Gross | Mein Bruder mit den Schlehenaugen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Gross Mein Bruder mit den Schlehenaugen

Eine Heimkehrgeschichte

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7528-5312-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Bruder mit den Schlehenaugen. Er nimmt mich an der Hand. Wir sind das Waisenpaar, das in den Dörfern auffällt wegen seiner Unzertrennlichkeit. Er macht abends Feuer, damit wir Schutz und Wärme haben. Er besorgt Essen, das wir am Wiesenrand teilen. Das Verlies im Schloss des Spielkartenkönigs bringt er zum Einsturz mit seinem Lachen. In mein kältestes Tal kommt er mit dem warmen, lichten Frühling in seinen Händen. Er segelt mit mir über den Schmerzensfluss, das Boot eine Nussschale und als Segel mein größtes Tränentaschentuch. An jeder Kreuzung weiß er Rat. Bin ich traurig, malt er am Horizont ein Märchenreich. Bin ich verzagt, lässt er einen kleinen Käfer auf meiner Nase landen, rot mit schwarzen Punkten. Die Zeit wird nicht lang mit ihm. Wir sind auf dem Weg. Auf dem langen Weg nach Hause.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau heute wieder in seiner Geburtsstadt Reutlingen Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012).; Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); Der Sommer der Glühwürmchen (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Albatros (2018); Nordkapp (2018).
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Wir müssen doch nach Hause. Mein Bruder und ich. Es gibt nichts Dringlicheres. Wo wir sind, können wir nicht bleiben. Die Leute meinen es gut mit uns, aber ich habe Heimweh. Vielleicht droht uns auch Gefahr. Wir gehören nicht hierher. Wir gehören nach Hause. Und ich möchte auch gerne nach Hause. Ich war noch nie dort. Nur in meinen Träumen. Manchmal sitzen wir, mein Bruder und ich, irgendwo an der Landstraße im Sonnenuntergang und ruhen aus. Ein Feuer brennt, das hat mein Bruder angezündet, und unser Nachtlager haben wir bereitet, aus Laub und Moos und Zweigen. Dort sitzen wir und sehen die Sonne untergehen, ein feuerroter Ball in einem Meer aus Apfelsine und Zitrone. Die Wolken stehen still, wie aus Stein, schieferblau, und leuchten von unten. Dann fragt mich mein Bruder: „Wie stellst du dir denn unser Zuhause vor, Schwesterlein?“ Und ich sage: „Ich weiß nicht, Bruder. Schön stelle ich es mir vor.“ „Ja, sicher. Aber was heißt das: schön?“ Ich zucke die Schultern. „Ich weiß nicht. Schön eben.“ „Ist es ein Haus?“ „Ja. Aber nicht nur.“ „Was noch?“ „Ein Haus und ein Land.“ „Wie groß ist das Land?“ „Ich weiß nicht. Ein Land eben.“ „Und wer wohnt in dem Haus?“ „Wir.“ „Und wer noch?“ „Die Eltern?“ „Die sind verschollen. Das weißt du, Schwester.“ „Ja, aber vielleicht haben sie auch heimgefunden. Wie wir.“ „Also gut. Aber wem gehört das Haus?“ „Allen.“ „Wer: alle?“ „Alle, die heimgefunden haben. Sie wohnen mit uns zusammen. Es gibt überhaupt ganz viele Häuser in diesem Land. Lauter Häuser. Aus Holz mit einer Veranda und Zimmern unterm Dach, wo wir schlafen. Und morgens scheint die Sonne herein und weckt uns, und wir bekommen Tee zum Frühstück und Waffeln und Löwenzahnhonig mit frischen Himbeeren. Und wir waschen uns unten am Bach und plantschen und spritzen, und dann laufen wir über die Wiese, über lauter Augentrost und Weidenröschen, und im Wald fressen die Trüffelschweine und von Ast zu Ast schaukeln die Bernsteinlemuren, und der ganze Tag vergeht im Lachen und Singen und Spielen, und wenn wir am Abend heimkommen, gibt es Pfannkuchen mit Blaubeerkompott und Puderzucker, und wir essen jeder dreitausend Stück, und das Beste ist, dass wir alle hierher gehören, jeder Einzelne, und dass wir nie wieder weg müssen in die Fremde und dass uns gar nichts passieren kann und dass ... und dass ...“ Mein Bruder schaut mich an. Tränen laufen mir über die Wangen. „Ist gut, kleine Schwester“, sagt er. „Du hast recht. Es wird schön sein.“ Und dann legen wir uns schlafen, und wenn ich nicht einschlafen kann, rückt mein Bruder näher, sodass ich mich an ihn heran kuscheln kann. So schlafe ich bald ein. Unsere Eltern sind verschollen, sagt mein Bruder. Davon weiß ich nichts. Ich kann mich nur erinnern, dass ich als kleines Kind glücklich war. Vater und Mutter waren für mich da und hatten mich lieb. Sonst wüsste ich ja gar nicht, was ein Zuhause ist. Dann kam eine schlimme Zeit, in der sie eines Tages einfach verschwunden waren. Sie hatten ihre Sachen gepackt und mich zurückgelassen. Ich habe mir die Augen ausgeweint, aber sie kamen nicht zurück. Wohin sie gegangen sind, wo sie jetzt sind, ob ich sie je wiedersehen werde, weiß ich nicht. Irgendwann ist mein Bruder aufgetaucht: Er stand eines Tages vor der Haustür und nahm mich an der Hand. „Komm mit“, sagte er. „Wir gehen nach Hause.“ „Aber ich bin doch zuhause“, sagte ich. „Ein Gebäude mit vier Wänden und einem Dach ist kein Zuhause. Dein wahres Zuhause ist da, wo alle dich lieb haben, niemand dir Böses will und wo du in Wahrheit herkommst. Verstehst du das?“ „Natürlich verstehe ich das!“, sagte ich und schüttelte seine Hand ab. „Aber wer bist denn du?“ „Ich bin dein Bruder“, sagte er. Er war zwei Kopf größer als ich und schon einige Jahre älter. Er sah Vertrauen erweckend und zugleich ein bisschen schlampig aus, als wäre er wochenlang durch die Wälder gezogen. Er sah aus, als hätte er viele Schrecknisse gesehen und Abenteuer überstanden. „Du willst mich nach Hause bringen?“ „Ja. Vertrau mir. Ich kenne den Weg.“ Ich habe ihm vertraut. Ich habe meine kleine Hand in seine gebräunte Pranke gelegt und bin mitgegangen. Heute glaube ich manchmal, er hat mich angelogen. Er kennt den Weg nämlich gar nicht. So sieht es zumindest aus. Wenn wir an eine Kreuzung kommen, fragt er mich, welche Richtung ich wählen würde. Ich zucke die Schultern. Aber er wartet so lange, bis ich eine Entscheidung gefällt habe. Dann gehen wir ein Stück, und er meint: „Du hast richtig gewählt. Das ist der Weg nach Hause.“ Dabei habe ich das Gefühl, er weiß gar nicht, ob es der richtige Weg ist. Erst hinterher, wenn wir einen Abschnitt des Weges hinter uns haben, wenn wir das Abenteuer bestanden oder ein wichtiges Zwischenziel erreicht haben, stellt es sich heraus, dass der Weg richtig war. Später habe ich Zweifel daran bekommen, dass er tatsächlich mein Bruder ist. Er sieht mir gar nicht ähnlich. Er hat von der Sonne gebräunte Haut, rau von Wetter und Wind. Er hat eine andere Nase als ich und andere Haare. Meine Haut ist weiß und glatt, ich habe blaue Augen und blonde, glatte Haare, die er mir meist zu Zöpfen flicht. „Woher will ich wissen“, sagte ich einmal zu ihm, „dass du wirklich mein Bruder bist?“ „Das spürt man doch“, sagte er und lachte, als hätte ich etwas sehr Dummes gesagt. Aber am Anfang spürte ich gar nichts. Er war mir fremd. Von meinen Eltern redete er nie. Ich hatte das Gefühl, dass er sie gar nicht kannte. Hatte er weit weg von zuhause gelebt? War er früh ausgezogen und in die weite Welt gereist? So alt sieht er aber nicht aus. Er ist kein Erwachsener. Er ist ein Kind wie ich. Einmal habe ich ihn gefragt: „Wie alt bist du eigentlich?“ „Älter als du. Viel älter. Ich bin so alt, dass du es gar nicht zählen kannst.“ „Zehn?“, fragte ich. „Älter.“ „Fünfzehn?“ „Älter.“ „Hundert?“, staunte ich. „Viel älter.“ „Tausend Jahre alt?“, fragte ich mit aufgerissenen Augen. „Das kommt eher hin.“ Und er grinste. Da wusste ich, dass er mich auf den Arm genommen hatte. Wir gehen, wenn nichts dazwischen kommt, am Tage. Abends suchen wir einen Lagerplatz, und nachts schlafen wir. Manchmal werden wir aufgehalten, in einem Dorf, in einer Burg, von Leuten, die uns begegnen, oder wir müssen eine Arbeit erledigen. Weil wir Hunger haben und essen müssen. Mein Bruder besorgt die Arbeit, und ich helfe, wo ich kann. Gemeinsam kriegen wir dann einen Brotkanten mit Schmalz oder einen Korb Obst oder einen blanken Silbertaler. Das Geschäftliche erledigt mein Bruder, davon verstehe ich nichts. Wenn wir an Flüsse kommen, wo es keine Brücke gibt oder wo die Brücke Zoll kostet, schwimmen wir hinüber. Manchmal ist die Strömung so stark, dass mein Bruder mich an einem Seil hält, während ich schwimme. Wir gehen über bunte Blumenwiesen, wo das Gras hoch steht. Schafen und Kühen und Ziegen schauen wir beim Weiden zu. Unterwegs sammeln wir Beeren und Pilze, wenn es die Jahreszeit ist, Bucheckern und Nüsse und essbare Wurzeln und auch sonst allerlei Kraut, mit dem mein Bruder sich auskennt. Und winters verdingen wir uns in einem warmen Haus, wo es uns gut geht. Dann mache ich Hausputz, und mein Bruder spielt den Diener. Mit der ersten Frühlingswärme, die den Schnee schmelzen lässt, brechen wir auf. Uns ist wohler, wenn wir unterwegs sind. Besonders mir. Ich bleibe ungern an einer Stelle. Ich habe dann das Gefühl, dass unser Zuhause immer ferner rückt. Und ich habe doch solches Heimweh! Mein Bruder hat Schlehenaugen. Ich kann das nicht erklären, aber es ist so. Wenn ich in seine dunklen, runden Augen schaue, muss ich immer an den Schlehenbusch denken, der bei uns im Garten stand. Er war groß und ausladend und hatte Dornen. Im Frühjahr kamen die Blätter, dann die weißen Blüten, bis der Busch wie eine Wolke aussah und duftete. Süß und ein bisschen nach Arznei. Und im Sommer bekam er die blauen Beeren, die wir sammelten und zu allerlei Sachen verwendeten. Oft pflückte ich sie vom Baum und aß sie roh, sie schmeckten sauer und süß. Mutter machte Gelee daraus oder setzte einen Schnaps an, Vater machte aus dem Holz einen Stiel für seine Axt, und den Tee trank die Nachbarin für ihr Herz. Wo eine Schlehe auf einem Hügel wächst, erzählte mir Mutter, darunter...


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