Hage | Was wir euch erzählen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 324 Seiten

Hage Was wir euch erzählen

Schriftstellerporträts

E-Book, Deutsch, 324 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4855-4
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Literaturgeschichte und Literaturkritik, brillant erzählt von einem Kenner und Liebhaber.

Volker Hage vermag es, Literaturkritik und literarische Analyse erzählerisch darzustellen. So sind eingängige Texte entstanden, in denen Werke und Autoren lebendig und facettenreich präsentiert werden, ganz gleich, ob es moderne Klassiker oder Zeitgenossen sind.
Die Begegnungen mit Schriftstellern zählen zu den journalistischen Höhepunkten seiner Tätigkeit als Redakteur. Immer wieder geht es Hage dabei um die Frage des autobiografischen Hintergrunds, der Mühsal des Schreibens und der Freude am fertigen Werk, der Krisen, Brüche und des Selbstverständnisses. Auch die Erfahrungen des Redakteurs im Umgang mit Schriftstellern fließen ein. Das macht die Porträts zu einem spannenden Spiegel der Wechselwirkung von Zusammenarbeit, Nähe und Distanz. Die Auswahl der Porträts zeigt die Vorlieben eines intimen Literaturkenners.

Mit Texten zu Gu¨nther Anders, Jurek Becker, Karen Duve, Richard Ford, André Gide, Christoph Hein, Monika Maron, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Bodo Kirchhoff, Erich Mu¨hsam, Brigitte Reimann, Bernhard Schlink, Sofija Tolstaja, Leon de Winter sowie Momentaufnahmen von Herta Müller, Daniel Kehlmann, Navid Kermani, Michael Kleeberg, Terézia Mora und Zeruya Shalev.
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DIE HEIMLICHE DICHTERIN
SOFJA TOLSTAJA
Die Ehe von Sofja und Leo Tolstoi war schon lange keine Privatsache mehr, war es vielleicht nie gewesen. Sie war eine Angelegenheit von größtem öffentlichen Interesse. Schon zu Lebzeiten wurde der Dichter zur Legende, wurde in Russland verehrt wie ein Heiliger, seine Prominenz stand der des Zaren kaum nach – was dem nicht unbedingt gefiel. Die letzte Station im Leben von Leo Tolstoi war eine Bahnstation. In Astapowo, mitten in der russischen Provinz, legte sich der 82 Jahre alte Dichter im November 1910 zum Sterben nieder. Zehn Tage vor seinem Tod war ihm gelungen, was er seit vielen Jahren angekündigt und sich immer wieder vergeblich vorgenommen hatte: seine Frau und das herrschaftliche Gut Jasnaja Poljana zu verlassen. Er floh vor den ewigen Streitereien, vor dem Misstrauen und der Eifersucht, vor den wiederholten Selbstmorddrohungen Sofja Andrejewna Tolstajas, mit der er seit nahezu fünfzig Jahren verheiratet war, und er floh das Luxusleben, dessen sich der Gottsucher und Propagandist des einfachen Lebens seit langem schämte. Er gehe fort, hatte er seiner Frau im Abschiedsbrief geschrieben, um »in Zurückgezogenheit und Stille« seine letzten Tage zu verbringen, und er bat sie, ihm nicht nachzureisen. Hohes Fieber hatte ihn gezwungen, seine Flucht mit der Eisenbahn in Astapowo abzubrechen. Nur wenige Wochen zuvor war der zeitlebens vor Kraft und Gesundheit strotzende Dichter noch auf seinem Pferd durch die Wälder geritten, nun erwartete er in einem fremden Bett den Tod, in einem kargen Zimmer, das ihm der Stationsvorsteher eilig zur Verfügung gestellt hatte. Die größte Moskauer Tageszeitung räumte die ganze erste Seite für die Nachricht von der Flucht frei. Das Blatt war sofort ausverkauft. Reporter, Fotografen und Kameramänner versammelten sich vor dem Bahnhofshaus. Die Angelegenheit entwickelte sich zu einem der ersten großen Medienereignisse der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg; es war ein Ereignis, das weit über Russlands Grenzen hinaus Beachtung fand. Um Unruhen und Menschenaufläufe zu verhindern, schickte die russische Regierung Ordnungskräfte zum Ort des Geschehens. Auch die Ehefrau reiste an, trotz aller Bitten: Die Redaktion der Moskauer Zeitung hatte ihr in einem Telegramm anvertraut, wo sich der Sterbende aufhielt. Und sie kam unverzüglich mit einem eigens gemieteten Sonderzug angereist und stand dann hilflos vor der Tür, schaute durchs Fenster, schon damals von Fotografen und den ersten Kameraleuten gnadenlos verfolgt. Zu ihrem Mann wurde sie erst vorgelassen, als er kaum noch bei Bewusstsein war. Die dem Vater ergebene Tochter Alexandra, Sascha genannt, sowie einer der Söhne, der Arzt und andere Vertraute waren der Meinung, so den Willen des Sterbenden am besten zu respektieren. Nach dem Tod von Leo Tolstoi wurde sie, Sofja Tolstaja, immer wieder als uneinsichtige und eigennützige, als hysterische Ehefrau hingestellt, die den großen Dichter und Sinnsucher in die Flucht, ja in den Tod getrieben hätte. Sie hatte das vorhergesehen und sogar ihrem Mann die Absicht unterstellt, »mit dem Geschick eines Schriftstellers die Zwietracht mit der Ehefrau zur Schau zu stellen und selbst als Märtyrer und Heiliger zu erscheinen«. Nicht umsonst gebe es die Legende von der Xanthippe, notierte sie wenige Wochen vor seinem Tod in ihrem Tagebuch, »auch mir schreiben törichte Leute diese Rolle zu«. Es gab aber auch andere Urteile über sie, so von Thomas Mann, der darauf verwies, dass immerhin sie es war, »die, ungeachtet ihrer beständigen Schwangerschaften und ihrer reichen Pflichten als Gutsherrin, Mutter und Hausfrau, Krieg und Frieden mit eigener Hand siebenmal abgeschrieben hat«. Auch wenn das vielleicht übertrieben sein mag: Heute existiert ein differenziertes Bild von Sofja Tolstajas Persönlichkeit und der höchst komplizierten Ehe. So ließ etwa der amerikanische Literaturkritiker und Schriftsteller Jay Parini 1990 in einer Romanbiographie Tolstojs letztes Jahr (die deutsche Ausgabe erschien 2008) sechs Zeitzeugen aus unterschiedlichen Perspektiven von der sich immer weiter zuspitzenden Krise berichten, vom Ehekrieg im Hause Tolstoi. Er hat die Dramatik dieses letzten Jahres in fiktiven Monologen umkreist. Auch der Ehefrau gibt Parini eine Stimme, sie darf sich ausgiebig gegen die Vorwürfe verteidigen, die sie daheim von ihrem Mann und anderen zu hören bekommt. Neben ihr kommen zu Wort: der Leibarzt, ein Sekretär, die Tochter Sascha, Tolstois aufdringlicher Freund Wladimir Tschertkow und behutsam auch Tolstoi selbst. Parinis Roman diente später als Vorlage für einen Spielfilm, der 2009 in die Kinos kam: The Last Station (so auch der Originaltitel des Romans); Christopher Plummer und Oscar-Preisträgerin Helen Mirren verkörpern darin das Ehepaar Tolstoi. Entschieden Partei für die Ehefrau ergreift eine umfassende Tolstaja-Biographie, die die Slawistin Ursula Keller und die Kunsthistorikerin Natalja Sharandak gemeinsam geschrieben haben. Ziel der Autorinnen ist es, die Aufmerksamkeit endlich auch auf das schriftstellerische Werk der Ehefrau Tolstois zu lenken. Dazu werteten sie kaum bekannte und bisher unveröffentlichte Texte in russischen Archiven aus: eine fundierte und höchst überzeugende Lebensdarstellung. Das bedeutendste der nachgelassenen Werke Sofja Tolstajas wurde 1994, mehr als hundert Jahre nach der Niederschrift, zunächst in Russland veröffentlicht, 2008 auch in deutscher Sprache: der Roman Eine Frage der Schuld. Die Verfasserin hatte ursprünglich diesen Titel im Sinn: »Wessen Fehl? Die Erzählung einer Frau. (Anlässlich der Kreutzersonate Lew Tolstois.) Niedergeschrieben von der Gattin Lew Tolstois in den Jahren 1892?/1893«. Den Roman zu veröffentlichen, traute sie sich nicht. Geschildert werden kaum verhüllt die frühen Jahre der Ehe mit Tolstoi. Von »Scham und Abscheu vor den fleischlichen Gelüsten des Fürsten« ist die Rede, wenn es um die frisch verheiratete Heldin Anna geht – später beschließt die Ehefrau im Roman, »ihre Ideale der Keuschheit kurzerhand aufzugeben« und »Mittel« einzusetzen, mit denen sie den Fürsten, der hier Prosorski heißt, an sich binden will. »Von diesen Mitteln hatte sie nur eine dunkle Ahnung, sie waren ihr zuwider, doch was bot sich ihr denn Besseres?« Der Ehemann jedenfalls ist der jungen unerfahrenen Anna keine Hilfe gewesen: »Nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, ihr zunächst jene Seite des Liebeslebens näherzubringen, der er bei den Hunderten von Frauen, mit denen er es bisher zu tun gehabt hatte, auf so vielfältige Weise zu begegnen gewohnt war.« Aus Liebe wird Hass. Annas Erkenntnis: »Nichts und niemanden braucht er: weder die Kinder noch mich. Nichts an unserem Leben interessiert ihn. Mich braucht er nur als Gegenstand. Und dass bloß seine eigene Liebe nicht verletzt wird!« Eine Frage der Schuld ist ein schonungsloser Roman. Sofja Tolstaja hatte schon in ihren Mädchenjahren Erzählungen und (seit ihrem elften Lebensjahr) Tagebuch geschrieben, alles aber vor der Hochzeit im Jahr 1862 verbrannt, was sie später sehr bereute. Der um die 18-jährige Arzttochter werbende adlige Tolstoi, selbst damals 34, war bereits ein anerkannter Schriftsteller, lange bevor er Krieg und Frieden und Anna Karenina schrieb – und die junge Ehefrau wollte ihn fortan bei seiner Arbeit unterstützen und ihm »dienen«. Sie begann an seiner Seite ein neues Tagebuch, das sie ein halbes Jahrhundert hindurch weiterführte – parallel zu dem ihres Mannes, der ebenfalls ausführlich das gemeinsame Leben protokollierte. Beide Tagebücher sind ediert. Die seinen umfassen die Jahre von 1874 bis 1910, ihre die von 1862 bis 1910. Nicht selten werden dieselben Eheszenen aus unterschiedlicher Perspektive geschildert: Das erübrigt im Grunde jeden Roman über diese Ehe. Als sie vierzig Jahre verheiratet waren, schrieb Sofja Tolstaja in ihr Tagebuch: »Er nimmt von seiner Umgebung nur das, was seinem Talent, seiner Arbeit dienen kann. Alles andere weist er ab. Von mir zum Beispiel nimmt er meine Arbeit des Abschreibens, meine Sorge um sein leibliches Wohl, meinen Körper …« Und sie klagt: »Mein ganzes geistiges Leben ist für ihn ohne Interesse, und er hat keine Verwendung dafür – denn er hat sich niemals die Mühe gemacht, es zu verstehen.« Sie zieht ein bitteres Fazit: »Es tut mir schrecklich weh – und dennoch verehrt die Welt einen solchen Mann.« In seinen literarischen Texten hat Tolstoi mit autobiographischen Details nicht gespart, häufig zum Verdruss seiner Ehefrau. Und so ist ihr spät publizierter Roman Eine Frage der Schuld (deutsch in einer schönen, sorgfältig edierten Ausgabe bei Manesse) eine verzweifelte Reaktion und eine unverblümte Antwort auf einen der bekanntesten Texte Tolstois, auf die furiose und verstörende Kreutzersonate. Die Erzählung entstand 1889, nach 27 Ehejahren, und war Wutschrei und Selbstanklage gleichermaßen – dargeboten als fiktive Beichte eines Mannes, der zum Mörder seiner eigenen Frau geworden ist. Der Protagonist der Kreutzersonate, der die Mutter seiner fünf Kinder aus wahnhafter Eifersucht erdolcht hat, zeigt in seiner Beichte ein Frauenbild, das zur Zeit der Niederschrift auch in der russischen Gesellschaft obsolet war. Einer Ehefrau, so spricht dieser Psodnyschew, sollte allein das Wohl der Familie am Herzen liegen, sie müsse sich versagen, im Manne die »stärkste,...


Hage, Volker
Volker Hage, geb. 1949 in Hamburg, arbeitete von 1975 an als Literaturredakteur bei der »Frankfurter Allgemeinen«, der »Zeit« und zuletzt beim »Spiegel«. Nach seiner Redaktionstätigkeit hat er zwei Romane publiziert: »Die freie Liebe« (2015) und »Des Lebens fünfter Akt« (2018), eine Romanbiografie über den späten Arthur Schnitzler. Er ist Autor von Monografien und literaturtheoretischen Werken sowie Herausgeber von zahlreichen Anthologien und Auswahlbänden. An deutschen und amerikanischen Universitäten war er als Gastprofessor tätig.


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