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E-Book, Deutsch, 171 Seiten

Reihe: Essay [KUP]

Groebner Aufheben, Wegwerfen

Vom Umgang mit schönen Dingen

E-Book, Deutsch, 171 Seiten

Reihe: Essay [KUP]

ISBN: 978-3-8353-9753-8
Verlag: Konstanz University Press
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was macht den Reiz der Gegenstände aus, mit denen wir uns umgeben? Was geschieht mit ihnen, nachdem wir sie in Besitz genommen haben? Und wie verändert sich das Verhältnis zwischen den Dingen und ihren Betrachtern im Laufe der Zeit?

Sie stehen auf unseren Schreibtisch, oder auf den Nachttischchen. Wir hängen sie an die Wand oder tragen sie diskret in der Tasche: die ganz persönlichen Dinge. Egal, ob wir sie Amulett, Talisman oder Erinnerungsstück nennen: Sie begleiten uns überall hin, wo wir länger bleiben. Wir basteln kleine Privataltäre für sie und finden sie schön – aber was heißt das? Und woher kommt der Zauber, den diese ganz persönlichen Gegenstände auf uns ausüben?
Aufheben, Wegwerfen verfolgt die Geschichte unserer Glücksbringer und Souvenirs von den Wohnzimmern des 21. Jahrhundert zurück in die materielle Kultur des Mittelalters mit ihren magischen Steinen, Bildern und Rosenkränzen. In den wohlhabenden Industriegesellschaften der Moderne haben sich auch die persönlichen Besitztümer explosiv vermehrt. Sie füllen unsere Keller, Dachböden und Schränke in einem Ausmaß, dass wir sie manchmal gerne wieder loswerden würden und von einem Leben träumen mit ganz wenigen Dingen, den richtigen, wichtigen. Ökologisch sinnvoller wäre es ohnehin – aber geht das? Ein Essay über die schönen Alltagsdinge, über Magie, schlechtes Gewissen, die Utopie der rabiaten Reduktion und das tägliche Durcheinander.
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Autoren/Hrsg.


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1 Das diskrete Unentbehrliche
Bury your treasure where it can’t be found Bury it deep in hallowed ground (The Violent Femmes, Hallowed Ground, 1984)   Die Wohnung des Kollegen. Der große Tisch im Wohnzimmer ist zur Hälfte bedeckt mit neu gekauften Büchern, in großen Stapeln. An der Wand dahinter hängt ein Foto, das ihn, seine Mutter, seine Exfreundin, deren Mann und deren Sohn zeigt. Daneben ein Foto seiner Frau. Darunter ein verglaster Büroschrank aus den 1930er Jahren, in dem er die Erstausgaben aufbewahrt, die er in Antiquariaten gefunden hat. Daneben seine eigenen Bücher, in chronologischer Reihenfolge aufgestellt. Wenn ich zum Abendessen bei ihm eingeladen bin, nimmt er immer auf dem Stuhl genau davor bzw. darunter Platz. Das sieht gut aus, er ist dann sozusagen gerahmt von den Gegenständen, die ihm am wichtigsten sind. »Privataltäre« hat die Fotografin Rosa Schamal solche sorgfältige Zusammenstellung alltäglicher, aber bedeutungsvoller Dinge an den Wänden und auf den Ablageflächen in der eigenen Wohnung genannt. Sie schaffen innerhalb des jeweiligen Zimmers einen besonderen Raum, eine Art persönlichen Mikrokosmos. »Von einem Götzenbild zum nächsten«, notierte die Schriftstellerin Elizabeth Hardwick über ihre Besuche bei Freunden. »Jedes Haus ist ein Schrein.«[4] In meiner Wohnung gibt es auch solche Installationen. Ich möchte, dass sie sichtbar, aber nicht zu aufdringlich sind. Sie zeigen, dass ich hier wohne, erinnern mich daran, was mir wichtig ist und führen es auch anderen vor Augen. In praktisch jeder Wohnung wird an zentraler Stelle ein Gegenstand oder ein Bild präsentiert, das für seine Besitzerin oder seinen Besitzer dessen Unabhängigkeit verkörpert: das eigentliche Eigenste, die innere Burg, die geträumte Autonomie. In jeder Wohnung befindet sich an zentraler Stelle ein Gegenstand oder Bild, das als Stammestotem dient: Da komme ich her, dort gehöre ich hin, das ist mein Ahne, mein Schutzgeist, mein Häuptling. Und in jeder Wohnung steht ein Ding oder hängt ein Bild, dass für ihre Bewohner die Zukunft darstellt – die angestrebte Veränderung, die Utopie, den großen Wunsch, Sinnbild, Accessoire und ein Unterpfand des zukünftigen guten Lebens der- oder desjenigen, die es aufgehängt oder hingestellt hat. Über diese magischen Gegenstände dürfen nur diejenigen Witze machen, denen sie gehören und die sie aufgestellt oder aufgehängt haben, die anderen nicht. Altäre und Totems
»The Burning House« heißt der Blog auf tumblr. Wenn dein Haus brennt, wird dort gefragt, und du kannst maximal zehn Dinge einpacken, für welche würdest du dich entscheiden? »Das ist der Konflikt zwischen dem Praktischen, dem Wertvollen und dem Sentimentalen. Was Du mitnimmst, zeigt Deine Interessen, Deine Herkunft und was Dir am wichtigsten ist. Nimm es als ein Interview, kondensiert in eine einzige Frage.«[5] Wer weiter klickt, bekommt dann die Ich-Dinge präsentiert, ohne die es nicht geht im Ernstfall, in langen Serien, ausgebreitet auf einem Tisch oder auf dem Fußboden: Badeanzüge (zwei), ein Laptop, Schuhe. Kinderzeichnungen. Familienfotos. Oder: eine Kamera. Zeichenstifte. Ein Fotoalbum. Oder: eine E-Gitarre, ein Skateboard, Brille, Uhr, Taschenmesser. (Aber keine Schuhe.) »The Burning House« zeigt erstaunlich viele Stofftiere, analoge Kameras und Notizbücher. Auch eine Handfeuerwaffe, aber nur eine. Nur ein einziges Kind ist zu sehen, aber die meisten der Personen, die hier zwischen 2011 und 2019 ihre allerliebsten Gegenstände dokumentiert haben, waren damals zwischen 15 und 29. Ein 67jähriger zeigt seine Golfschläger und seine Medaillen. Einer hat nur seine Autoschlüssel und seinen Führerschein geknipst. Initiiert hatte den Blog der amerikanische Fotograf und Designer Foster Huntington im Mai 2011, der daraus später ein Fotobuch und einen Film gleichen Namens daraus gemacht hat, jeweils mit der bohrenden Frage als Untertitel: »Was würdest Du mitnehmen?« Alle diese Dinge sind offensichtlich aufgeladen mit psychischen Eigenschaften: Die Wirkungen, die sie auf ihre Besitzerinnen und Besitzer ausüben, sind von ihrem schlichten Gebrauchs- und Tauschwert abgekoppelt und gehen weit darüber hinaus in andere, schwerer beschreibbare Bereiche. Die Freundin schreibt mir von dem Fortbildungskurs in Arbeitsmanagement und Selbstfürsorge, den sie im Frühjahr 2021 absolviert hat. Dort wurde den Teilnehmern empfohlen, sich eine Figur auf den Schreibtisch zu stellen, die das Recht aufs Nein-Sagen verkörpere: Der Gegenstand, der einem die eigene Entscheidungsfreiheit präsent mache, die man immer habe und so leicht vergesse. Ein solcher Gegenstand, mit dessen Hilfe man sich der eigenen Person untrüglich versichern kann, spielt in Christopher Nolans Film INCEPTION von 2010 eine entscheidende Rolle. INCEPTION handelt von der technischen Möglichkeit, Träume (und Träume innerhalb von Träumen) zu konstruieren und dadurch in das Unbewusste anderer Personen einzudringen. Im Film wird diese aufwendige Prozedur für Industriespionage ebenso verwendet wie für das Einpflanzen einer Idee in den Kopf einer anderen Person, die sie für ihre eigene hält – daher das Titelwort, angelehnt an »deception«, Täuschung. Christopher Nolans Film ist nicht nur kluge Reflektion über das Wesen des Kinos als industriell gefertigter Traum (in ihm fällt der wunderbare Satz: »Kommen sie mit mir an den Ort, wo wir beide wieder junge Männer sein können«), sondern auch über die besondere Versicherung, die in einer Welt der Simulation von materiellen Gegenständen ausgeht. Denn in INCEPTION trägt jeder der kühnen Traumreisenden einen kleinen materiellen Gegenstand mit sich, dessen Berührung ihm die Möglichkeit gibt, sich darüber zu vergewissern, ob er sich in der Wirklichkeit befinde oder nicht. Er wird »Totem« genannt. Bräuche und Rüstungen
Rituale und Bräuche, bilanziert der Historiker Frank Trentmann trocken, seien nicht einfach Kennzeichen vormoderner, sondern mindestens ebenso so sehr moderner Gesellschaften. Diese Rituale rund um besondere Gegenstände, die wir im 21. Jahrhundert in unserem Alltag ununterbrochen und mit großer Hingabe und Selbstverständlichkeit befolgen, sind der blinde Fleck jener vielen besorgten modernen Gelehrten, die wie Bruno Latour ebenso beredt wie melancholisch über die vermeintliche »Dingvergessenheit« der modernen Sozialtheorien geklagt haben oder, wie ganze Generationen vor ihm, über die Kolonisierung und Zerstörung »traditioneller« Bräuche durch die modernen Industrie- und Konsumgesellschaften. Wir schreiben vielen Gegenständen in unserem Alltag ohne weiteres Handlungsfähigkeit, Intentionen und sogar Wahrnehmungsfähigkeit zu. Wir fühlen uns persönlich betrogen, wenn sie plötzlich aufhören zu funktionieren, und betrachten ihre absichtliche Beschädigung durch andere als persönliche Verletzung – der Ethnologe Alfred Gell hat das »vehicular animism« genannt. Bei Autos und Computern ist das besonders offensichtlich, aber es gilt für ziemlich viele Gegenstände unseres persönlichen Bereichs. Wir glauben, das Gegenstände die Essenz einer Person annehmen und nach ihrem Tod weiter bewahren können – würden wir sonst Familienerbstücke aufbewahren? Wir glauben, dass besondere Gegenstände den Ablauf der Zeit verlangsamen oder sogar anhalten und dass wir mit ihrer Hilfe unsere Erinnerungen sicher aufbewahren; ihr Verlust wird als bedrohlich empfunden, als ob mit ihnen auch ein Teil der eigenen Geschichte verschwinde.[6] Peinlich genau befolgte Riten und Zeremonien prägen unseren Alltag, im Zusammensein mit anderen wie im allerprivatesten Bereich. Das gilt nicht nur für die Geschichte des Weihnachtsfests oder des Skiurlaubs im wohlhabenden Mitteleuropa, sondern erst recht für den Umgang mit den Dingen, die wir kaufen, erben oder geschenkt bekommen und mit Bedeutungen aufladen.[7] Kurz, die eigenen Dinge sind nicht passiv. Sie enthalten stumme, aber stark wirksame Direktiven, auf welche Weise sie benutzt werden können und sollen. In ihnen existieren lang vergangene und verschwundene Ereignisse und Personen weiter, als wirkmächtige Materialisationen von Vergangenheit. Dinge sind aber auch materialisierte Pläne. Sie weisen auf zukünftige Zustände und lassen sich als Veränderungsgegenstände beschreiben, die mir ermöglichen, etwas neu und anders zu tun und mich selber dabei und damit in eine gewünschte Richtung zu verwandeln. »Intensiv ist, was sich der Kategorisierung entzieht und sich nicht reduzieren lässt«, hat der Philosoph Tristan Garcia geschrieben.[8] In den Dingen, die ich als besonders schön empfinde, ist diese Intensität sozusagen gespeichert. Denn die schönen Dinge werden von ihren Besitzerinnen und Besitzern nicht immer und nicht ausschließlich dafür gebraucht, wofür sie gemacht worden sind. Davon zeugt schon ein flüchtiger Blick in die Wohnungen von Freunden und Kolleginnen – und in meine eigene sowieso. Die Bücher, die mir besonders wichtig gewesen sind, sind eben nicht nur Texte, sondern auch sprechende Gegenstände im ganz wörtlichen Sinn. Deswegen werden die Freud-, Foucault-, Barthes- oder Deleuze-Ausgaben, je nach eigener Vorliebe und Lesebiografie, so gut sichtbar an einem zentralen Ort präsentiert. Zuerst sind sie Veränderungsgegenstände, ein Unterpfand der eigenen Verwandlung durch Lektüre. Dann werden sie...


Groebner, Valentin
Valentin Groebner ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. Er hat zahlreiche Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte vorgelegt. Bei KUP erschienen Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat (2020), Wissenschaftssprache digital (2014) und Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung (2012).


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