Tamara Hope und der Fremde
E-Book, Deutsch, 340 Seiten
ISBN: 978-3-8482-6603-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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11. KAPITEL:
WEIT IST DER WEG ZU TAMARA
Oder: Was lange währt, ist auch nicht schlecht. Wann aber habe ich Tamara denn nun endlich wirklich getroffen? Einmal musste es ja geschehen. Es geschah auch, ganz plötzlich. Gänzlich unerwartet, wie es eben so oft im Leben kommt. Fast nie passiert etwas so, wie man es erwartet; noch weniger so, wie man es sich vorstellt. Wie kam es nun zu der Begegnung? Eines Tages erhielt ich in meinem, mir inzwischen von den Lingufaschisten eingerichteten Privatzimmer in der Uni von Zehnwortsatzingen einen Anruf: Eine bekannte Frauenstimme meldete sich. Ob ich nicht Lust hätte, mich mit ihr zu treffen, fragte sie lapidar, aber fröhlich. War das wirklich Tamara, oder nur ein Scherzanruf? Ich zuckte zusammen. So lange hatte ich ihrer Ankunft entgegengefiebert, und auf einmal kam meine ferngeliebte Zehnwort-Propagandistin so blitzartig wie ein Wirbelwind über mich! Vorerst aber leider nur maschinell, per Telefon. Ich war in einzigartiger Hochstimmung, konnte es gar nicht glauben, dass sich die Zehnwortherrscher endlich anschickten, ihr Versprechen einzulösen! Es war abgemacht, dass der erste Kontakt zwischen mir und Tamara gleich erfolgen sollte, sobald ich meine Arbeit aufgenommen hätte. Nun hatte ich schon länger angefangen, mein Werk zu schreiben, allerdings war das, was ich bisher geleistet hatte, kaum der Rede wert, das gebe ich unumwunden zu. Aber was soll ich noch sagen – nun war der große Augenblick gekommen! Mein Herz raste vor Aufregung. Wir verabredeten uns im Park von Zehnwortsatzingen, unter dem Wahrzeichen der Stadt, einem riesigen „Z“; das war ein aus Granit gehauenes Ungetüm. Genau zehn Meter hoch ragte der nachts silbern leuchtende Buchstabe in den Himmel, weil er funkenumsprüht, farblich changierend, angestrahlt wurde. Auf höchst banale Weise kamen wir zwei Wesen aus zwei verschiedenen Welten also zusammen: Kein romantisches Vorgeplänkel nach dem Vorbild der billet-doux-Schreiber aus Balzacscher Zeit. Nur durch den geheimen Treffpunkt war mir ein letzter Rest von romantischem Zauber verblieben, wenn ich Tamara wirklich im Park treffen würde. Ich fragte mich zuerst, was sie sich wohl dabei gedacht hatte. Oder vielmehr: Was diejenigen sich dabei dachten, die sie auf diese Weise zu mir schickten. Doch letzten Endes mahnte ich mich selber, dass man bereit sein musste, vorgefertigte, irdische Denkmuster zu verlassen, wollte man mental wirklich ganz und gar in die Gedankenwelt der Zehnwortianer eindringen, und vor allem auch: Darin bleiben. Ich hatte mich als Erster unter dem auf einem terrassenförmig erhöhten Marmorsockel thronenden, großen „Z“ eingefunden, ein Ort, den ich überraschenderweise vorher nie besucht hatte. Um Punkt 10 Uhr mittags war unsere Verabredung, und weit und breit war noch keine Tamara zu sehen. Kein Wunder, es war ja auch noch keine zehn Uhr. Fremde Zehnwortianer flanierten um mich herum. Die süße Stimme in meinem zehnwortgeschulten Ohr vorhin am Telefon hatte es mir wieder einmal angetan: Am ganzen Körper zitternd wartete ich ungeduldig auf unsere erste Begegnung. Ein bisher künstliches Fabelwesen würde nun zum ersten Mal Gestalt für mich annehmen. Unruhig trat ich wie ein armer Zehnwortsünder von einem Fuß auf den anderen und vollführte dabei das reinste Fußballett. Würde sie wirklich so aussehen wie auf dem Foto, das ich von ihr gesehen hatte? Allmählich wurde ich schon von argwöhnischen Zehnwortianern gemustert, die mich vermutlich für einen Straßenkünstler hielten. Einige fingen dann auch wirklich damit an, mir für meine vermeintlichen Darbietungen Münzen zuzuwerfen. Ich hob sie dankend auf und kam auf diese Weise zu meinem ersten zehnwortianischen Geld. Eine Frau, die nur fünf Münzen mir zu Füßen hat gleiten lassen, wurde gleich von einem herbeieilenden Parkwächter am Arm gefasst und ermahnt, fünf weitere folgen zu lassen. „Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit, Sie ... komischer Clown!“, rief die arme Frau mir verächtlich zu, als die Nachzahlung klimpernd auf meinem Marmorsockel eintraf. Sie tat mir Leid, so wie sie dastand wie ein begossener Pudel, und dem Parkwächter zischte sie zu: „Jetzt übertreiben Sie es aber wirklich mit Ihrer pedantischen Zehnergenauigkeit“, und sie streckte ihm einen Zeigefinger vor. Der Parkwächter zog die Stirn kraus. „Bitte strecken Sie mir zehn Finger entgegen oder gar keinen“, ermahnte er die Frau missbilligend. Glotzende Passanten lachten. Endlich gab es mal was Kurioses zu sehen, das nicht vorprogrammiert war von der staatlichen Propagandamaschine. „Bei den anderen Spendern haben Sie nicht so genau hingeschaut“, warf sie ihm klagend vor. „Warum haben Sie nur mich so martialisch ins Visier genommen?“, fragte sie schimpfend. „Die anderen Spender haben alle nicht so viele Münzen gegeben“, sagte sie. „Wenn schon, dann muss dieses komische Zehnergesetz für alle gelten“, führte sie ihre Beschwerde zu Ende, und wollte sich einige Münzen wieder nehmen, die mir zu Füßen gepurzelt waren. Ich konnte die Frau gut verstehen, und hielt ihr sogar hilfsbereit einige extra hin, doch daran hinderte mich der pedantische Parkwächter. „Wagen Sie es nicht, unser Zehnwortgesetz in Frage zu stellen!“, riet mir der polizeiliche Fanatiker, und fasste mich drohend am Arm. Dadurch ließ ich die Münzen wieder zu Boden fallen, und die Frau hob sie schnell auf und machte sich gehetzt davon. Sofort setzte ihr der Parkwächter heftig fluchend nach und schwang im Lauf seinen langen Knüppel. War ich gefasst auf ein baldiges, gewaltsam unterdrücktes Ende der kühnen Flucht meiner aufsässigen Spenderin, so trat unversehens das Gegenteil ein: Kleinere Gruppen anderer aufgebrachter Bürger formierten sich unmerklich zu einem größeren Cluster von Widerstand Leistenden, welche ihre neue Protesthaltung an dem brüsk gestoppten Parkwächter ausprobierten, auf den sie sich drohend zu bewegten. Schon sah er sich zu seinem Leidwesen von einer Buh rufenden Meute umringt und wusste nicht, nach welcher Seite ausbrechen. Das Gesehene gab mir zuerst einen freudigen Stich im Herzen, gefolgt von einem wohligen Kitzel im Gaumen: Sollte sich da etwa am Horizont der so lange eingeschüchterten Bürgerseele eine geheime Widerstandsbewegung gegen die seltsamen Zehnwortallüren der Herrscher zusammenbrauen, von der ich gerade Zeuge war? Könnte ich in meiner Winzigkeit zum Beginn eines eigenen Bürgersinns samt nachfolgenden Aufstandes der Massen beigesteuert haben? Sollte ich mir wirklich Derartiges wünschen? Sollte ich mich darüber nicht eigentlich freuen? Seltsamerweise war dem plötzlich nicht so, vor allem, weil ich das Zurückschlagen der Staatsgewalt fürchtete, mit schrecklichen Folgen für die Aufsässigen. So unglaublich das klingen mag für die Leser dieses einzigartigen Berichts, wünschte ich mir spontan eine allseitige, friedliche Beilegung des schwelenden Konflikts. Vermutlich schon um meiner eigenen Sicherheit halber. Außerdem stand meine Erstbegegnung mit meiner geliebten Tamara Hope auf dem Spiel, wenn jetzt alles zusammenbrechen sollte. Diese wenig zufriedenstellende Mutmaßung mochte mein Urteilsvermögen entscheidend beeinflusst haben, vielleicht sogar getrübt, das gebe ich offen zu. Aber vielleicht handelte es sich bei dieser Protestgruppe nur um einen Einzelfall, der keineswegs richtige Aufstände gegen die Regierung nach sich ziehen würde? Das immerhin wollte ja auch bedacht sein! Dem Parkwächter, dem in der Zwischenzeit von der wütenden Menge vielerlei Vorhaltungen gemacht worden waren, ging schnell die Puste aus, die er gebraucht hätte, um an die staatliche Ordnung zu gemahnen, und sie notwendigenfalls auch unter Einsatz seiner ganzen Autorität aufrechtzuerhalten. „Wieso müssen wir uns eigentlich von euch alles gefallen lassen?“, nahm ein Protestierender den Parkwächter, immerhin noch im korrekten Zehnwortsatz, ins Gebet. Der Uniformierte war schon zu bedrängt und eingeschüchtert, um sich zur Wehr zu setzen. „Ja, wir haben allmählich eure Tyrannei mit dem Zehnwortsatz satt!“, sprach mit viel Verbitterung in der Stimme, ein anderer auf den Parkwächter ein. Dass auch er dabei nicht vom korrekten Zehnwortsatz Abstand nahm, war ein Beleg dafür, dass der Respekt vor der staatlichen Autorität nicht völlig geschwunden war. Ich, befangen in meiner feigen und schändlichen Begierde für Tamara Hopes Anwesenheit, war eher bereit, einen möglichen, spontanen allgemeinen Aufstand doch lieber meinen Privatinteressen zu opfern, wie ich beschämend und konsterniert konstatieren musste. So zog ich es vor, die Menschen zur Vorsicht und zur Umsicht zu ermahnen. Die mich erkannten, begrüßten mich freundlich und hörten auf meine Stimme, und zerstreuten sich. Der andere, martialischere Belagerungspulk hielt sich auch nicht viel länger; bald lösten sich die Proteste in alle Winde auf. Bestimmt war es...