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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Gross Als Paul die Wirklichkeit entdeckte

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-7412-4922-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Paul Zeidler muss wegen Holzasthmas seinen Schreinerberuf aufgeben. Das stürzt ihn in eine Krise. Zunehmend beginnt er, die Realität um sich her als unwirklich zu empfinden. Eines Tages entdeckt er, dass die Welt aus einzelnen 'Wirklichkeiten' besteht, für die er Sätze und kurze Texte findet. Sie geben ihm Sicherheit und versichern ihn immer wieder der Zuverlässigkeit der Realität. Er beginnt, aus allem und jedem, aus dem Alltag wie aus seinen persönlichen Erlebnissen, eine Wirklichkeit zu machen. Schorsch, sein Freund, ermutigt ihn, während seine Freundin Sara damit nichts anfangen kann. Auch Marie, Studentin in der Nachbarstadt, verfolgt seinen Rückzug in eine hermetische Eigenwelt eher mit Besorgnis. Und dann ist da noch die Afrikanerin Ayo, in die Paul sich verliebt. Als die Wirklichkeiten schließlich zur Obsession werden, findet er eines Tages in einem unscheinbaren Huflattich die Wirklichkeit hinter allen Wirklichkeiten.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 in Reutlingen. Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012); Die Welt meiner Schwestern (BoD 2014); Das Glücksversprechen (BoD 2014); Yûomo (BoD 2014); Haus der Stille (BoD 2014); Schrödingers Kätzchen (BoD 2015); Drei Tage Wicklow (BoD 2015); Haut (BoD 2015); Halleluja (BoD 2015); My sweet Lord (BoD 2016); Holiday (BoD 2016); Assmanns Inferno (BoD 2016); Der letzte Geschichtenerzähler (BoD 2016); Am Ende des Regenbogens (BoD 2016); Als Paul die Wirklichkeit entdeckte (2016) u.a.
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Draußen sang die Amsel. Paul ließ den Rollladen halb herab, erste Lichter im Blau, er saß am Fenster am Schreibtisch und wusste nicht, was er tun sollte. Paul Desmond hatte er aufgelegt, das sanfte Saxophon blies Herbstlaub über den Marktplatz, dessen Stimmengewirr bis zu ihm herauf drang in seine Dachwohnung. Das alles mal aufschreiben, dachte er. Eine Geschichte. Curriculum vitae. Das Leben als Geschichte, die Welt als Wille und Vorstellung, Fakt und Fiktion, Dichtung und Wahrheit, oder überhaupt sich erst einmal ein Bild machen von dem allem, was um einen herum geschieht. Geschrieben hatte er lange nicht mehr. Damals, während der drei Semester, die er nach dem Abitur in Tübingen studierte, schrieb er viel. Auch Tagebuch. So etwas Ähnliches schwebte ihm jetzt auch vor. Er wusste nicht warum. Es war eine Art Notwehr. Ein Drang. Eine Sehnsucht. Er brauchte etwas, auf das er sich verlassen, das er hautnah spüren konnte. Er brauchte etwas Handfestes um sich herum, damit er nicht verloren ging, wegdriftete, sich auflöste. Und das Selbstgespräch bot wenigstens die Möglichkeit, ganz bei sich selbst zu sein. Er war kein philosophischer Mensch. Dachte er zumindest. Eigentlich hatte er sich immer als ganz normal betrachtet. Philosophiert hatte er während der drei Semester natürlich schon, es war ja sein Studienfach, aber er kam damit nicht zu Rande. Er begriff gar nicht, welches Problem die Philosophen jeweils behandelten. Er konnte es nicht nachvollziehen. Wenn einer über die Frage philosophierte: Was ist Wirklichkeit?, verstand er schon die Frage nicht. Deswegen hat er wohl auch aufgehört. Später, als Schreiner, hatte er mit den Kollegen und Freunden am Stammtisch öfter philosophiert, was sie so nannten. Philosophie war das sicher nicht, aber sie machten sich eben Gedanken über alles Mögliche, Politik, die wirtschaftliche Entwicklung, die Menschen, das Leben – so Sachen halt. Es zeigte, dass sie nicht alles hinnahmen, wie es kam. Bis vor Kurzem war er noch jeden Freitagabend am Stammtisch gesessen, beim Griechen in der Oberamteistraße. Ein Vierteljahr war das her. Seither hatte sich vieles verändert. Mit der Veränderung kam Paul nicht klar. Ich meine, dachte er, wie soll man das auch begreifen? Da richtet man sich ein Leben ein, findet nach einer Zeit des Suchens und Zweifelns einen soliden Handwerksberuf, arbeitet gern mit Holz, dem schönsten Werkstoff, den es gibt, hat seine zwölf Jahre regelmäßige Arbeit, ist soweit zufrieden und hat sein Auskommen – und auf einmal wird alles in Frage gestellt. Auf einmal soll man sein Leben neu entwerfen, einen neuen Beruf finden, alles anders machen. Wie soll das gehen? Wenn er so durch den Tag ging, der jetzt viel weniger vorgegeben war als früher – er hatte viel Zeit, vielleicht war das ja der Fehler, dachte er – und wenn er so seine Sachen erledigte und Menschen begegnete und einkaufte und kochte und Tee trank und das alles, dann hatte er nicht das Gefühl, dass das alles sinnvoll war. Es war eine halb wache Verstrickung in ein unwirkliches Geflecht von Zusammenhängen, das zwar Kausalität besaß, aber keinen Sinn. Einen Sinn, mit dem er etwas hätte anfangen können, etwas Neues zum Beispiel. Das Neue aber war nicht gut. Das Neue waren die Beschwerden. Er könnte sie aufzählen: Asthmaanfälle, Hautausschlag, Halsschmerzen, Bronchitis, aber das hatte nichts mit dem Gefühl der Unwirklichkeit, sondern mit seinem Holzasthma zu tun. Wie konnte so eine chemische Abwehrreaktion eine ganze Biographie aushebeln? Hatte er sich bisher eine falsche Vorstellung von seinem Leben gemacht, von sich selbst? Hatte er etwas für Wirklichkeit gehalten, was gar nicht wirklich war? Hatte er sich an Dingen, an Vorstellungen und Bedeutungen festgeklammert, die in Wahrheit gar keinen Halt gaben? Nutzlose Grübeleien. Stattdessen sollte er darüber nachdenken, was er jetzt machen sollte. Seit der Reha. Seit der Diagnose und der drohenden Berufsunfähigkeit. Herausfinden, wer er war, er, Paul Zeidler. Das sagten sie ihm in dem Umschulungsseminar, das er vom Arbeitsamt aus in Tübingen machte. Statt herauszufinden, ob er umschulen sollte oder nicht, ging es um Stärkeprofile und Analyse der Lebensgeschichte. Vielleicht kam alles daher, dass er jetzt so viel freie Zeit hatte. Diese nutzlose Zeit. War ihm früher nie aufgefallen. Da hatte er um diese Zeit gearbeitet, Fensterrahmen und Türen abgeschliffen, gefräst, gesägt. Jeder Atemzug eine geballte Ladung Holzstaub in die Lungen. Daran musste er jetzt denken. Ich hab’s mir selber eingebrockt, dachte er. Ich kann an nichts Anderes mehr denken als an dieses verdammte Holzasthma. So geht das schon seit Monaten. Sara sah es optimistisch. Er habe plötzlich ganz neue Möglichkeiten. Er könne sich eine Stelle als Möbelschreiner suchen, da habe er weniger mit Staub zu tun. Oder er könne umsatteln auf Arbeitserzieher oder Ergotherapeut, Berufsschullehrer, lauter solche Sachen. Auch der Mann vom Arbeitsamt hatte das überzeugend dargelegt. Möglichkeiten gab es. Sara war loyal. Aber gerade mit Sara hatte es ja angefangen. Vor drei Monaten, zuerst nur selten, dann immer öfter. Anfangs hatte es ihn sehr irritiert; er war mit Sara zusammen und sie aßen etwa in einem Restaurant zu Abend und küssten sich, und er schaute dem Ganzen zu wie durch eine Glasscheibe. Als würde es gar nicht ihm passieren. Er hatte sich und seine Gefühle für Sara ernsthaft hinterfragt, bis er feststellte, dass das mit ihr als Person nichts zu tun hatte. Es war ein grundlegendes Phänomen: Er hatte die Wirklichkeit verloren. Er hatte Sara verloren. Ihre Nähe, die bisher unbezweifelbar gewesen war. Oder besser: über die er nie nachgedacht hatte. Sie war da gewesen, ganz von selbst. Und jetzt spürte er zwischen ihnen eine Entfernung, eine Entfremdung, als wüsste er gar nicht, wer sie war. Als wüsste er gar nicht mehr, wer er selber war. Sara war ziemlich eingespannt mit ihrem Design-Büro. Eigentlich die perfekte Frau, dachte Paul. Selbstbewusst, zielgerichtet, tolerant, aufgeschlossen – er wusste gar nicht, was sie von ihm wollte. Irgendetwas wollte sie von ihm, das war offensichtlich, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr irgendetwas zu geben hatte. Deine Ruhe, sagte sie immer. Dein Pragmatismus. Fels in der Brandung. Ich weiß ja nicht, dachte Paul. Ob sie da nicht einem Selbstbetrug aufsitzt? Paul, hatte sie einmal gesagt, was bist du nur für ein Mensch?, nicht bewundernd, aber so erstaunt, als hätte sie ihn eben erst kennen gelernt. Ich hab dich lieb. Was soll man da sagen? Er selber wusste nicht mehr, was er von sich halten sollte. Wie gesagt, er hatte sich eigentlich für ganz normal gehalten. Bis jetzt. Aber was hieß denn normal? Gab es einen einzigen Menschen, der normal war? Konnte man denn auch nur zwei Menschen auf einen Nenner bringen? Normal wäre, Schreiner zu sein bis zur Rente, mit Sara zusammenzuziehen und Kinder zu haben und vielleicht irgendwann ein Haus zu bauen – aber da würde Sara wahrscheinlich gar nicht mitmachen. Normal wäre, Türen zu schleifen und freitags am Stammtisch zu sitzen und sich ab und zu den Luxus einer philosophischen Erörterung zu gönnen. Stattdessen hatte er ernsthafte Probleme damit, normal zu sein. Paul Desmond. Herbstlaub. Der laue Rest in der Teetasse. Gedanken. Was soll ich tun? Wie soll das weitergehen? Bei günstiger Prognose sei ein Rückkehr in den Beruf durchaus möglich, hieß es. Prognose? Von wegen! Paul hatte keine Prognose. Er hatte nicht einmal eine Zukunft. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wo er in einer Woche sein würde, geschweige denn in den nächsten Jahren. Zuerst musste er herausfinden, was er wollte. Das war das Problem, glaubte Paul. Wenn er nicht wusste, wer er war, konnte er auch nicht wissen, was er wollte. Das waren seltsame Gedanken für einen Schreiner. Manchmal hatte er das Gefühl, als säße ein Fremder in ihm und entfaltete plötzlich ein unbekanntes Leben. Er konnte ihm nicht die Kontrolle überlassen, wer wusste, wohin er ihn führen würde? Einerseits könnte er endlos so weiter machen wie jetzt: einkaufen, kochen, essen, Tee trinken, und versuchen, aus allem schlau zu werden. Nichts entscheiden müssen. Andererseits war das unerträglich. Er hatte das Gefühl, sein Leben zu verpassen, seine restlichen Tage sinnlos zu vergeuden. Ein namenloses, zielloses Leben, das im Grunde leer und hohl war. Er musste etwas tun, so oder so. Sara und er tranken Tee. Darauf freute sie sich immer: auf ihre gemeinsame Teestunde. Paul veranstaltete sie gern. Tee war eine Passion von ihm, und er freute sich, wenn er das mit jemandem teilen konnte. Dann wählte er die Kanne passend zur Teesorte, die Tassen oder Schalen ebenso, spannte den Papierfilter in den Halter ein, füllte ihn mit Tee aus der Blechdose, das Wasser musste sprudeln, aufgießen, Ziehzeit je nach Sorte, heute Abend waren es drei Minuten für einen Keemun, den Halter herausnehmen, ein Schälchen mit Kandis, eines mit Sahne, ein Tellerchen mit schokoliertem Ingwer, alles schön hergerichtet auf dem Lacktablett – das gefiel Sara sehr. Dann wurde sie ganz weich, und er merkte, dass sie nicht nur die energische Managerin ihres...


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