Haar | Oleg oder Die belagerte Stadt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Reihe: dtv- pocket

Haar Oleg oder Die belagerte Stadt


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-423-41946-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Reihe: dtv- pocket

ISBN: 978-3-423-41946-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Winter 1942: Leningrad ist von Soldaten eingeschlossen, und Oleg muss seiner kranken Mutter Essen besorgen.
Winter 1942: Leningrad ist von deutschen Truppen eingeschlossen. Die Bevölkerung der Stadt ist dem Hungertod nahe. Nur mit Mühen kann der 12-jährige Oleg seine kranke Mutter mit etwas Suppe versorgen. Zusammen mit seiner schon zu Tode erschöpften Freundin macht er sich auf den Weg zu einer Kartoffelmiete außerhalb der Stadt. Da sehen sich die Kinder unversehens von deutschen Soldaten umgeben.

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1
Oleg Turjenkow schlief. In der Ferne war das Donnern der deutschen Geschütze zu hören. Sprengbomben, Brandbomben und Granaten fielen auf die sterbende Stadt Leningrad, die nicht bereit war, den Kampf aufzugeben. Es war Dezember 1942. Oleg Turjenkow schlief und träumte. Es war fast immer derselbe Traum . . . Dutzende von Lastern bewegten sich, im Zickzack fahrend, über den zugefrorenen Ladogasee. Wie eine weiße Hölle voller Gefahren und Unsicherheiten erstreckte sich vor ihnen die beschneite Eisfläche. Wo lagen die schwachen Stellen? Wo die Waken, die Löcher im Eis? Der Tod fuhr mit. Er hockte auf jedem der Laster, die mit Lebensmitteln auf dem Weg in das belagerte, ausgehungerte Leningrad waren. Rutschende Räder . . . berstendes Eis . . . aufspritzendes Wasser! Links versank Solymski mit seinem Beifahrer in der Tiefe: Einen Augenblick schwankte der Laster, während das Eis unter den Rädern brach. Dann tauchte die Nase zwischen den Schollen unter. Langsam, quälend langsam verschwand eine kostbare Ladung Lebensmittel im eisigen Wasser. Und Solymski und sein Beifahrer in der kleinen versinkenden Kabine sahen sich untergehen. Ein Wassertier mit scheußlichem Kopf und vorquellenden Augen – so tauchte der Laster noch einmal aus der dunklen Tiefe auf. Mit gewaltigen Flossen zerschlug er das Eis. Die Windschutzscheibe barst . . . Der Konvoi fuhr weiter. Niemand durfte anhalten, um Hilfe zu leisten. So lautete der Befehl. Und in der Ferne der Donner der deutschen Geschütze. Aus der dunklen Frostnacht schob sich das erste Morgengrauen am Horizont hoch. Im Traum saß Oleg neben seinem Vater in der Kabine. »Nach links!«, murmelte er im Schlaf. »Vater, nach links! Nach links!« Er wollte die Worte hinausschreien, aber seine Kehle war zugeschnürt. Im Traum sah er das ruhige und vertraute Gesicht seines Vaters wie in einem Film vor sich. Sein Vater schaute durch die zugefrorene Windschutzscheibe auf das Eis, auf die Spuren, die die Wagen vor ihm durch den Schnee zogen. Er drehte das Lenkrad jedoch nicht nach links, sondern nach rechts. Unter dem Eis schwamm das Wasservieh riesenhaft groß vor dem Lastwagen her. Schnee . . . schwarzes Eis . . . Wasser . . . Dazwischen die Flossen, das große Fischmaul, die vorquellenden Augen . . . Plötzlich erklang aus einem schwarzen Loch im Himmel schauriges Geheul. Ein einsames Jagdflugzeug stürzte aus den Sternen nach unten. Die Maschinengewehre ratterten. Die Sterne barsten zwischen Eisschollen und aufspritzendem Wasser auseinander, als die ersten Granaten einschlugen. Olegs Vater umklammerte verbissen das Lenkrad und wich abermals nach rechts aus. Schräg hinter ihm kippte Iwanows Wagen um. Das Eis brach . . . Neben ihm fuhr Pawlitschko mit zersplitterter Windschutzscheibe in eine Wake und verschwand mit seinem Beifahrer und allen Lebensmitteln in der Tiefe des Sees. Der Kopf des Jungen bewegte sich im Schlaf auf dem Kopfkissen hin und her, als ob er zu all diesen Traumbildern Nein sagen wollte. Er murmelte unverständliche Worte und krallte die Hände in die Bettdecke. Wie wild gewordene Elefanten fuhren die Laster im Zickzack über das Eis, um den Kugeln, Granaten und Waken zu entgehen. Der Tod fuhr mit. Mit rutschenden Rädern lenkte Olegs Vater seinen Wagen über die weiße Fläche. Sah er den dunklen Fleck nicht, wo der Schnee weg geweht war? »Nach links, Vater! Nach links!« Doch wieder wich sein Vater nach rechts aus. Die Entfernung des dunklen Flecks betrug nur noch vierzig Meter . . . noch dreißig . . . noch zwanzig . . . Dort war die Rille im Eis, wo der Schnee zu einem weißen Rand zusammengeweht war. Noch wenige Meter, dann . . . Das Krachen im Eis übertönte das Rattern des Motors. Das Vorderrad bohrte sich in die Schneeschicht, der Wagen blieb stecken und das Hinterrad brach ein. Dröhnend schlug die Ladefläche voll mit Kisten und Säcken auf das splitternde Eis. Dunkles Wasser färbte den Schnee. Der Motor stotterte . . . Langsam, quälend langsam sank nun auch der Wagen seines Vaters zwischen den Schollen ins eisige Wasser des Ladogasees. Tiefer, immer tiefer . . . Das furchtbare Wassertier schwamm riesig groß an den Fenstern der Kabine vorbei, in der, Todesangst in den Augen, sein Vater saß . . . Schweißnass wurde Oleg wach. Abermals hatte er von dem Konvoi geträumt, bei dem sein Vater umgekommen war. Es dauerte eine Weile, bis er sich allmählich seiner Umgebung bewusst wurde. Was täglich im belagerten Leningrad geschah, gab Stoff zu tausend Albträumen. Die Deutschen hielten die Stadt eingeschlossen. Durch Aushungern und Bombardieren – täglich fielen im Durchschnitt dreihundert Bomben und Granaten auf die Stadt – hofften sie, die Verteidiger zur Übergabe zu zwingen. Oleg hätte von den Tausenden von Menschen träumen können, die vor Hunger und Erschöpfung auf der Straße starben; von Soldaten, die schwer verwundet aus den Stellungen rund um die Stadt zurückkamen; von Häuserblocks, die brennend zusammenstürzten; von Frauen, die weinend zwischen den Trümmerhaufen nach ihren Kindern suchten. Leningrad war eine sterbende Stadt. Die Wasserversorgung funktionierte nicht mehr, die Klosetts waren eingefroren. Die Menschen verrichteten ihre Bedürfnisse in der eisigen Kälte auf der Straße. Menschliche Scham war in der Gewalt des Krieges längst verloren gegangen. Oleg hätte auch von dem alles beherrschenden Hunger träumen können; von Frauen und Kindern, die bei zwanzig Grad Kälte stundenlang Schlange standen, um einen Schlag wässrige Suppe oder ein Stückchen Brot zu erhalten. In Hunderten von Häusern lagen die Sterbenden – und Toten –, noch von niemand entdeckt. All diese grimmigen Zustände gehörten jetzt zur Wirklichkeit des täglichen Lebens. Sie waren zu einem greifbaren Teil des Krieges geworden, an den man sich schließlich gewöhnte, weil man einfach damit leben musste. Weit stärker als die Wirklichkeit seiner Umgebung hatten die Lebensmitteltransporte Olegs Fantasie beschäftigt – vor allem, weil sein Vater mit diesen Konvois gefahren war. Wenn der ausgedehnte Ladogasee zufror, konnten die Lastwagen mit unentbehrlichen Medikamenten, Lebensmitteln und Munition die deutschen Linien umgehen, um so die unvorstellbare Not in Leningrad wenigstens zu einem Teil zu lindern. In Gedanken hatte Oleg schon Dutzende von Malen seinen Vater begleitet. Wie mochte es den Männern in den Kabinen zumute sein, wenn die schweren Laster im Zickzack über das längst nicht überall sichere Eis dahinkrochen? Ob sie die Angst lähmte? Oder war ihr Mut stärker? Am schlimmsten war es immer zu Beginn des Winters, wenn das Eis noch nicht fest genug war, und im Frühjahr, wenn es zu tauen begann und die Wagen bis über die Räder im Wasser fuhren. Dann war die Spannung wegen Vaters Rückkehr fast unerträglich gewesen. Nach einer dieser Fahrten war nahezu die Hälfte des Konvois nicht zurückgekehrt. Dennoch waren die andern am nächsten Tag aufs Neue gefahren. Jeder Wagen, der das Ziel erreichte, rettete Menschenleben. Jeder Wagen, der bei den grimmigen Todesfahrten im Ladogasee versank, bedeutete den fast sicheren Tod für eine Anzahl von Männern, Frauen und Kindern in der Stadt. Deshalb träumte Oleg von den Transporten. Dass das Wassertier unter dem Eis schwamm und sein Vater unvermeidlich auf diesen dunklen Fleck zufuhr, machte den Traum zu einem Albtraum. Jedes Mal, wenn der Wagen kippte und quälend langsam in der Tiefe verschwand, wurde Oleg wach: nass vom Angstschweiß und für einen Augenblick völlig verwirrt durch diesen schrecklichen Traum. Das Furchtbarste daran war jedoch, dass sich das alles wirklich so zugetragen hatte. Das Bett seiner Mutter knarrte. »Oleg, bist du wach?« Oleg öffnete die Augen. Im Dämmerlicht sah er die vertraute Umgebung: die Bretter, die sein Vater noch vor die Fenster genagelt hatte, als bei einem Luftangriff alle Scheiben gesprungen waren, den Herd in der Ecke, für den es keine Kohlen gab, das Bett seiner Mutter, die schief hängende Lampe an der gerissenen Decke, den Riss in der Außenwand. Oleg schlug die Bettdecke zurück. Es war eiskalt im Zimmer. Hastig fuhr er in die Schuhe, zog Jacke und Mantel an. Dann lief er zum Bett seiner Mutter. »Du musst zur Garküche. Geh lieber frühzeitig!« Oleg nickte. In der Ferne klang das stetige Dröhnen der Geschütze. Oleg sah seine Mutter an. Er wollte nicht fragen, wie sie sich fühle. Sie würde doch nur antworten, dass es besser gehe und dass sie gut geschlafen habe. Als ob er noch ein Kind wäre, das es nicht besser wusste. In den fiebrigen Augen seiner Mutter las Oleg Sorge und Angst. Doch sie lächelte ihm zu, weil sie sich nichts anmerken lassen wollte. Oleg erwiderte das Lächeln. Er wollte tapfer wirken, weil er sich nicht mehr als Kind fühlte. Wer zwölf Jahre alt war und schon fast zwei Jahre deutsche Belagerung durchgestanden hatte, der war erwachsen! »Zieh dich warm an!« Oleg nickte wieder. Er schaute auf das hohle Gesicht seiner Mutter. Kleine Geschwüre von der Unterernährung entstellten ihre Lippen und die rechte Wange. Ob seine Mutter fürchtete, dass sie sterben würde? »Soll ich nicht zu Dr. Kirow gehen und...


Haar, Jaap ter
Jaap ter Haar wurde 1922 in Hilversum geboren. Nach dem Abitur, 1940, arbeitete er zunächst als Büroangestellter. Nach der Besatzung Hollands im Zweiten Weltkrieg ging er nach Frankreich und schloss sich dort der Widerstandsbewegung an. Jaap ter Haar verpflichtete sich nach Kriegsende freiwillig zum Militärdienst bei der Königlichen Marine und wurde als Kriegsberichterstatter in Schottland, den USA und Malaysia eingesetzt. Schließlich arbeitete er für den holländischen Rundfunk, wo er in der Programmproduktion für überseeische Radiostationen verantwortlich war.
Zunächst noch als Freizeitbeschäftigung schrieb Jaap ter Haar Kurzgeschichten, Hörspiele, Fernsehstücke und Drehbücher. Von 1954 an lebte er vom Schreiben, neben der sachlich-politischen Auseinandersetzung in historischen Werken machte er sich vor allem als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen. Zahlreiche renommierte Preise zeichnen die literarische Qualität und die hohe Sensibilität seiner Bücher aus.
In seinem Roman ›Behalt das Leben lieb‹ (dtv pocket 7805) erzählt ter Haar von dem 13-jährigen Beer, der aufgrund eines Autounfalls sein Augenlicht verliert. Er erlebt Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit und vieler Rückschläge, aber er entdeckt auch, dass es darauf ankommt, mit den veränderten Umständen richtig umzugehen. So wagt Beer einen neuen Anfang, wehrt sich gegen falsches Mitleid und lernt Menschen neu wahrzunehmen und vor allem: das Leben lieb zu behalten.
In ›Oleg oder Die belagerte Stadt‹ (dtv pocket 7858) geht es um das Ausgeliefertsein und die Leiden der Zivilbevölkerung während des Krieges, am Beispiel des zwölf-jährigen Protagonisten Oleg. Es ist ein Roman über die Unsinnigkeit und die Unmenschlichkeit des Krieges und damit ein Plädoyer für Pazifismus.
Jaap ter Haars Kinder- und Jugendbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er starb am 26. Februar 1998 in Laren/NL.

Jaap ter Haar wurde 1922 in Hilversum geboren. Nach dem Abitur, 1940, arbeitete er zunächst als Büroangestellter. Nach der Besatzung Hollands im Zweiten Weltkrieg ging er nach Frankreich und schloss sich dort der Widerstandsbewegung an. Jaap ter Haar verpflichtete sich nach Kriegsende freiwillig zum Militärdienst bei der Königlichen Marine und wurde als Kriegsberichterstatter in Schottland, den USA und Malaysia eingesetzt. Schließlich arbeitete er für den holländischen Rundfunk, wo er in der Programmproduktion für überseeische Radiostationen verantwortlich war.
Zunächst noch als Freizeitbeschäftigung schrieb Jaap ter Haar Kurzgeschichten, Hörspiele, Fernsehstücke und Drehbücher. Von 1954 an lebte er vom Schreiben, neben der sachlich-politischen Auseinandersetzung in historischen Werken machte er sich vor allem als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen. Zahlreiche renommierte Preise zeichnen die literarische Qualität und die hohe Sensibilität seiner Bücher aus.
In seinem Roman ›Behalt das Leben lieb‹ (dtv pocket 7805) erzählt ter Haar von dem 13-jährigen Beer, der aufgrund eines Autounfalls sein Augenlicht verliert. Er erlebt Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit und vieler Rückschläge, aber er entdeckt auch, dass es darauf ankommt, mit den veränderten Umständen richtig umzugehen. So wagt Beer einen neuen Anfang, wehrt sich gegen falsches Mitleid und lernt Menschen neu wahrzunehmen und vor allem: das Leben lieb zu behalten.
In ›Oleg oder Die belagerte Stadt‹ (dtv pocket 7858) geht es um das Ausgeliefertsein und die Leiden der Zivilbevölkerung während des Krieges, am Beispiel des zwölf-jährigen Protagonisten Oleg. Es ist ein Roman über die Unsinnigkeit und die Unmenschlichkeit des Krieges und damit ein Plädoyer für Pazifismus.
Jaap ter Haars Kinder- und Jugendbücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er starb am 26. Februar 1998 in Laren/NL.



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