E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Reihe: Hanna Hemlokk
Küsten Krimi
E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Reihe: Hanna Hemlokk
ISBN: 978-3-96041-102-4
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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EINS Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Mord und Totschlag lagen anfangs in weiter Ferne, stattdessen sah es lediglich nach ein bisschen Hilfe für engagierte junge Leute aus, denen ich mit meiner langjährigen Erfahrung als Privatdetektivin unter die Arme greifen sollte. Das war auch schon alles. Der Fall schien weder besonders knifflig zu sein noch irgendwelche ermittlungstechnischen Raffinessen zu erfordern. Nein, mit Geduld und Spucke sowie einer einigermaßen soliden Ermittlungsarbeit würde man schon ans Ziel kommen. Genau so sah es aus. Ein Klacks also eigentlich. Tja, so kann man sich täuschen. Denn in diesem Fall ging es um alles: um Geld, viel Geld, um einen Beinahe-Mord, um Hinterlist und Heimtücke sowie um ein gerütteltes Maß an Verzweiflung, sodass es kein Wunder war, dass ich dabei körperlich und seelisch an meine Grenzen stieß. Doch das alles wusste ich natürlich nicht, als Krischan, Jana und Philipp an einem sonnigen Septembernachmittag bei mir hereinschneiten und die Geschichte ihren Anfang nahm. Ich fütterte gerade den noch verbliebenen vierköpfigen Nachwuchs meines griechischen Landschildkrötenpaares – zwei Minis hatte ich kürzlich mit gemischten Gefühlen in die vertrauenswürdigen Hände einer Bekannten aus meiner Feuer-&-Flamme-Kochgruppe gegeben –, während ich angestrengt darüber nachgrübelte, wie man heutzutage wohl Blaublüter korrekt anredet. Baronesse? Herr Graf? Eure Fürstliche Hoheit? Oder sagt man im 21. Jahrhundert ganz einfach Herr von Schlagmichtot zu so einem Erlauchten? Keine Ahnung. Alles klang in meinen bürgerlichen Ohren verdammt nach Courths-Mahler, wo das Antlitz der liebreizenden Unschuld vom Lande stets hold und süß ist, die roten Rosen glühen und blühen, bis das Blattwerk qualmt, und sich der adlige Held an ihren Lippen satt küsst. Himmel, Arsch und Wolkenbruch, was für ein Gesülze! Ich warf sicherheitshalber nach den ausnahmsweise spendierten leckeren, aber ungesunden Bananenstückchen doch noch ein paar verdauungsfördernde Blätter Löwenzahn, die ich frisch von Silvias Wiese geklaut hatte, in das Terrarium der Lütten. Wer es noch nicht weiß: Silvia ist eine Kuh und, seit ich in meiner Anderthalb-Zimmer-Villa lebe, meine Nachbarin von gegenüber. Wir kommen wunderbar miteinander aus. Keine überhängenden Zweige gefährden unser freundschaftliches Verhältnis, keine nächtliche Blasmusik entzweit uns. Sie muht hin und wieder wie ein asthmatischer Trecker über den Passader See. Na und? Mich stört es nicht, ich finde es schön. Nachdenklich betrachtete ich Marga, Theo, Johannes und Harry, die nach ihren Paten genannten mittlerweile knödelgroßen Kröten, die sich so eifrig auf das Grünzeug stürzten, als hätten sie nicht soeben ihre Banane verschlungen, sondern seit Monaten gedarbt. Hieß so ein waschechter Freiherr oder Herzog heute eigentlich immer noch zwingend mit Vornamen Clemens Otto oder Eberhard Johannes? Oder existierten auf den Schlössern, Burgen und Herrenhäusern Europas mittlerweile schon ein paar Dennisse, Bens und Tims? »Graf Tim«, sagte ich probehalber laut. »Baron Dennis, Edle von Mandy.« Na ja, wohl eher nicht. Aber ich hatte auch in diesem Fall keine Ahnung, obwohl ich bekanntlich im Nebenjob als Tränenfee arbeite und Liebesgeschichten – ich, und nur ich!, nenne sie wahlweise Schmalzheimer oder Sülzletten – für die Yellow Press fabriziere. Davon kann und muss man leben, wenn man im Detektivgewerbe immer noch nicht zu den absoluten Spitzenkräften gehört. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich bin gut, sehr gut sogar, doch was das Finanzielle angeht, sahnt man bei den dicken Fischen in Berlin, Hamburg oder München nun einmal ein klitzekleines Stück mehr ab als im ländlichen Bokau mit doch eher bescheidenen Einkommensverhältnissen. Da gibt es kein Vertun. Und weil das so ist, hatte ich den Vorschlag meiner Agentin, es doch einmal mit einem Adelsroman zu versuchen, zähneknirschend angenommen. Zumal sie mir in den höchsten Tönen von dem nach wie vor ziehenden Glamourfaktor der Aristokratie vorgeschwärmt hatte. Noblesse oblige, hatte sie gezwitschert. Adel verpflichtet, immer noch. Worauf mir prompt dieser ehemalige Bundeswehr-Baron einfiel, der keine Talkshow ausgelassen und als ungemein cool, volksnah und gewandt gegolten hatte. Was zählt da schon so eine stinkbürgerliche Doktorarbeit, bei der er nach Strich und Faden getürkt hat? Nix offenbar. Oder dieser immer mal wieder austickende, um sich schlagende und an öffentliche Pavillons pinkelnde Hohenzollernprinz. Der hieß auch so erdenschwer-doppelnamig. Ich wedelte in Gedanken versunken mit einem weiteren Löwenzahnblatt im Terrarium herum. Genau, Ernst August. Na ja, dafür konnte der Arme ja nichts, was für sein rabaukiges Verhalten allerdings nicht galt. Auf jeden Fall beschloss ich, meinen adligen Papierhelden mit einem Vornamen zu versehen, der in direkter Linie auf Siegfried und die Nibelungen zurückging. Sicher ist schließlich sicher, ein Grundsatz, der nicht nur im Ermittlungs-, sondern auch im Sülzheimer-Gewerbe gilt. Als ich an diesem Punkt meiner Überlegungen angekommen war, quietschte die Gartenpforte. Ich erwartete niemanden und ging deshalb neugierig zur Tür. Eine leibhaftige Gräfin, die ich nur stotternd und ohne formvollendeten Knicks begrüßen konnte, würde es schon nicht sein. »… er heißt Gustav und sie Hannelore. In diesem Sommer hat sie sechs Eier gelegt, und aus allen ist etwas geschlüpft. Oh, hallo, Hanna. Wir stören doch hoffentlich nicht?« Krischan bewohnte mit meiner Freundin Marga zusammen das Haupthaus, das etwa hundert Meter von meiner Villa entfernt Richtung Bokauer City lag. Der Junge war um die zwanzig und lebte dort allein. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als »Mann für alle Fälle«, was kein anrüchiges Gewerbe war, sondern ein eher bodenständiges. Im Sommer schnitt er für jedermann Hecken, mähte Rasen, grub Beete um, und im Winter beseitigte er Schnee und Eis von Bürgersteigen und Zufahrten. Krischan war groß, knochig und schlaksig und kam mir manchmal vor wie ein verwaister Welpe. Ich kannte ihn lediglich flüchtig, trotzdem mochte ich ihn. »Moin, Krischan«, begrüßte ich ihn daher freundlich. »Und nee, ihr stört nicht. Ich habe gerade die Krötenbrut gefüttert.« Meinen Kampf mit dem Adel verschwieg ich, da ich nicht annahm, dass mir einer von dem Trio in dieser Hinsicht weiterhelfen konnte. Denn Krischan war, wie gesagt, nicht allein gekommen. Ein blutjunges Mädchen und ein vielleicht Siebzehn-, Achtzehnjähriger begleiteten ihn. Ich kannte beide nicht näher, hatte sie jedoch bereits im Dorf, in Inge Schiefers Restaurant oder bei Bäcker Matulke, gesehen. Sie mussten im Neubaugebiet wohnen. »Das sind Jana und Philipp«, stellte Krischan die beiden vor. »Hallo«, grüßten sie höflich. Ich nickte ihnen zu. »Hanna Hemlokk. Kommt rein. Ihr wollt bestimmt einen Blick auf die kleinen Schildkröten werfen, stimmt’s?« Natürlich wollten sie das. Deshalb waren sie schließlich hier, denn meine Zucht erfreute sich in Bokau einer gewissen Berühmtheit. Dachte ich zumindest. »Ja, danke«, sagte Krischan brav. Während das Trio sich vor dem Terrarium postierte, zauberte ich rasch einen Earl Grey. Mit den Besuchern war meine zweiundvierzig Quadratmeter große Villa rappelvoll, ein weiterer Gast hätte auf dem Klo Platz nehmen müssen. Doch dafür stand mein Heim allein und direkt am Passader See. Klein, aber fein halt. Ich hätte mit niemandem tauschen mögen. Als der Tee fertig war, dirigierte ich die drei auf mein rotes Sofa, schenkte ihnen ein und setzte mich selbst in den Schaukelstuhl. »Äh … möchte einer von euch vielleicht einen Spritzer Zitronensaft zum Tee? Oder Süßstoff?«, fragte ich irritiert, als niemand etwas sagte. Was war denn mit der Jugend von heute los? Ich genoss zwar als Privatdetektivin im Dorf und in der Umgebung mittlerweile einen Ruf wie Donnerhall, doch derart furchteinflößend, dass es einem in meiner Gegenwart komplett die Sprache verschlug, war ich eigentlich nicht. »Süßstoff wäre schön«, murmelte das Mädchen zögernd. Ich holte das Gewünschte, setzte mich wieder und wartete stumm. Irgendetwas war hier eindeutig faul im Staate Dänemark, aber ich hatte nicht vor, den ersten Schritt zu tun oder sie tantenhaft zu umflattern. Wenn die drei etwas von mir wollten, sollten sie gefälligst den Mund aufmachen. Die Jungs waren alt genug, und ich hatte Zeit, denn ich war erst am späten Nachmittag mit meiner Freundin Marga verabredet, um an einer »ganz großen Sache« teilzuhaben. Ihre Worte, natürlich. Bis dahin blieben uns noch fast zwei Stunden. Unauffällig betrachtete ich Krischans Kumpane, während ich meinen Tee schlürfte. Das Mädchen, Jana, schien mir noch sehr jung zu sein. Zwölf vielleicht, na gut, höchstens dreizehn, aber keinen Tag älter. Ihr Gesicht war jugendlich glatt. Kein Schicksalsschlag hatte bislang eine Spur als Kerbe oder Falte hinterlassen. Trotzdem wirkte sie intelligent und, ja … eigensinnig und selbstbewusst. Hier saß ganz klar ein Mensch, der bereits wusste, was er wollte. Ich hatte keine Ahnung, ob dieser Eindruck an dem wachen Ausdruck ihrer Augen lag oder an ihrer Körperhaltung und der Art, wie sie den Tee trank. Auf jeden Fall war sie winzig. Also, sie war nicht bloß klein, sondern wirklich sehr kurz geraten. Ich veranschlagte ihre lichte Höhe auf einen Meter zehn oder zwanzig, mehr auf keinen Fall. Dagegen gehörten die beiden Jungs in das Reich der Riesen. Wie ein Schluck Wasser saß dieser lange Lulatsch von Philipp da, den Rücken...