Grundlagen, Begutachtung, Interventionen im Erwachsenen-, Jugendlichen- und Kindesalter
E-Book, Deutsch, 847 Seiten
ISBN: 978-3-95466-724-6
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dem Basiswissen zu Erstellung, Verfassen und Vortrag von Gutachten folgen praxisnahe Beiträge aus Recht und Medizin zu Begutachtung, Behandlung und Prognose. Dazu gehören auch die diagnostischen Standards wie die Interventions- und Behandlungskonzepte der Forensischen Psychiatrie.
Einmalig ist die Herangehensweise der Betrachtung der strafrechtlichen Verantwortung bei speziellen Delikten einerseits und der forensischen Relevanz spezieller Störungen andererseits. Die einzigartige integrierte Darstellung der forensischen Psychiatrie des Erwachsenen- wie auch des Kindes- und Jugendalters, der Rechtsmedizin und Rechtspsychologie eröffnet den Blick auf die Besonderheiten der Nachbardisziplinen.
Die Neuauflage des umfassenden Standardwerks wurde um zahlreiche neue Themen wie die Forensische Psychiatrie im internationalen Vergleich, die Grundlagen der Verkehrsmedizin, rechtsmedizinische und rechtspsychologische Erörterungen, Testierfähigkeit, neurobiologische Aspekte und vieles mehr ergänzt.
Das Grundkonzept, sowohl der wissenschaftlich interessierten als auch der praxisorientierten Leserschaft ein ausgewogenes, fundiertes und trotz seines Umfangs handhabbares Nachschlagewerk an die Hand zu geben, wurde in dieser Neuauflage vervollkommnet.
Zielgruppe
Psychiater; Psychologen; Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater; Juristen (Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Richter), Kriminologen; Pädagogen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen; Mitarbeiter in Strafvollzug, Bewährungshilfe, Jugendgerichtshilfe und der Polizei, Studierende der genannten Fachgebiete
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Zur Geschichte der forensischen Psychiatrie
Kathleen Haack
1.1 Vorbetrachtungen
Die Ansicht, dass psychisch kranke Menschen, die eine Straftat begangen haben, nicht in gleicher Weise beurteilt werden dürfen wie psychisch gesunde, durchzieht die Menschheitsgeschichte seit weit mehr als tausend Jahren. Gleiches gilt für Kinder und mit Einschränkungen auch für Jugendliche. Schon der babylonische Codex Hammurabi (um 1750 v. Chr.) sah Strafmilderung vor. Sowohl von germanischen Volksrechten als auch vom römischen Recht sind solche Regelungen überliefert. Das bedeutendste Rechtsbuch des Mittelalters, der aus dem 13. Jahrhundert stammende Sachsenspiegel, betonte, dass Geisteskranke sich nicht strafbar machen, Kinder durften nicht zum Tode verurteilt werden. Für Jugendliche hingegen galten keine gesonderten Straftatbestände. Die von Karl V. initiierte Constitutio Criminalis Carolina aus dem Jahre 1532 sah in Anwendung des Artikels 179 „jemandt, der jugent oder anderer gebrechlichkeyt halben, wissentlich seiner synn nit hett“ Strafmilderung vor. Auch Geisteskranke fielen hierunter. Hintergrund war die Auffassung, dass Straftäter, die die Mündigkeit noch nicht erreicht hatten, nicht vernunftbegabt und demgemäß gar nicht in der Lage waren – ebenso wie „Wahnsinnige“ – vernünftig zu handeln. Eine solche Ansicht ist nachvollziehbar und plausibel. Sie wirft jedoch zwei Problemkreise auf: Was heißt es, innerhalb eines historischen Kontextes erstens nicht volljährig und zweitens psychisch krank zu sein oder ganz und gar einer Kombination von beidem zu unterliegen? Die Antworten hierauf müssen zwangsläufig vielschichtig ausfallen, denn beide Phänomene waren im Laufe der Geschichte einem steten Wandel unterworfen. Sie sind es noch immer. Zudem ist es gar nicht möglich, ein Verständnis des Menschen, der das Recht verletzt, nur von einer Wissenschaft aus zu gewinnen. Dazu war und ist die Beschäftigung mit abweichendem Verhalten zu komplex. Neben medizinischen und juristischen Einflüssen bestimmten auch philosophische, anthropologische, theologische und im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie natürlich pädagogische Ideen den Diskurs über deviantes Verhalten. Ein Rückblick auf die Geschichte der Psychiatrie und ihrer Subdisziplinen kann somit kein rein wissenschaftshistorischer sein, sondern schließt notwendigerweise kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte ein. 1.2 Kindheit als Phänomen und Forschungsgegenstand
Obwohl unser Wissen über die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in der Geschichte noch immer sehr gering ist, lassen sich seit dem 16. Jahrhundert Tendenzen einer Abgrenzung dieser Lebensphase erkennen. Kindern und Jugendlichen wurde nun zunehmend eine eigene biografische Identität zuerkannt. Die Einstellung zum individuellen Körper – so auch zu dem des Kindes – änderte sich. Eine medizinisch-pädagogische Ratgeberliteratur entstand in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Spielzeug kam auf, in öffentlichen Schulen bildeten sich Jahrgangsklassen heraus. Kinder und Jugendliche wurden nun als Wesen begriffen, deren Reife in ihnen selbst angelegt war. Durch vernunftgeleitete Erziehung kam diese zum Tragen. Der erste Höhepunkt einer solchen Entwicklung lässt sich für das 18. Jahrhundert konstatieren. Erinnert sei an Jean-Jaques Rousseaus (1717–1778) im Jahr 1762 erschienen epochalen Roman „Emile oder Über die Erziehung“. In ihm plädierte der berühmte Philosoph dafür, Kindheit nicht mehr nur als notwendiges Durchgangsstadium zum Erwachsensein anzusehen. Dieser, von einer bürgerlichen Welt getragene „Schutzraum Kindheit“ schloss von vornherein jedoch viele von ihnen aus. Kinderarbeit, ein Leben auf der Straße und häufig damit einhergehende Kriminalität, gehörten durchaus zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. Und auch heutzutage scheinen die scharfen Trennungslinien zwischen Kindern und Erwachsenen eher wieder zu verblassen. Neil Postmans (1931–2003) postuliertes „Verschwinden der Kindheit“ wird, wenn auch unter differenzierteren Vorzeichen, durchaus als Phänomen beobachtet und anerkannt. Doch eines bleibt festzuhalten: Spätestens seit dem 17. Jahrhundert nahm das Interesse an den frühen Lebensphasen zu. Die Wissenschaft begann, sowohl den Menschen insgesamt als „erfahrbares“ geschichtliches Individuum (anthropologisch-psychologischer Empirismus) als auch das Subjekt Kind bzw. Jugendlicher im Besonderen als „Forschungsgegenstände“ zu begreifen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war es zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften gekommen. In diesem Kontext bildeten sich u.a. die Pädagogik sowie die Psychiatrie als eigenständiges Fachgebiet der Medizin heraus. Wichtigste Bezugswissenschaft beider war die Anthropologie, die im Grenzbereich zwischen Philosophie, Medizin und Naturkunde die komplexen Regulationen zwischen Körper und Seele untersuchte. Als eine der universellsten Wissenschaftsgattungen des 18. Jahrhunderts ging es der Anthropologie um die Ausarbeitung und Tradierung von Theorien über den Menschen. Es kam zu einer zunehmenden Fokussierung und Ausdifferenzierung des Subjekts. Sowohl dessen physische als auch psychisch-moralische Natur galt es zu erforschen; im Falle der Pädagogik die des Kindes, im Falle der Psychiatrie, die des seelisch kranken Menschen. Beide Disziplinen gingen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zunächst getrennte Wege, sodass das erste Jahrhundert der modernen Psychiatrie im Prinzip keine Spezialisierung für den Bereich der Kinder und Jugendlichen kannte (auch die Kinderheilkunde bildete sich erst ab Ende des 19. Jahrhunderts heraus). Speziell eingerichtete Anstalten, in denen Kinder zumeist unter dem unspezifischen Sammelbegriff der Idiotie betreut wurden, wurden zunächst von Pädagogen oder Theologen geleitet. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erste Bemühungen von psychiatrischer Seite. Adolf Albrecht Erlenmeyer (1822–1877) war der erste Psychiater in Deutschland, der eine Anstalt für geistig behinderte Kinder gründete und leitete. Dennoch blieb das Wissen über die Spezifik psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in den folgenden Jahrzehnten ein beinahe weißer Fleck. Hermann Emminghaus (1845–1904), der 1887 die erste lehrbuchartige Darstellung der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgelegt hatte, stellte resigniert fest: „dass ein vom Erwachsenen ausgehendes Denken es unmöglich mache, die spezifischen Charaktere der Kindheit wahrzunehmen. Im Gegensatz zum Erwachsenen, dessen Stärken im Bereich der Einsicht und Vernunft lägen, würden Kinder andere positive Eigenschaften haben, die er nicht einmal benennen könne.“ (zit. nach Fegert 1986: 135). Es sollte dem 20. Jahrhundert vorbehalten bleiben, den weißen Fleck (die terra incognita) Kinder- und Jugendpsychiatrie und erst recht ihre forensische Subdisziplin mit Farbe zu füllen. Aber immerhin hatten Psychiater zu diesem Zeitpunkt schon beinahe 100 Jahre Erfahrung mit psychisch kranken Straftätern. 1.3 Auf dem Weg zur Herausbildung der forensischen Psychiatrie
Systematische Forschungen zum Umgang mit psychisch kranken Straftätern vor dem 19. Jahrhundert gibt es kaum. Bekannt ist, dass für unzurechnungsfähig erklärte Delinquenten meist in ihren Familien lebten. Und auch bei Kindern und Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen, muss man davon ausgehen, dass ihre Angehörigen die entsprechende Aufsicht übernahmen. Waren diese mit der Situation überfordert, konnten auffällig gewordene Geisteskranke in Zucht-, Arbeits- und Tollhäusern bzw. in Hospitälern untergebracht werden. Die dortige Klientel war eine bunt gemischte und reichte von „liederlichen Leuten“ über trotzige und ungehorsame Kinder bis hin zu Schwerverbrechern. Bei der Behandlung stand der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Durch Arbeit und Unterricht in geistlichen Angelegenheiten sollten die Insassen zu „anständigen Leuten“ erzogen werden. Obwohl es Belege über Exekutionen von Kindern und Jugendlichen noch bis ins 18. Jahrhundert hinein gibt, kann man davon ausgehen, dass in den meisten Fällen strafmildernd vorgegangen bzw. die Verfahren gänzlich eingestellt wurden. So ist beispielweise von einem zwölfjährigen Mädchen aus Zürich überliefert, dass sie auf Veranlassung des bösen Geistes, welcher ihr als schwarzer Hund erschienen war, ein Haus in Brand gesteckt hatte. Aufgrund ihres Alters und des zweifelhaften Gemütszustandes wurde sie für unzurechnungsfähig erklärt und 1659 ins Hospital eingeliefert. Dort wurde sie in der Kindbettstube versorgt und von Geistlichen unterrichtet (Zürcher 1960: 38). Seit dem 17. Jahrhundert ist die Tendenz zu erkennen, neben klerikalen Einrichtungen auch landesherrschaftliche Hospitäler einzurichten. Sie besaßen stets einige Räume für Geisteskranke und können u.a. als Vorläufer spezifischer Heil- und Pflegeanstalten für psychisch Kranke angesehen werden. Diese waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts in allen Ländern des Deutschen Reiches entstanden und gründeten auf der Idee, dass jeder Mensch dem Wahnsinn anheim fallen könne und es eine besondere Fürsorgepflicht, verbunden mit dem Versuch der Heilung, gegenüber diesen „Unglücklichen“ gebe (Vanja 2008). Erste psychiatrische Heilanstalten, wenig später um den Begriff der Pflegeanstalt ergänzt, entstanden in Bayreuth, Neuruppin, Sonnenstein/Pirna und Siegburg. Es erwuchs der „Erfahrungsraum Psychiatrie“, in denen der Arzt als Direktor „väterlicher Freund“ und „guter Psychologe“ sein sollte. Dieser...