E-Book, Deutsch, Band 6229, 368 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen
E-Book, Deutsch, Band 6229, 368 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-68825-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Einzelne Sprachen & Sprachfamilien
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Historische & Vergleichende Sprachwissenschaft, Sprachtypologie
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Volkskunde Historische & Regionale Volkskunde
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Alte Geschichte & Archäologie Vor- und Frühgeschichte, prähistorische Archäologie
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Inhalt;5
5;Einleitung: Das Rätsel der Indoeuropäer;11
5.1;Auf der Suche nach Sprachverwandtschaften;11
5.2;Vom Volk zur Rasse: Indoeuropäer und Arier;16
5.3;Das Hakenkreuz, ein arisches Symbol?;18
6;1. Die Urheimat in der südrussischen Steppe (11.– 8. Jahrtausend v. Chr.);23
6.1;Neolithische Übergänge: Viehnomaden im Osten, Ackerbauern im Westen;25
6.2;Urheimat Anatolien? Neue humangenetische Erkenntnisse;31
6.3;Naturraum Steppe;33
6.3.1;Die Bedeutung des Pferdes für die frühen Hirtennomaden;33
6.3.2;Hirtentum und Weidewirtschaft;37
6.3.3;Vom Honigsuchen zum Honigsammeln;40
6.3.4;Pflanzen und Tiere als Hinweise auf die Urheimat;41
6.4;Indoeuropäer und Uralier: Frühe Konvergenzen;43
7;2. Proto-indoeuropäische Sprache und Kultur (ab dem 7. Jahrtausend v. Chr.);49
7.1;Elementare Strukturen und Eigenschaften;50
7.1.1;Das Lautsystem;50
7.1.2;Der grammatische Bau;51
7.1.3;Die Syntax;57
7.2;Namen als ethnische Identitätsmarker;58
7.2.1;Ethnonyme;58
7.2.2;Personennamen;60
7.2.3;Namentypen in den Regionalkulturen;61
7.3;Funktionale Varianten des Proto-Indoeuropäischen;63
7.3.1;Mythopoetischer Sprachstil;63
7.3.2;Ritueller Sprachgebrauch;65
7.3.3;Spezialterminologien für Weidewirtschaft und Pflanzenkultivation;66
8;3. Frühe Steppennomaden: Gesellschaftsformen und Weltbilder (ab dem 7. Jahrtausend v. Chr.);69
8.1;Proto-indoeuropäische Regionalkulturen;69
8.1.1;Elshan-Kultur (spätes 8. und 7. Jahrtausend v. Chr.);70
8.1.2;Samara-Kultur (ca. 6000 – ca. 5000 v. Chr.);70
8.1.3;ChvalynskKultur (ca. 5000 – ca. 4500 v. Chr.);71
8.1.4;Srednij Stog (ca. 4500 – ca. 3350 v. Chr.);71
8.1.5;JamnajaKultur (ca. 3600 – ca. 2000 v. Chr.);71
8.1.6;UsatovoKultur (ca. 3300 – ca. 2900 v. Chr.);72
8.2;Frühe soziale Hierarchien und patriarchalische Herrschaftsstrukturen;73
8.3;Familien, Sippen, Clans;77
8.4;Umrisse einer protoindoeuropäischen Mythologie;79
8.4.1;Sozialstrukturen im Spiegel der mythischen Überlieferung;80
8.4.2;Beseelte Natur: Geister, Bären, Flussgöttinnen;83
8.4.3;Hirtengott und Pferdegöttin;85
8.4.4;Die ältesten Himmelsgötter;88
8.4.5;Die Mythen vom Weltende und der Tochter des Herrschers;90
9;4. Kontakte mit Ackerbauern im Westen (ab dem 5. Jahrtausend v. Chr.);93
9.1;Die Annahme des «Agrarpakets»;94
9.2;Technologische Innovationen;95
9.2.1;Die Verarbeitung von Gold;95
9.2.2;Die Einführung von Rad und Wagen;97
9.2.3;Alteuropäischindoeuropäische Kooperation in der Transporttechnologie;101
9.2.4;Der Streitwagen – eine kleine Kulturgeschichte;102
10;5. Die erste Migration der Steppennomaden (ab Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr.);107
10.1;Migration und ihre Motivation;107
10.2;Indizien für die Wanderungen der Nomaden;111
10.2.1;Szepter mit Pferdekopfverzierung;112
10.2.2;Merkmale des «indoeuropäischen» Genoms in Ost- und Südosteuropa;112
10.2.3;Motive in den Felsbildern Eurasiens;114
10.3;Primäre Indoeuropäisierung: Anpassung an die Elite und Sprachwechsel;115
10.3.1;Machtübernahme im Handelszentrum von Varna;116
10.3.2;Kulturentwicklung unter einer indoeuropäischen Elite;120
10.3.3;Sprachwechsel der alteuropäischen Bevölkerung in Südosteuropa;121
10.3.4;Modellfall Mauritius: Die Entstehung einer Kreolsprache;122
11;6. Die Auflösung des ProtoIndoeuropäischen (ab 4000 v. Chr.);127
11.1;Richtung Süden: Die Auseinandersetzung mit den Alteuropäern;127
11.1.1;Umbruch und balkanischaltägäische Kulturdrift;129
11.1.2;Helladische Landnahme;131
11.1.3;Interessenausgleich zwischen Indoeuropäern und Alteuropäern;132
11.1.4;Erzähltraditionen im Kulturkontakt;134
11.1.5;Handwerk und Figurinen;136
11.1.6;Die Kontinuität des vorindoeuropäischen Göttinnenkults;138
11.2;Richtung Osten: Die Erkundung Zentralasiens und Südsibiriens;139
11.2.1;Die AfanasevoKultur (ca. 3500 – ca. 2500 v. Chr.);140
11.2.2;Die AndronovoKultur (ca. 2300 – ca. 900 v. Chr.);140
11.3;Die Auflösung der Grundsprache;142
11.3.1;Centum, Satem und der Schwund der Laryngale;143
11.3.2;Die indoeuropäische Restbevölkerung in der eurasischen Urheimat;147
11.3.3;Frühe iranische Sprachen und Kulturen: Kimmerier, Skythen und Sarmaten;148
11.3.4;Die Amazonen – Mythos und Wirklichkeit;151
11.4;IndoIranisch als Makrogruppierung;152
11.5;Die Armenier: Außenlieger im Kaukasus;153
12;7. Südosteuropa: Die Entstehung der hellenischen Kultur (ab dem 3. Jahrtausend v. Chr.);155
12.1;Wie aus Helladen Hellenen wurden;155
12.1.1;Die vorgriechische Kulturlandschaft;157
12.1.2;Akropolis: Die Hellenisierung der Stadt Athen;159
12.1.3;Pelasgischgriechische Verschmelzungen;160
12.1.4;Die Anfänge des Schiffsbaus und des Seehandels in der Ägäis;162
12.2;Unter dem Patronat vorgriechischer Gottheiten;164
12.2.1;Athene, die vielseitige Supergöttin;164
12.2.2;Dionysos und die Ursprünge der Weinkultur;167
12.2.3;Demeter, die Kornmutter;169
12.2.4;Hephaistos, der göttliche Schmied;169
12.3;Vom Ritual zum Theater;170
12.4;Die Hellenen und ihre Staatswesen;172
12.4.1;Die Polis: Das Modell des hellenischen Stadtstaats;173
12.4.2;Vorgriechische Konzepte in der athenischen Demokratie;174
12.4.3;Das mykenische kommunale Pachtsystem;179
12.5;Das Griechische und seine Entwicklung;181
13;8. ApenninHalbinsel: Die Dominanz des Lateinischen (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.);185
13.1;Indoeuropäer in Italien;185
13.1.1;Italische Sprachkulturen;185
13.1.2;Römersein: ein schillernder Kulturbegriff;188
13.1.3;Indoeuropäische Außenlieger: Veneter und Messapier;190
13.2;Die Etrusker, Lehrmeister der Römer;192
13.2.1;Etruskischrömische Kontakte;197
13.2.2;Die Dominanz der etruskischen Kultur im alten Rom;199
13.2.3;Aristokratische Namengebung nach etruskischem Vorbild;200
13.2.4;Etruskischer Spracheinfluss im Lateinischen;200
13.2.5;Die Legitimation römischer Vormacht;203
13.3;Die Geburt einer Weltsprache;204
13.3.1;Lateinisch: Von der Lokalsprache zur Weltsprache;205
13.3.2;Assimilationsdruck in den römischen Provinzen;206
13.3.3;Funktionen des geschriebenen und gesprochenen Latein;208
13.3.4;Nichtrömer wechseln zum Lateinischen;210
14;9. Balkan: Zwischen römischer und griechischer Zivilisation (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.);213
14.1;Die römischgriechische Sprach- und Kulturgrenze;213
14.2;Altbalkanische Stammesverbände und Königreiche;217
14.2.1;Ein Mazedonier: Alexander der Große;217
14.2.2;Die Thraker und ihr Gold;219
14.2.3;Illyrische Stammesgruppen;220
14.3;Fusionskultur: Das Albanische;221
15;10. Mittel- und Westeuropa: Kelten und Germanen (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.);225
15.1;Bis zur Atlantikküste: Keltische Kulturen und Sprachen;225
15.1.1;Keltische Regionalkulturen;225
15.1.2;Die Keltisierung der atlantischen Randzone;228
15.1.3;Gallische Sprache und Kultur;230
15.1.4;Akkulturation: Die Entstehung des Keltiberischen;232
15.2;Germanische Kulturen, Sprachen und Staatsbildungen;234
15.2.1;Die formative Periode des Germanischen;234
15.2.2;Migrationen der Goten und ihre Spuren;236
15.2.3;Frühe Germanenreiche;238
15.2.4;Rechtskodifikationen: Leges barbarorum;245
15.2.5;Germanischer Einfluss auf die ostseefinnischen Sprachen;247
16;11. Osteuropa: Slawen und Balten (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.);249
16.1;Die Ausgliederung des Slawischen;249
16.2;Berührungen mit nichtslawischen Völkern;252
16.2.1;Germanischslawische Kontakte;252
16.2.2;Wechselbeziehungen zwischen Slawen und FinnoUgriern;255
16.3;Die Ausgliederung des Baltischen;258
16.4;Baltischfinnische Kontakte im Ostseeraum: Sesshaftigkeit versus Mobilität;259
17;12. Kleinasien: Anatolische Sprachen und Kulturen (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.);263
17.1;Hethiter und Luwier;263
17.1.1;Sprachliche Ausgliederung;263
17.1.2;Im Kontakt mit den autochthonen Völkern;265
17.2;Nichtindoeuropäische Sprachen und Kulturen Anatoliens;268
17.2.1;Hatti und Hattisch;268
17.2.2;Hurriter und Hurritisch;268
17.3;Der Kult der Artemis von Ephesos;270
17.4;Das Phrygische: Ein indoeuropäischer Außenlieger;273
18;13. Von Zentralasien ins Iranische Hochland (ab dem 2. Jahrtausend v. Chr.);275
18.1;Die arische Kriegerkaste und das Reich von Mitanni;277
18.2;Frühe Reichsbildungen iranischer Völker;277
18.2.1;Skythen: Vom Altai bis zur Krim;278
18.2.2;Meder: Von den Vasallen Assyriens zum eigenen Großreich;280
18.2.3;Das Persische Großreich;281
18.2.4;Das Reich der Parther;283
18.3;Iranische Sprachen;284
18.3.1;Ausgliederung;284
18.3.2;Die persische Sprache;284
18.4;Der Zoroastrismus;286
19;14. Indien: Draviden und Arier (2. Jahrtausend v. Chr.);289
19.1;Die Hochkultur der Draviden;289
19.2;Die «Einwanderung» der Arier;292
19.2.1;Die Landnahme arischer Steppennomaden;292
19.2.2;Die Gesellschaft der frühen Arier im Spiegel des Rig Veda;295
19.3;Kultursymbiosen;297
19.3.1;Wirtschaft und Religion;297
19.3.2;Sprachwechsel bei den Altdraviden und den Adivasi;300
19.3.3;Vom Clan zum Großreich;302
19.4;Vom Vedischen zum Sanskrit;304
19.5;Das Prakrit und seine Nachfolger;306
19.6;Indische Sprachen in Südostasien;308
20;15. Indoeuropäische Außenlieger in Westchina (2. Jahrtausend v. Chr.);315
20.1;Das Geheimnis der Mumien von Ürümchi;315
20.2;Tocharische Sprache und Kultur;319
21;16. Experimente mit der Schrift: Von Linear B bis Ogham (1700 v. Chr. – 500 n. Chr.);321
21.1;Silbenschriften;322
21.1.1;Linear B zur Schreibung des MykenischGriechischen;322
21.1.2;Das KyprischSyllabische zur Schreibung des Griechischen in Altzypern;325
21.1.3;Die anatolische Hieroglyphenschrift;328
21.1.4;Die persische Version der Keilschrift;330
21.2;Alphabetschriften;332
21.2.1;Das «griechische» Alphabet – eine minoischgriechische Kooperation;332
21.2.2;Die persische PehleviSchrift;335
21.2.3;Germanische Runen;336
21.2.4;Ogham: Eine Schriftschöpfung der Inselkelten;339
21.2.5;Wulfila und die gotische Schrift;341
21.2.6;Die armenische Schrift und das frühe Christentum;344
22;Epilog: Die indoeuropäische Globalisierung;345
23;Bibliographie;347
24;Nachweis der Karten und Abbildungen;362
25;Register;363
Einleitung:
Das Rätsel der Indoeuropäer
Zwei Drittel der Weltbevölkerung sprechen heute indoeuropäische Sprachen, als Primärsprachen, Zweitsprachen, Verkehrssprachen, Bildungssprachen oder Staatssprachen. Das Spektrum der rund 440 Einzelsprachen reicht von Großsprachen wie Hindi mit rund 550 Mio. Sprechern (davon ca. 430 Mio. Primärsprachler) bis zu Kleinsprachen wie Veddah im Bergland von Sri Lanka mit weniger als 300 Sprechern. Die meisten historischen und rezenten Weltsprachen, d.h. Sprachen mit globalem Kommunikationspotential, gehören genealogisch zur indoeuropäischen Sprachfamilie: Griechisch und Lateinisch in der Antike; Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Englisch in der Neuzeit (in chronologischer Abfolge seit dem 16. Jahrhundert). Die heiligen Schriften verschiedener Weltreligionen sind in indoeuropäischen Sprachen aufgezeichnet worden: in Griechisch, Lateinisch, Sanskrit, Pali u.a. Wie kam es zu dieser Erfolgsgeschichte der indoeuropäischen Sprachen? Wo liegen ihre Ursprünge? Auf der Suche nach Sprachverwandtschaften
Über die Verwandtschaft von Sprachen und die Gründe ihrer Unterschiedlichkeit wird seit den frühen Hochkulturen nachgedacht, ohne dass es schon zu systematischer Forschung gekommen wäre. Im Mittelalter identifizierten Gelehrte erstmals die Gruppen der romanischen und germanischen Sprachen, ohne zu erkennen, dass es auch eine Verwandtschaft zwischen diesen Gruppen gab. Rodrigo Jiménez de Rada unterteilte in seinem Werk De rebus Hispaniae (1243) die Sprachen Europas in drei Hauptgruppen: die romanischen, slawischen und germanischen Sprachen. Es sollte aber bis zum 17. Jahrhundert dauern, bis die ersten ernst zu nehmenden Versuche unternommen wurden, übergreifende Sprachfamilien zu identifizieren. Der Impuls dazu kam von der intensiveren Beschäftigung der Europäer mit Sprache und Kultur Indiens seit der frühen Neuzeit. 1544 übermittelte der des Griechischen und Lateinischen kundige Jesuit und Missionar Francis Xavier die ersten Sprachproben des Sanskrit, den Text einer religiösen Invokation (Om Srii naraina nama), brieflich nach Europa. Thomas Stevens (1583) und Filippo Sassetti (1585) stellten erstmals Vergleiche zwischen dem Sanskrit und europäischen Sprachen an. Nun entstanden umfangreichere Sammlungen von Proben aus zahlreichen Sprachen. Zu den frühesten Projekten, die Sprachen der Welt zu katalogisieren und zu klassifizieren, gehören die Werke von Theodor Bibliander (De ratione communi omnium linguarum, 1548) und Conrad Gesner (Mithridates, 1555). Gesner stützt seine Sammlungen von Sprachmaterial auf Übersetzungen des Vaterunsers. Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716) regte rund 150 Jahre später Zar Peter I. an, die Sprachen seines Reichs zu sammeln, aber seine Anregung wurde erst von der deutschstämmigen Zarin Katharina II. (reg. 1762–1796) umgesetzt. Sie engagierte sich zielstrebig für die Sprachforschung und förderte ein geradezu imperiales Projekt zur Sammlung von Sprachproben aus ihrem Vielvölkerstaat und aus aller Welt. Wegen der Erweiterung ihrer Sammlungen korrespondierte Katharina auch mit George Washington, der daraufhin einen Forscher mit der Inventarisierung der nordamerikanischen Indianersprachen beauftragte. Die Sammlungen wurden von dem deutschen Forscher Peter Simon Pallas in zwei Bänden mit dem Titel Linguarum totius orbis vocabularia comparativa (1786, 1789) zusammengestellt (Adelung 1815, Haarmann 1999). Den Höhepunkt erreichte diese Art des Sprachensammelns in dem vierbändigen Monumentalwerk Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde (1806–1817), das von Johann Christoph Adelung begonnen und von Johann Severin Vater fortgesetzt und beendet wurde. Das Hauptanliegen dieser Dokumentationen war es, die Sprachen der Welt nach Sprachkreisen oder Sprachfamilien zu klassifizieren. Der erste Gelehrte, dem es gelang, die Konturen dessen zu umreißen, was man mehr als zwei Jahrhunderte später «indogermanische Sprachfamilie» nannte, war Marcus van Boxhorn aus Leiden. Er stellte um die Mitte des 17. Jahrhunderts Vergleiche zwischen dem Lateinischen, Griechischen, Germanischen, Slawischen, Baltischen, Persischen und dem Sanskrit an und berücksichtigte dabei erstmals auch die Morphologie, d.h. den grammatischen Bau, der Sprachen. Er war überzeugt davon, dass alle diese Sprachen einen gemeinsamen Ursprung haben, den er in Anlehnung an Herodots Beschreibung der Steppenbewohner Osteuropas und Zentralasiens «Skythisch» nannte (Beekes 2011: 12). Im 18. Jahrhundert entstanden, begünstigt durch das Interesse der jesuitischen Missionare an den Sprachen und Kulturen Asiens, weitere Traktate zu Sprachverwandtschaften. Der Jesuit Gaston Coeurdoux stellte nicht nur systematische Vergleiche von Wörtern in verschiedenen Sprachen an (z.B. Sanskrit padam ‹Fuß› – latein. pes, pedis – griech. pous, podis), sondern fand auch heraus, dass Sanskrit und Griechisch die grammatische Kategorie des Dual (neben Singular und Plural) kennen, und entdeckte Ähnlichkeiten bei den Zahlwörtern und Pronomina. Er erkannte auch die Verwandtschaft des Verbs ‹sein› und dessen Formenschatz in den verglichenen Sprachen. Dem Manuskript von Coeurdoux, das er 1767 dem damaligen Institut Français präsentierte, wurde jedoch nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die es verdient hätte. Das Werk wurde erst 1808 gedruckt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts rückten Überlegungen zum Konzept einer ‹Ursprache› in den Vordergrund, und die Suche nach den Ursprüngen der alten bekannten Sprachen wurde immer intensiver vorangetrieben. Noch immer war der einzige Anhaltspunkt für die Sprachentwicklung der biblische Mythos von der babylonischen Sprachverwirrung. Die Suche nach der «vorbabylonischen» Ursprache brachte so manche Blüte hervor. So war Katharina II. im Einklang mit einem sich verstärkenden sprachorientierten Nationalismus in Russland davon überzeugt, die Ursprache müsse das Altslawische gewesen sein, da es eine so ehrwürdige Sprache war. Im Herbst 1784 versuchte sie, «Grimm mit der vertraulichen Kunde zu beeindrucken, sie habe geographische Namen in Frankreich, Spanien und Schottland, in Indien und Amerika und merowingische, wandalische und gar altbabylonische Herrschernamen als slavischen Ursprungs identifiziert» (Scharf 1995: 270). In ihren Gesprächen mit Pallas verflog allerdings Katharinas Enthusiasmus in Sachen slawischer Ursprache bald. Am französischen Hof war man anderer Meinung darüber. Voltaire berichtet, eine Hofdame habe ihn auf die Ursprache angesprochen, und diese sei sicherlich das Französische gewesen, denn mit dieser Zivilisationssprache sei doch die ganze Welt gesegnet worden (Voltaire in einem Brief an Katharina vom 26. Mai 1767). Auch seriöse Forscher begaben sich auf die Suche nach der Ursprache. Der Jesuit Lorenzo Hervás y Panduro gab eine mehrbändige Sprachenenzyklopädie heraus (Catalogo delle lingue conosciute, 1784, Trattato dell’origine … dell’idiomi, 1785, Aritmetica di quasi tutte le nazioni conosciute, 1785, Divisione del tempo fra le nazioni Orientali, 1786, Vocabolario poligloto, 1787, Saggio pratico delle lingue, 1787). Ihm fiel auf, dass die Vielfalt der Sprachen sich nicht mit einer einzigen Ursprache erklären ließ. Er vermutete mehrere Ursprachen in verschiedenen Regionen der Welt, die er matrices nannte. Damit stand er im Widerspruch zur Bibel, nach der es nur eine einzige vorbabylonische Ursprache gab, und galt als Ketzer. Hervás musste befürchten, den Unwillen der katholischen Amtskirche auf sich zu ziehen, verließ Italien und ging nach Spanien «ins Exil» (Haarmann 1997). Die Bemühungen, die Verwandtschaft des Sanskrit mit den Sprachen Europas zu erforschen, waren weniger dramatisch. Die verstreuten Beobachtungen zur Sprachverwandtschaft des Sanskrit mit Sprachen Europas (Griechisch und Lateinisch) wurden auf eine neue Ebene gehoben, als William Jones, britischer Hauptverwalter (Chief Magistrate) von Calcutta, 1786 in einem Vortrag vor der von ihm gegründeten «Asiatic Society» die verwandtschaftlichen Beziehungen des Sanskrit zu verschiedenen anderen alten Sprachen erklärte: «Die Sanskrit-Sprache – wie alt sie auch immer sein mag – ist von wunderbarer Bauart. Diese ist vollkommener als das Griechische, formenreicher als das Lateinische und feiner gegliedert als beide, und doch zeigt sie zu beiden eine zu starke Ähnlichkeit – sowohl in den Verbstämmen als auch in den grammatischen Formen –, als dass sie auf zufällige Weise hätte hervorgebracht werden können. Diese Ähnlichkeit ist in der Tat so deutlich, dass kein Sprachforscher sie alle drei untersuchen könnte, ohne zu glauben, sie seien irgendeiner gemeinsamen Quelle entsprungen, die vielleicht nicht mehr existiert: es gibt entsprechenden Grund zu der Annahme – wenn auch nicht ganz so zwingend –, dass sowohl das Gotische als auch das Keltische, trotz unterschiedlicher Sprachformen, gleichen Ursprungs sind wie das Sanskrit. Und das Persische könnte derselben Familie zugeordnet werden.» (Zitiert nach Mallory/Adams 2006: 5) Jones arbeitete seine Beobachtungen, die in die richtige Richtung zielten, selbst nicht weiter aus. Andere setzten seine...