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E-Book

E-Book, Deutsch, 462 Seiten

Günther Schlaufen

Roman
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7597-0121-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 462 Seiten

ISBN: 978-3-7597-0121-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wilhelminisches Gymnasium, Bordell, Bälle, Ich küsse Ihre Hand, Madame - erste Stationen aus dem Leben Viktor Lipsheims, Sohn aus großbürgerlichem, jüdischem Hause. Die Familie Lipsheim ist eine dreier deutscher Familien, deren Schicksal der Roman Schlaufen nachzeichnet. Von 1900 bis 2000 ist jedem Jahr eine Momentaufnahme zu-geordnet, die im regelmäßigen Wechsel einen Vertreter der jeweiligen Familie zur Hauptperson hat. Für Familie Prensch, die zweite der Familien, wären einige solcher Snapshots: eine Berliner Hüttensiedlung und elfeinhalb Stunden Fabrikarbeit, der Steckrübenwinter, Stocherkahnfahrten, Bruchpilot Quax und der Bombenkeller, der erste VW-Käfer, Familienfeiern, WG-Querelen und Coming-Out. Der Flugbaumeister und Erprobungsflieger Kurt Prensch bildet das unumschränkte Oberhaupt dieser Familie. Die dritte Familiengeschichte - die der aus Pommern stammenden Trelows - ließe sich zum Teil mit Hilfe folgender Stichworte skizzieren: Kuhmist und Kutschfahrten, Leben der Junker und Tod an der Front, Trümmerberlin, Wirtschaftswunder-Grillabend und Kurschatten, Nervenzusammenbruch und Love-Parade. Friedhelm Trelow, pommerscher Landwirt, fällt im ersten Weltkrieg. Seine Frau heiratet einen Junker und wird National-sozialistin. Sein Sohn Rainer studiert in Berlin und lernt dort Lea Lipsheim kennen. Nur an dieser Stelle kommt es im Verlauf des Romans zu einer Verbindung zwischen zwei der Familien. Nach 1945 besteht jedes dritte, der Familie Lipsheim vorbehaltene, Kapitel aus einer leeren Seite. Jede dieser leeren Seiten fordert zum Gedenken an die Ermordeten auf. In der Summe ergibt die Aneinanderreihung und Verknüpfung der Momentaufnahmen aus dem Leben dreier Familien, in die eine Vielzahl historischer Begebenheiten eingearbeitet ist, ein Jahrhundert-Panorama Deutschlands.

Autor in Bonn, verheiratet, 2 Kinder. Romane (Auswahl): Der Müßiggänger, Taschkent, SibZhung, Let It Snow.

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18
Viktor wartete vor der Tür des Professors. Ein paar Büsten standen im schummrigen Licht. Er hätte nicht sagen können, welche Geistesgrößen sie darstellten. Die in die Sockel eingravierten Namen hatte er nie gelesen. Der Professor ließ ihn warten. Hatte einer ein fliehendes Kinn? Keiner hatte ein fliehendes Kinn. Gorillastirn? Denkerstirn. Keiner hatte keine Nase. Wahrscheinlich saß der Professor beschäftigungslos, aber missgünstig lächelnd in seinem Ledersessel. Es war schwieriger gewesen, den Termin zu bekommen, als es hätte sein dürfen. Immerhin arbeitete Viktor als Dozent an der Fakultät, also für den Professor. Nun öffnete sich langsam die Tür, und der Kopf der ergebenen Sekretärin erschien. „Herr Professor Schmitten lässt bitten.“ Ja, bitten; deswegen war er hierhergekommen. Die Verlängerung seiner Dozentur, im Grunde eine Selbstverständlichkeit, und die Erhöhung seiner wöchentlichen Stundenzahl, das war es, was es zu besprechen galt. Wie er es nicht anders erwartet hatte, fand er den Professor in die Lektüre eines Schriftstücks vertieft. Professor Schmitten sah nicht auf. Viktor blieb regungslos an der Tür stehen und verhielt sich vollkommen ruhig. Er hatte festgestellt, dass das in diesem Spiel die gebotene Taktik war. Nichts irritierte den Professor so wie die Lautlosigkeit, und Viktor freute sich jedes Mal darüber, wie der vorgeblich Vertiefte, unsicher, ob überhaupt jemand im Raum war, schließlich gehetzt aufsah. Dem folgte wie gewöhnlich das Schauspiel überraschten Erkennens. „Dr. Lipsheim?“ Professor Schmitten war ein eitler Mann. Dumm, doch durchtrieben. Er hielt sehr auf Umgangsformen und war Frauen gegenüber auf eine Weise charmant, die Viktor anwiderte. Seine geäderten Hängebäckchen stupsten ans Halstuch, das er trug, um sich einen bohemienhaften Anstrich zu geben, und zwischen dem wohlfrisierten Silberhaar und den Tränensäcken lugten seine Augen listig hervor. Mit lässiger, wie vor dem Spiegel einstudierter Geste offerierte er ihm einen Sitzplatz und wartete dann wortlos ab. Auch dieses Verhalten war Viktor bekannt. Er wusste, dass dem Professor auf geschickte Art geschmeichelt sein wollte. Also bedankte er sich zuerst einmal für die ihm gewährte Zeit, was der Professor mit huldvollem Nicken entgegennahm. Doch Viktor war bewusst, dass dies noch nicht reichte. Es hieß, gleich zu Beginn der Koryphäe auch auf wissenschaftlicher Ebene gebührenden Tribut zu zollen. Zu diesem Zweck war er noch einmal die neueste Publikation eines Schmittenschen Gegners durchgegangen und bezichtigte diesen nun des Plagiats. Seine Thesen seien zum großen Teil älteren Veröffentlichungen des Professors entlehnt. Auch dieses nahm Professor Schmitten wohlwollend zur Kenntnis. Während er sprach, war es Viktor klar, dass der Professor seine Vorgehensweise durchschaute. Zweifellos hatten schon etliche Universitätskarrieristen die gleichen Schmeichelwege beschritten. Das änderte jedoch nichts daran, dass es notwendig war, so zu verfahren. Nun erst kam er auf sein Anliegen zu sprechen. Dies fiel ihm nicht leicht, weil der Professor es für schlau hielt, ihn unausgesetzt fast amüsiert anzuschauen und kein einziges Wort zu sagen. Als Viktor seine Bitten, denn um nichts anderes handelte es sich ja, vorgebracht hatte, trat Stille ein. Die hochgezogenen Augenbrauen des Professors stellten unausgesprochen die Frage, ob Viktors Vorsprache nun ein Ende gefunden habe, und machten gleichzeitig deutlich, dass von zwingender Folgerichtigkeit der Gedankenführung nur schwerlich die Rede sein konnte. Wieder ließ der Professor Zeit vergehen, bevor er seine ersten gewichtigen Worte sprach. Der rheinische Singsang, dessen er sich dabei befleißigte, machte Viktor insgeheim ganz rasend. Es treffe sich gut, dass er, Doktor Lipsheim, sein Anliegen eben jetzt vorbringe. Obwohl in diesen Zeiten voller Verhängnis, darin stimmte ihre Geschichtsvorstellung wohl überein, gänzlich anderes, Naheliegenderes vielleicht doch bevorzugte Behandlung verdiente. Viktors schlechtes Gewissen ließ ihn an Grüpp denken. Wieder sah er dessen Mutter in Tränen ausbrechen. Und im Ministerium arbeitete Markwart noch immer daran, dass Siebzehnjährige ins Feld geschickt wurden, Siebzehnjährige, die dann unter anderem Schadow aus sicherer Entfernung befehligte. Man solle, sagte Professor Schmitten, nur einmal der Männer im Felde eingedenken. Wie bisher bei jedem Zusammentreffen brachte der Professor das Gespräch unweigerlich auf die tapferen Soldaten, um Viktor zu zeigen, dass er ihn für einen Feigling hielt und verachtete. Viktor war sich sicher, dass der Professor gegen ihn intrigierte und dass er es war, dem er einen erneuten Musterungstermin zu verdanken hatte. Als noch junger Mann, die Stimme des Professors klang unverhohlen böse, wolle er sich naturgemäß hervortun, er verstünde das. Wieder ein taktisches Schweigen. Gepaart mit scheinbarer Gedankenversunkenheit, die dann plötzlich abgelöst wurde von einem Sich-wieder-der-unerbittlichen-Welt-Zuwenden. Wie gesagt, habe es sich gut getroffen, dass er um einen Termin gebeten habe. Denn, hier machte der Professor eine Kunstpause, die Universität, und nun bekam seine Stimme einen hämischen Beiklang, sei darin übereingekommen, die Dozentur für neuere Geschichte zeitweilig auszusetzen. Seine Forschungen weiterzuführen, bleibe ihm selbstverständlich unbenommen, obwohl es zurzeit vielleicht Wichtigeres gebe, doch das könne er vermutlich nur ungenügend beurteilen. Darüber hinaus müsse Viktor Verständnis dafür haben, dass keine Aussagen über eine eventuelle Wiederanstellung gemacht werden könnten. Die Zeiten ... Und mit diesen Worten und einem Hilflosigkeit und Schmerz vorgebenden Schauspielerblick entließ der Professor ihn. Zwischen den Säulen trat Viktor hinaus auf die Allee. Die Lindenblätter rauschten, wurden von Automobilgeknatter übertönt und rauschten immer noch. Beim Gehen atmete er die frühherbstliche Luft tief ein. Als er in belebtere Seitenstraßen gelangte, fiel ihm wieder einmal auf, dass überall Frauen und Kinder, jedoch kaum Männer zu sehen waren. Ein paar Invaliden humpelten vorbei, und einige Alte bettelten, doch sonst umgaben ihn nur Frauen. Frauenschlangen standen vor den wenigen offenen Geschäften, am Tag hundertfünfzig Gramm Brot pro Kopf hatten die Militärs der Regierung diktiert, Frauenschlangen, Schlangenfrauen im Zirkus, nein, Zirkus fiel aus, weil die Tiere verhungert waren. Frauen versuchten am Straßenrand ihre armselige Habe zu verkaufen. Frauen fuhren die Straßen- und U-Bahnen. Frauen arbeiteten in den Fabriken. Frauen mit müden Gesichtern und fadenscheinigen Kleidern. Frauen mit fettigen Haaren und Umhängetüchern. Frauen in Witwenkleidern. War Grüpp verheiratet gewesen? Frauen mit laut knurrendem Magen und eingefallenen Wangen. Mollige waren auch darunter, mollig wie Valeria, die aber das Haus nicht mehr verließ, weil es ihr peinlich war. Frauen mit schief getretenen Schuhen. Frauen, die nach Kernseife oder scharf nach Schweiß rochen. Frauen, die keiften, und Frauen, die schwiegen. Frauen, die sanft ein paar Worte sagten. Und alle schienen die wenigen Männer anzusehen, als erhofften sie sich etwas. Aber nur kurz, nur im Vorübergehen, denn alle hatten etwas zu tun. Kinder sammelten Lumpen, Papier, Flaschen und alte Glühbirnen. Das alles gab Sammelmarken. Die Kinder trugen Beutel gefüllt mit Frauenhaar. Für zehn Gramm eine Marke. Alle taten etwas. Nur er tat nichts. Zu Hause küsste er flüchtig seine Frau. Sie durchlief gerade eine hässliche Phase, hatte Pickel um den Mund und hängende Brüste. Ein säuerlicher Milchgeruch stieg von ihr auf. Außerdem trug sie eine unvorteilhafte Frisur. Seine zweite Tochter schrie in der Wiege. Er sah ihre kleinen Händchen über dem Rand fuchteln. Rahel hob das Kind heraus und er sah das rote knautschige Gesichtchen. Jetzt nahm ihn Lea bei der Hand und zog ihn ins Kinderzimmer. Dort setzten sie sich zu den Puppen auf den Boden. Lea spielte Mutter und legte eine Puppe wie einen Säugling in den kleinen Kinderwagen. Viktor kam sich unbeholfen vor, als er eine andere Puppe in den Wagen hineinsehen und freudig piepsen ließ. Lea war ganz ins Spiel vertieft, mit ernster Miene legte sie dem Kind ein Taschentuch als Windel an und schniefte dabei vor Anstrengung. Sie sagte dem Vater, dass sie einen Spaziergang machten. Jetzt seien sie bei den Großeltern, sagte sie und machte die ängstliche Art von Viktors Mutter nach: „Hier zieht es. Das arme Kind wird sich erkälten.“ Er musste lachen, und eine angenehme Müdigkeit ergriff ihn. Lea merkte nicht, dass ihm immer wieder die Augen zufielen, und plapperte munter weiter. Dann hörten sie den Gong, der zum Abendessen rief. Seine Eltern und Onkel Leo waren zu Gast. Letzterer war nur ein Schatten seiner selbst. Pergamenten und stumm. Valeria versuchte ihn aufzuheitern, indem sie ihn neckte. Immer wieder drohte sie ihm, noch mehr Bratkartoffeln mit Zwiebeln auf seinen Teller zu laden. Schließlich gelang es ihr, Onkel Leo so weit zu bringen, dass ihm der Kragen platzte. Er schrie sie an, sie solle doch ihre meschuggenen Kartoffeln als Stuck an die...



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