Problem- und lösungsorientierte Kommunikation in helfenden Berufen
E-Book, Deutsch, 306 Seiten
ISBN: 978-3-8233-0182-0
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Assoz. Prof. Dr. Eva-Maria Graf lehrt Angewandte und Englische Sprachwissenschaften an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Darüber hinaus arbeitet sie als professioneller Coach im Bereich Hochschulen und Wissenschaften. Dr. Claudio Scarvaglieri ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Basel und leitet dort das Forschungsprojekt 'Urbane Mehrsprachigkeit in der Schweiz: Sprachliche Praktiken und Spracheinstellungen.' Prof. Dr. Thomas Spranz-Fogasy ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Sprache (Mannheim) und lehrt Linguistische Gesprächsanalyse an der Universität Mannheim.
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1. Veränderung als raison d’être helfender Berufe
Im Zentrum helfender Berufe wie Medizin, Physiotherapie, Psychotherapie, Beratung und Coaching steht die professionelle Interaktion zwischen Expert*innen und Klient*innen, welche die Klient*innen dabei unterstützen soll, „ihre physische, psychische, intellektuelle und/ oder emotionale Verfassung zu verändern, zu stärken oder Probleme im Zusammenhang damit zu lösen“ (Graf und Spranz-Fogasy 2018b, s. auch Miller und Considine 2009). Veränderung ist der primäre Zweck helfender Berufe, er strukturiert die helfende Interaktion und macht sie von anderen Interaktionsformen unterscheidbar. Der kommunikative Prozess, der Veränderung entweder begleitet (etwa in der Medizin und Physiotherapie) oder ursächlich hervorbringen soll (wie in Therapie, Beratung oder Coaching), ist sprachwissenschaftlich auch bereits mehr oder weniger intensiv erforscht worden (neuere Überblicke etwa bei Pick (Hrsg.) 2017 und Graf und Spranz-Fogasy 2018b, s. auch Graf, Sator und Spranz-Fogasy (Hrsg.) 2014; Busch und Spranz-Fogasy 2015). So wurden etwa einzelne Praktiken (z.B. Bercelli, Rossano und Viaro 2008; Antaki 2008; MacMartin 2008; Spranz-Fogasy 2010; Weiste und Peräkylä 2013), übergeordnete Formate und Mechanismen des Gesprächs (Voutilainen, Peräkylä und Ruusuvuori 2011; Bercelli, Rossano und Viaro 2013; Scarvaglieri 2013; Spranz-Fogasy 2014; Graf 2019) wie auch Prinzipien, an denen sich die Interagierenden orientieren (Ferrara 1994; Pain 2009; Pawelczyk 2011) detailliert beschrieben. Dieses Wissen über die die Interaktion prägenden Strukturen wurde jedoch nur vereinzelt mit dem Zweck helfenden Handelns, dem Auslösen hilfreicher Veränderungsprozesse auf Seiten der Klient*innen, in Beziehung gesetzt (aber siehe Voutilainen, Peräkylä und Rusuuvuori 2011; Voutilainen, Rossano und Peräkylä 2018; Pawelczyk und Graf (Hrsg.) under review). Ein Überblick über die Empirie von Veränderungskommunikation sowie ein systematisierender Zugriff auf dieses Phänomens fehlen bis dato. Der Ursprung der modernen Veränderungsforschung liegt in der quantitativ-operierenden, psychologischen Erforschung der Wirksamkeit von Psychotherapie, welche sich ihrerseits in Orientierung an Effektivitätsstudien in der Medizin (nach dem Modell des Randomized Controlled Trial, RCT) entwickelt hat. Dort eingesetzte Verfahren wurden in der weiteren Entwicklung z.B. auch in der psychologischen Coaching-Forschung verwendet, wo ebenfalls quantitative Outcome-Studien die Forschungslandschaft prägen. Die Wirksamkeit von helfender Kommunikation zu erforschen ist ein höchst komplexes Unterfangen: Bei Therapie, Coaching und anderen Formaten helfender Kommunikation handelt es sich nicht um physikalische Gegenstände, die man objektiv vermessen kann, sondern jeweils um ein Konglomerat an sozial und diskursiv konstruierten Handlungspraktiken, die jeweils individuell an die Bedürfnisse von Agent*innen und Klient*innen angepasst werden und sich in einem institutionell überformten Kommunikationsprozess wandeln. Veränderung bzw. Wirksamkeit von Kommunikation in helfenden Berufen wird insbesondere hinsichtlich Wirkfaktoren untersucht. Im Generic Model of Psychotherapy von Orlinsky, Ronnestad und Willutzki (2004), das als transtheoretischer Rahmen relevante Ergebnisse in Bezug auf den Zusammenhang von therapeutischem Prozess und Wirksamkeit integriert, wird hinsichtlich der das Ergebnis beeinflussenden Wirkvariablen zwischen Input-, Prozess- und Kontextvariablen unterschieden. Inputvariablen umfassen, was Agent*in und Klient*in/Patient*in in den Prozess einbringen. Dies können z.B. Persönlichkeitseigenschaften sein, die Veränderungsbereitschaft der Klient*innen, oder die Ausbildung der Agent*innen. Kontextvariablen verweisen darauf, dass sich die Klient*innen neben der Beratung in einem Umfeld bewegen, das den Beratungsprozess positiv oder negativ beeinflussen kann (vgl. Künzli 2018). Prozessvariablen wiederum beziehen sich auf das Geschehen innerhalb der helfenden Dyade. Im Kontext der Prozessvariablen identifiziert die etablierte quantitative Therapie- und Coachingwirkfaktorenforschung die therapeutische Beziehung, die Aspekte der Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung und motivationalen Klärung sowie die Problembewältigung als zentrale mediators and mechanisms of change (Kazdin 2009), d.h. als Wirkfaktoren. Diese wurden mittels statistisch ausgewerteten prä- und post-Interviews bzw. Fragebögen ermittelt (vgl. Grawe, Bernauer und Donati 1994; Gassmann und Grawe 2006 für die Psychotherapie oder z.B. Behrendt 2006, 2012 für Coaching). Allerdings sind die Fragen WIE bzw. WARUM diese Wirkfaktoren zu einer positiven Veränderung für die Klient*innen führen, bis dato nicht befriedigend geklärt bzw. von einem großen Teil der Forschung gar nicht gestellt worden. Zum einen ist es für die existierende psychologische Interaktionsforschung nur in Ansätzen möglich, der Komplexität menschlicher Kommunikation, die verbal, non-verbal und para-verbal abläuft, gerecht zu werden (vgl. Künzli 2018). Zum anderen ist ein Teil der Forschung primär am ‚Outcome‘ unterschiedlicher Verfahren interessiert und blendet den Prozess, der zu diesen Ergebnissen führt, als „Black Box“ (Elliott 2010: 124) aus (s. etwa Margraf 2009; kritisch Buchholz 2007). So formuliert Kazdin (2009: 418) für die Psychotherapie, „(a)fter decades of psychotherapy research and thousands of studies, there is no evidence-based explanation of how or why even the most well-studied interventions produce change.“ Ähnlich fordern de Haan, Bertie und Sills (2010: 110) qualitative Untersuchungen des Coachingprozesses: In order to understand the impact and contribution of executive coaching and other organisational consulting interventions, it is not enough to just understand general effectiveness or outcome. One also has to inquire into and create an understanding of the underlying coaching processes themselves, from the perspectives of both clients and coaches. Während die quantitativ operierende psychologische Outcome-Forschung den Blick also nahezu ausschließlich auf die Wirksamkeit verschiedener Therapieformen gerichtet hat, haben qualitativ operierende sprachwissenschaftliche Analysen helfender Interaktionen umgekehrt lange die Frage vernachlässigt, welchen Beitrag die beschriebenen kommunikativen Praktiken zur institutionell angestrebten Veränderung der Klient*innen leisten. Sie haben stattdessen ausschließlich das WIE, in dem diese Praktiken realisiert werden, im Blick gehabt (Elliott 2010: 129, Peräkylä 2013: ch. 4). Erst in jüngerer Zeit wird die Bedeutung einer linguistischen Veränderungsforschung verstärkt herausgearbeitet, sind vereinzelte Analysen sprachwissenschaftlicher Provenienz zu hilfreichen Veränderungen in helfenden Berufen vorgelegt worden (Muntigl und Horvath 2005; Graf 2011; Voutilainen, Peräkylä und Ruusuvuori 2011; Scarvaglieri 2013, 2015; Voutilainen, Rossano und Peräkylä 2018 sowie die Beiträge in Pawelczyk und Graf (Hrsg.) under review). Diese auf der sprachlich-interaktiven Mikro-Ebene angesiedelten Studien können der sich gegenwärtig entwickelnden Forschungsrichtung change process research, welche wiederum v.a. der Psychotherapie-Forschung entstammt, zugeordnet werden: Change process research using qualitative approaches has advanced psychotherapy research by illuminating aspects of the psychotherapeutic process not visible from clinical trials and more quantitative methods alone. Quantitative approaches, while important in determining treatment efficacy, have not been able to explain “how” treatments work. (Watson und McMullen 2016: 507) In einem Überblicksartikel hierzu diskutiert der Psychologe und Psychotherapeut Robert Elliott (2010) verschiedene Ansätze der Veränderungsforschung, die nach einer Verbindung von Outcome und Prozess streben. Neben den quantitativ verfahrenden Studien des „process-outcome-design“, dem Ansatz des „qualitative helpful factors design“ und dem von Elliott mit entwickelten „signifcant events approach“ geht er dabei auch auf Arbeiten nach dem von ihm sog. „microanalytic sequential process design“ ein. Darunter fasst Elliott „research on the turn-to-turn insession interaction between client and therapist“ (2010: 128). Elliott hebt die Seltenheit gerade dieser Art von Untersuchungen innerhalb der Veränderungsforschung hervor und nennt, neben der der Veränderungsforschung grundsätzlichen zukommenden Unsicherheit über kausale Zusammenhänge zwischen Prozess und Outcome (ebd.: 129, vgl. Kazdin 2009), als Hauptgrund dafür, dass diese Art der Forschung difficult and time consuming (ebd.) sei. Aus der Perspektive der Praxis ist jedoch gerade eine solche Integration von qualitativer, mikroanalytischer Prozessforschung und der Untersuchung von Wirkfaktoren in helfenden Berufen von hoher Bedeutung. So betonen etwa Weiste und Peräkylä (2015: 8), dass „from a clinical point of view, change in the client is indeed of utmost interest“ (vgl. auch Graf 2011 im Kontext von Coaching und ihre Unterscheidung in ‚Meta-Diskurs über Veränderung‘ vs. ‚Veränderungs-Diskurs‘). Der vorliegende Band führt eben diese Integration von mikroanalytischer Prozessforschung mit der Identifikation von Wirkfaktoren im Sinne einer qualitativen Veränderungsforschung zusammen, indem er linguistische Studien versammelt, die Formen hilfreicher Veränderung in Psychotherapie, Coaching, Beratung und Physiotherapie empirisch im Sinne eines sequentiellen Prozess-Designs (siehe oben) nachzeichnen und sich dabei an gemeinsamen Fragen orientieren. Diese Fragen sind sowohl von grundlegender theoretischer Reichweite,...