Ich bat um Hilfe und landete ganz unten
E-Book, Deutsch, 114 Seiten
ISBN: 978-3-99146-158-6
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Mond und Sterne Auf dem schmalen Grasstreifen, der die Siedlung wie eine Schutz-Zone von der Straße und dem Quartier mit der Schuhfabrik, der Beiz und der Tankstelle abgrenzte, lagen ein kaputter Ball und im Sandkasten die zertrampelten Überreste kindlicher Baukunst. Es wurde langsam dunkel. Ich saß auf der Mauer vor unserem Haus. Blasse Sterne, der bleiche Mond: Beide sind für alle da. Vom Parkplatz wehten Gelächter und Stimmen zu mir herüber, Autotüren wurden zugeknallt. Ich beneidete die wegfahrenden Besucher. In den Fenstern identischer Betonbauten, die zusammen eine Siedlung ergaben, die sich „familienfreundlich“ nannte, brannte bald Licht. Ich fragte mich, was die Menschen hinter den zugezogenen Gardinen machen und blickte zum einzigen Hochhaus hinüber, das wie ein Fremdkörper in die Höhe einer begrünten und doch grauen Agglomeration ragte, die heute noch genau gleich aussieht wie in den 1970er-Jahren. Heidi war noch nicht eingezogen, aber in der Nummer 14 lebte mein bester Freund. Tagsüber konnte ich an Fensterscheiben klopfen und Klingeln drücken, die Kameraden zum Spiel auf dem Grasstreifen auffordern und manchmal durfte ich bei Angelo essen und von einer familiären Harmonie profitieren, die mir gänzlich fremd war. Irgendwann war der Himmel fast schwarz, die Sterne hingen wie Diamanten im Dunkel. Ich war sieben Jahre alt und fürchtete mich, in mein Zuhause zurückzukehren. Es gab einen Eingangsbereich mit Toilette und Bad. Zwei Kinderzimmer, ein Elternschlafzimmer. Im größten Raum standen das Sofa, der Beistelltisch und die Wohnwand. Dort lagerten die Schätze der Erwachsenen: schönes Geschirr, die feine Tischwäsche, bunte Glasvasen und Süßigkeiten, die wir nicht anrühren durften. Im Terrarium lebten zwei Alligatoren, die dem Vater als klein bleibend verkauft worden waren. Als sie zu stattlicher Größe heranwuchsen, mussten sie an einen Zoo abgegeben werden. Ihre Behausung verwandelte sich in ein Aquarium mit Neonfischen und Schlingpflanzen. Der auf einem Sockel stehende Glaskasten mit dem friedvollen Innenleben vermittelte mir in einem Universum, das durch die gewalttätigen Ausbrüche des Vaters geprägt war, so etwas wie Trost. Meine Mutter hatte mich knapp neunzehnjährig geboren. Meine beiden jüngeren Schwestern machten aus Yvette eine zweiundzwanzigjährige Dreifach-Mutter. Leo unser Erzeuger, hatte seine anderen Kinder samt Ehefrau verlassen, um die hochschwangere Geliebte, in einem Anfall von Ehrenhaftigkeit, einen Monat vor meiner Geburt zu heiraten und führte sein Schreckensregime fortan einfach in der neuen Familie fort. In den ersten Jahren meines Daseins war das Leben noch weniger beschwerlich, obwohl: Mit siebeneinhalb Monaten fiel ich vom Wickeltisch, wie man sich erzählte, als dieser Sturz mit Verhaltensweisen in Verbindung gebracht wurde, die Mutter und Vater mit dem Satz „Der ist nicht ganz normal“ erklärten, was die Suche nach anderen Gründen überflüssig machte. Nach unablässigem Weinen verstummte ich, auf dem Boden liegend, plötzlich. Mutter glaubte, ich sei tot. Das war nicht der Fall. Im Krankenhaus wurde ein Schädelbruch festgestellt. Ich kam zu den Großeltern mütterlicherseits, die mich wochenlang pflegten, während Leo seine junge Frau zu doppelter Arbeitsleistung antrieb, da er den kaputten Kopf seines Sohnes ihrer mangelnden Sorgfalt zuschob, wobei ihm die Kosten meiner Genesung weitaus mehr beschäftigten als die Sorge um meinen Gesundheitszustand. Was Vater und Mutter verband, weiß ich nicht. Es waren die späten 1960er-Jahre. Während anderswo das progressive Leben tobte, junge Leute so viel mehr wollten, als ihnen das verhasste Establishment zugestand, kämpften die Erwachsenen in meinem Umfeld einfach weiter um ihre Existenz. Leo hatte keine Ausbildung abgeschlossen. Mit welcher Arbeit er seine erste Familie über die Runden gebracht hatte, weiß ich nicht, was ich jedoch weiß, ist, dass er sein Lebtag nie einen Franken Alimente leistete und in seiner neuen Frau eine tüchtige Arbeitskraft erkannte, die zum finanziellen Auskommen der Familie beitrug. Und jetzt weiß ich auch: Die Firma war das verbindende Element zwischen ihnen. Sie gründeten ein Unternehmen für Reinigungsmittel. Der Name setzte sich aus den Silben ihrer Vornamen und dem Namen unseres Wohnortes zusammen. Die Fabrikation befand sich in einem angemieteten Raum, der sich ebenfalls in der Siedlung befand. Dort lagerten große Fässer mit Substanzen, die nach genauer Rezeptur in Flaschen abgefüllt und von uns Kindern etikettiert werden mussten. Zu Dutzenden in Kartonschachteln verstaut, fuhren die Eltern ihre Verkaufstouren in der nahen und fernen Umgebung. In Schulhäusern und Gemeindeverwaltungen bauten sie sich eine Stammkundschaft auf, denn die Produkte der Firma „Lywigo“ genossen einen ausgezeichneten Ruf, wenn es um die blitzblanke und streifenlose Reinigung mittels Mob, Putzlappen oder Bürste ging. Als Folge des elterlichen Fleißes waren wir Kinder anständig gekleidet und hungerten nicht. In der Garage stand das Auto, in der Wohnzimmerwand plötzlich ein Farbfernseher. Ich besaß Spielzeugautos und ein Minivelo. Vater war zwar pausenlos anwesend, aber ich erinnere mich nur an ein einziges Erlebnis, das mich in positiver Art und Weise mit seiner Präsenz verbindet. Er fuhr mit seinem Rennvelo um den Greifensee, ich als kleiner Knirps im Windschatten hinterher. Danach war er stolz, dass ich das geschafft hatte. Es war das einzige Lob, das ich je von ihm erhalten habe. Als das Familienleben noch halbwegs funktionierte, verbrachten wir die Wochenenden im Winter auf dem Atzmännig, einem Naherholungsgebiet, das eine Autostunde von unserem Wohnort entfernt lag. Der dort stationierte Wohnwagen bot fünf Personen nur knapp Platz. Die Verhältnisse waren beengt, die Streitigkeiten vorprogrammiert und so verbrachte ich die meiste Zeit im Freien, entdeckte die winterliche Natur mit den schneebedeckten Hügeln, die zum Rodeln und Skifahren einluden. Dass meine Schwester und ich Skier und Skischuhe, gefütterte Overalls und einen Tages-Pass besaßen, um uns in die Höhe transportieren zu lassen, war keine Selbstverständlichkeit, wie man uns sagte. Am Morgen frühstückte ich bereits in voller Montur, um danach als Erster am Lift zu stehen. Innerhalb weniger Saisons wurde ich ein ausgezeichneter Skifahrer und als mir Mutter in ihrem knallgelben Skidress nacheifern wollte, hängte ich sie ab, sie war mir eindeutig zu langsam unterwegs. Ich erinnere mich, dass mir die sportliche Aktivität die Sicherheit vermittelte, weniger nutzlos zu sein, als mir mein Vater für gewöhnlich weismachen wollte. Wenn ich durch Tiefschnee wedelte, die Pisten schneller als alle anderen hinunterflitzte und bei gemächlichen Waldabfahrten den Duft von Nadelbäumen einsog, ein Eichhörnchen oder Tierspuren im Schnee erblickte, spürte ich Freiheit und Ruhe. Das Alleinsein gefiel mir eindeutig. Ich musste mich nicht äußern, machte nichts falsch und konnte eigene Entscheidungen treffen. Gelangten wir nach den Ferien wieder ins Unterland zurück, buckelte ich meine Skier und stand bald auf einem schneebedeckten Hügel in der Nähe unseres Wohnortes. Zusammen mit den Kindern der Siedlung bauten wir Schanzen, regelten den spärlichen Verkehr auf der nahen Quartierstraße und flogen so ähnlich wie unsere Vorbilder, Ingemar Stenmark und Bernhard Russi, in hohem Bogen über die Straße auf die gegenüberliegende Wiese. Im Sommer stand der Wohnwagen, wie von Zauberhand gelenkt, plötzlich an einem anderen Standort. Mitten in üppigem Grün und nur Schritte von unserer Bleibe entfernt, glitzerte der Greifensee. Nun trugen wir fast den ganzen Tag Badehosen. Die Enge der winterlichen Residenz auf Rädern wurde in dieser Jahreszeit mit einem Vordach bekämpft, unter dem wir auf zusammenklappbarem Mobiliar im Freien aßen, was Mutter in der winzigen Küche zubereitete. Auch in diesem Umfeld war die Freiheit fast grenzenlos. Wenig Beaufsichtigung war nötig, alle kannten sich, wussten, wo sich die Sprösslinge der anderen Familien gerade aufhielten und die allfällige Erkundigung der Zivilisation verhinderte ein riesiges Maisfeld. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde es erfrischend kühl und ruhig und die Laternen auf den Tischen verbreiteten fast so etwas wie eine romantische Stimmung. Davon blieben die Eltern unbeeindruckt. Allerdings hatten ein verheirateter Mann mit einem Seehund-Schnurrbart, einer Ehefrau und zwei Kindern und meine nun siebenundzwanzigjährige Mutter vermutlich bereits damals ein Auge aufeinander geworfen. Die Eltern stritten viel und in dieser Zeit ereignete sich bereits etwas, was auf Unachtsamkeit oder sogar Grausamkeit im Umgang mit mir hinwies. Einmal, es war an Ostern, hatte ich im Wohnwagen das Bett eingenässt. Am Nachmittag stand die ersehnte Suche der Osternester auf dem Programm. Die anderen Kinder waren erfolgreich, kehrten jubelnd mit einer reichen Beute aus Schokoladenhasen und Zuckereiern zurück, nur ich fand mein Nest trotz aller Bemühungen nicht. Enttäuscht kehrte ich zurück, worauf mich die Eltern wissen ließen: „Du darfst erst jetzt suchen.“ Da die anderen ihre Süßigkeiten in Sicherheit gebracht hatten, half mir die gesamte Schar. Als ich mein Nest endlich gefunden hatte, steckte nur meine nasse Unterhose im Ostergras. Ich schämte mich in Grund und Boden. Eine andere Episode jener Jahre blieb mir ebenfalls in Erinnerung: Der Sohn des zweiten Nachbars auf dem Platz, ein achtzehnjähriger Junge, hatte es sich in einem eigenen Zelt in direkter Nähe zum elterlichen Wohnwagen gemütlich gemacht. Als er eines Nachts die Toilette aufsuchte, die sich in einem weiter entfernt gelegenen...