die Berichte von Kanzler Kurt Schuschniggs (1897–1977) eilig anberaumter Visite in Innsbruck am 9. März 1938 und jene über Hitlers pompösen Besuch im Monat darauf frappierend.94 Eine Menge an Parteiund Staatsuniformen, Standschützenabordnungen und Fahnenmeere dominieren die überlieferten, geschickt inszenierten und teilweise auch retuschierten Bilder beider Ereignisse.95 Motive und Berichte waren, von einzelnen Dissonanzen abgesehen, beinahe austauschbar: „Unter das Braun und Schwarz der Parteiuniformen mischen sich die bunten Trachtengewänder aus allen Tälern Tirols“, hieß es in einem Bericht von Anfang April.96 Schuschniggs Spontanauftritt im Monat zuvor beschrieb der damalige Sicherheitsdirektor Anton Mörl (1883–1958) in seinen Memoiren ganz ähnlich: „Der Südtiroler Platz voll Schützenkompagnien und winkenden Leuten, die Maria-Theresien-Straße hinunter flatterten aus allen Fenstern weiße Taschentücher, selbst aus bekannten Nazi-Gastwirtschaften. Am Abend wurde der Kanzler von einer von Begeisterung tobenden Menschenmenge belagert, die ihn immer wieder auf den Balkon herausrief.“97 Neu waren nach dem „Anschluss“ jedoch Intensität, Dauer und Verbreitung der Veranstaltungen sowie die Qualität der multimedialen Kampagnen, die sie begleiteten. „Versammlungen, Film, Rundfunk und Zeitungen werden Euch Klarheit geben über unser Wollen, über Eure Zukunft“, hieß es in einem Pamphlet, das im Vorfeld der Abstimmung in Tirol verteilt wurde.98 Für manche klang hier die Drohung mit, für viele andere war es eine Verheißung. Der wochenlang andauernde, durchinszenierte Freudentaumel, gepaart mit den uferlosen Versprechungen der nationalsozialistischen Propagandisten, steigerte die Erwartungen der Parteigenossen, aber auch großer Teile der allgemeinen Bevölkerung, wohl ins Unermessliche. Verantwortlich waren nicht zuletzt die Ankündigungen in der in Windeseile „gleichgeschalteten“ Presse, die sofortigen wirtschaftlichen Aufschwung, ein rasches Verschwinden der Arbeitslosigkeit und eine „Blüte“ des heimischen Kulturlebens99 prophezeiten. Im Vorarlberger Tagblatt, dessen Herausgeber seit 1933 mit dem Nationalsozialismus sympathisierten, fasste Dr. Helmut Lanzl (1901– 2001), Pressebeauftragter der Ortsgruppe Dornbirn100 und späterer Ratsherr, den kulturpolitischen Claim der neuen Machthaber, der selbstverständlich nicht der antisemitischen Note entbehrte, zusammen: „Die nationalsozialistische Bewegung gibt die sichere Bürgschaft für die Förderung aller Zweige deutschen Lebens, so auch für die Förderung der Kultur und dafür, dass unter dem Willen des Führers das deutsche Geistesleben sich kraftvoll...


Nikolaus Hagen, Dr. phil., hat Geschichte und Anglistik an der Universität Innsbruck studiert. Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und Claims Conference Saul Kagan Fellow in Advanced Shoah Studies. Zuvor u.a. Research Fellow am Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies der Yale University und am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien, Fellow der European Holocaust Research Infrastructure und Projektmitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.


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