Deutsche Soldaten im Feuer der Taliban | Was Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan erlebt haben
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3537-7
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolf Gregis, geboren 1981, absolvierte eine Offiziersausbildung bei der Bundeswehr und diente 2008/2009 im Auslandseinsatz in Afghanistan. Er studierte Germanistik, Ge-schichte, Bildungswissenschaften und Sprachliche Kommunikation und Kommunikationsstörungen. Als Lehrer unterrichtet Wolf Gregis Deutsch und Geschichte an einem Rostocker Gymnasium. 2022 begründet er mit Helm ab - Ein Veteranencast den größten nicht-institutionellen Podcast zu den Themen Bundeswehr, Soldaten und Veteranen in Deutschland. Darüber hinaus macht er in verschiedenen Medienkampagnen wie #20JahreDesinteresse auf die Lage deutscher Veteranen aufmerksam.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
»Das Scheißding kommt mit zurück.«
Die Suche nach der verlorenen Drohne
Karfreitag, 2. April 2010, gegen 12:00 Uhr, am Rand des Vororts von Isa Khel. Naef kämpfte am Bediengerät. Eine Windböe hatte die Drohne erfasst. Jetzt verlor er die Kontrolle. Wie hoch sie flog, wo genau sie gerade in der Luft schwirrte, er wusste es nicht mit Sicherheit. Er spürte nur: Sie entglitt ihm. Nicht einmal in welche Richtung, konnte er sagen. Es war sein erster Einsatz der Mikado in Afghanistan. Der Lehrgang lag Monate zurück, geübt hatte er zu Hause nicht. Anderes hatte Vorrang, es ging immerhin nach Afghanistan. Auch für ihn zum ersten Mal. Kämpfen, Schießen, Sanität, das hatte Vorrang. Im Frühjahr 2010 in den Einsatz nach Kunduz zu gehen, bedeutete für eine Fallschirmjägerkompanie eines sicher: Feindkontakt. Und jetzt entglitt ihm die Drohne. Über Isa Khel im Chahar Darreh. Ausgerechnet Isa Khel. Darauf hatte er sich nicht vorbereitet. Naef ruckte an den Steuerhebeln, suchte nach markanten Geländepunkten, doch mit der Videobrille auf dem Kopf hatte er die Orientierung schon verloren. Ohne Übung verlor man leicht die Übersicht, vor allem, was den eigenen Standort betraf. Was die Drohne sah, sah man auch, aber wo stand man im Verhältnis zur Drohne, wenn sie sich drehte? Die Übertragung war spiegelverkehrt, und schon dreißig Grad Hitze in der Mittagssonne machten dem sensiblen System zu schaffen. Es war für Mitteleuropa konstruiert worden. Schwarz-weiß flimmerte die Übertragung auf Naefs Netzhaut: ein stakkatoartiges und unregelmäßiges Zucken auf und ab, dass einem schlecht werden konnte. Ein abgehacktes Rucken bei jeder Lenkbewegung, sodass das Gehirn die Informationen aus Auge und Gleichgewichtsnerv nur schwer abstimmen konnte. Naef drohte ins Wanken zu geraten. Farbschlieren behinderten die Sicht, zogen sich quer durchs Bild, als hätte man zu lange in die Sonne gestarrt. Aber Naef gab nicht auf. Auch nicht gegen den Wind. Die 1300 Gramm leichte Drohne rang mit dem schweren afghanischen Wind. Vom Hindukusch im Süden fegte er durch das fruchtbare Tal des Kunduz River. Er trug den Staub und Sand des Landes durch die zwölf Kilometer breite Oase zwischen den Hängen der Ost- und Westplatte hindurch wie durch einen Windkanal. Und jetzt hatte er die Mikado-Drohne erfasst. Die vier kleinen Elektromotoren hatten ihm nichts entgegenzusetzen. Naef spürte, wie die Drohne den Kampf verlor. Der Oberfeldwebel zog die Videobrille vom Kopf und blinzelte. Die Farbe kehrte zurück in seine Augen. Vor ihm erstreckten sich linker Hand grüne Felder bis zum Fluss. Es war April, der Weizen in seiner Schossphase stand bereits kniehoch. In schmalen Streifen von oft kaum hundert Meter Länge reihte sich Parzelle an Parzelle. Baumreihen markierten die Bewässerungsgräben dazwischen. Jene zerschnitten das Gelände, machten es unübersichtlich. Die Gräben machten es gefährlich. Manche waren über zwei Meter tief, selbst Riesen wie Naef, den nur drei Zentimeter von der Zwei-Meter-Marke trennten, konnten in ihnen verschwinden. Ganze Kompanien hätte man darin unbemerkt verschieben können. Auf ihren nächtlichen Streifen rund um die befestigten Höhen 431 und 432 hatten seine Kameraden die Gräben oft genug selbst genutzt. Der Feind tat es auch. Der ruhte noch in Isa Khel. Zumindest war es ruhig an diesem Freitagmittag. Für die Afghanen war der Freitag, was der Sonntag für Christen war: ein heiliger Tag. Die Ortschaft lag vor Naef, aber kaum etwas bewegte sich. Wahrscheinlich waren alle noch zu Hause. Nicht, dass er viel vom Ort hätte sehen können. Lehmmauern versperrten den Blick auf den Ortskern von Isa Khel. Er stand hier am Rand eines namenlosen Vororts. Vierhundert Meter in der Länge, einhundert in der Breite lag er wie ein mittelalterliches Torhaus vor der Kreuzung in den Hauptort. Wie dieser war er drei Meter hoch ummauert. Wenn die Afghanen Grundstücke absteckten, pflanzten sie Bäume und ließen sie jahrelang wachsen. Sie hatten Zeit. Wenn die Setzlinge groß und stark genug, aber noch biegsam waren, beschnitten sie die Äste und nutzten sie als natürliche Bewehrung für den Lehm, den sie Schicht um Schicht auftrugen. Am Ende stand eine massive Compoundmauer, ein meterdickes Bollwerk. Jedes Dorf eine Festung aus Mauern und labyrinthischen Gassen: schmal, unübersichtlich, jede Bewegung kanalisierend. Ausweichmöglichkeiten gab es nicht. Deshalb hatte Naef die Mikado hier gestartet. Er war das Auge seiner Kompanie. Die schwere Infanteriekompanie schob sich in seinem Rücken, vierhundert Meter entfernt, Meter um Meter voran. Belgische Kampfmittelräumer und deutsche Pioniere suchten die Straße Little Pluto Richtung Süden nach Sprengfallen ab. Die Little Pluto galt als Hauptschlagader des Distrikts. Wer sie beherrschte, beherrschte den Distrikt. Naefs Zug aus Seedorf, der nach dem NATO-Alphabet Golf genannt wurde, sicherte die Belgier bei der Räumung. Zwei Schützenpanzer Marder aus dem Hotel-Zug der Panzergrenadiere aus Oberviechtach schepperten in Schrittgeschwindigkeit hinterher und überwachten das Vorfeld. Die schweren 20-Millimeter-Bordmaschinenkanonen schwenkten das Gelände ab. Wo das Rasseln der Panzerketten zu hören war, zeigte sich kein Feind. Dem Schnellfeuer der 20-Millimeter-Kanonen war kein Taliban gewachsen. Nur der Foxtrot-Zug blieb außen vor. Wieder einmal. Ein Teil war zwei Kilometer entfernt auf der Höhe 431 abgestellt und beobachtete die schläfrige afghanische Landschaft. Der andere Teil saß siebenhundert Meter entfernt auf der Höhe 432 und starrte auf die Felder im Westen. Die Kompanie hatte die Höhe 432 vor zwei Wochen in mehrtägigen Kämpfen genommen und angefangen, sich dort einzugraben. Schanzen spart Blut, lautete seit jeher eine Soldatenweisheit. Der Hügel war der am weitesten vorgeschobene Posten der internationalen Schutztruppe im Unruhedistrikt Chahar Darreh, ein Combat Outpost im Indianerland, wie man hier sagte. Schon lange hatte sich niemand mehr weiter nach Süden gewagt. Aus gutem Grund. Wo sich die Straße aus Isa Khel mit der Little Pluto kreuzte, begann das Talibangebiet. Feindesland. Ihre Hochburgen lagen dort: Isa Khel und Quatliam. Jeder wusste das. Aber heute rollte die 1. Infanteriekompanie in ihren Vorgarten. »Wo geht es hier zur Feuereröffnungslinie?«, hatten die jungen Männer nach ihrer Ankunft in Kunduz gescherzt. Seitdem hatten sie den Grenzstein Meter um Meter nach vorn gesetzt. Fallschirmjäger und Panzergrenadiere – mehr Kampfkraft konnte man in einer Infanteriekompanie nicht vereinen. Und heute drangen sie wieder ins Talibangebiet ein. Hauptfeldwebel Nils Bruns hatte sich frühzeitig mit den zwei Gruppen seiner Oberfeldwebel Naef Adebahr und Stefan Rindfleisch, den alle nur Fleesch nannten, von der Hauptkolonne getrennt. Über einen schmalen Umgehungsweg waren sie an den Rand des Vororts vorgestoßen. Sie konnten sich nicht sicher sein, ob der Weg frei von improvisierten Sprengfallen war, aber dass die Einheimischen ihn ebenfalls nutzten, war ein gutes Zeichen. Seiner Kompanie vorgelagert, hatte Naef die Mikado aufgebaut und gestartet. Frühzeitig Feindbewegungen aufzuklären, war sein Auftrag. Alles wie geplant. Aber dann verlor er die Kontrolle über die Drohne. Naef suchte mit bloßem Auge den Himmel ab. Es war mittags, und die Sonne stand hoch. Zwar bedeckten Wolken den Himmel wie eine blaugraue Tapete, aber die Temperaturen begannen trotzdem zu drücken. Gestern waren sie schon auf 43 Grad geklettert. Die Wolken heute boten kaum Linderung. Aber sie waren trotzdem Naefs Glück. Gegen die grelle afghanische Sonne hätte er nichts gesehen. Wo war die Mikado? Eine schwarzgrüne Drohne mit einem Körper von nicht einmal zwanzig Zentimetern Durchmesser. Den sie umgebenden dünnen Drahtring hätte er auf die Entfernung sowieso nicht gesehen. Fünfhundert Meter Reichweite sollte sie mindestens haben, tausend nach Herstellerangaben. Unter diesen Witterungsbedingungen schaffte sie vielleicht dreihundert oder vierhundert. Naef scannte den Himmel ab. Da entdeckte er die Mikado im Osten, geradewegs hinter dem Vorort. Sie trudelte bereits abwärts. Naef lehnte sich nach hinten und schlug die Joysticks am Bediengerät hart an, aber das Funksignal war längst abgerissen. Wie sehr er auch zog, die Drohne war verloren. Der Wind drückte sie zu Boden. Jenseits einer Baumreihe in vierhundert Meter Entfernung ging sie nieder. Wo genau, konnte er nicht erkennen. Zweiundzwanzigtausend Euro, aber keine automatische Rückholfunktion. Einfach abgestürzt. Naef drehte sich zur Straße in seinem Rücken. Die Kompanie schob sich in der Ferne langsam voran. Ein IED-Sweep war Puzzlearbeit. Eine Ostereisuche nach Sprengsätzen. Der Wind wehte das Grummeln der Marder-Motoren herüber. Irgendwo in der Kolonne rückte auch Mario Kunert vor. »Golf, hier Whity«, funkte Naef seinen Zugführer an, »die Mikado ist abgestürzt. Ich wiederhole, die Mikado ist abgestürzt.« Keine Reaktion. Naef schaute zu seinem stellvertretenden Zugführer hinüber, etwa hundert Meter entfernt. Nils richtete sich auf und sah zu Naef. Der Funk blieb still. Naef warf einen Blick auf seine Männer. Alle hielten ihre Beobachtungsbereiche ein. Da setzte er sich in Bewegung und meldete Nils den Absturz. »Wo ist...