Eine paarsoziologische Studie
Buch, Deutsch, 388 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 491 g
ISBN: 978-3-593-51185-6
Verlag: Campus
Ist es je die richtige Zeit? Familiengründung verlangt von Eltern, sich grundlegend in der Zeit zu orientieren. Das gilt verstärkt angesichts der Umbrüche in der Erwerbssphäre und in den privaten Lebensformen. Wie integrieren Eltern die verschiedenen Zeitverläufe von Beruf und Familie in ihr Leben? Und welche Rolle spielen familienpolitische Leistungen? Dieses Buch legt anhand paarbiografischer Interviews mit jungen Eltern eine systematische Analyse zum Zusammenhang von Familie und sozialer Zeit vor. Dabei treten frappierende Unterschiede zu Tage: Zeitordnungen im Zuge der Familiengründung sind ein Quellpunkt sozialer Disparitäten, die stärker in den Blick genommen werden sollten.
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Inhalt
1 Einleitung 9
2 Theoretischer Teil 22
2.1 Soziale Zeitlichkeit am Leitfaden der Überlegungen Pierre Bourdieus 22
2.1.1 Sozialität der Zeiterfahrung: Die soziologische Zeitkonzeption Bourdieus 26
2.1.2 Zeit als elementare Dimension des Sozialen: Zur Zeitlichkeit sozialer Praxis 31
2.1.3 Zeitlichkeit und Historizität: Bourdieus Analyse moderner Klassengesellschaften 35
2.1.4 Konzeptionelle Perspektiven einer materialen Zeitsoziologie im Anschluss an Bourdieu 43
2.2 Transformationstheoretische Grundlagen 48
2.2.1 Zum Wandel von Familienpolitik im deutschen Wohlfahrtsregime: Historisch-institutionalistische Perspektiven 49
2.2.2 (De-)Institutionalisierung von Lebenszeit und die Transformation des Familienzyklus 65
2.2.3 Zur politischen Vermittlung gesellschaftlicher Zeitstrukturtransformationen 79
2.3 Die Zeitlichkeit persönlicher Beziehungen 87
2.3.1 Strukturale Familiensoziologie: Die Zeitstruktur persönlicher Beziehungen 90
2.3.2 Familienmilieus in Transformation 97
2.3.3 Prozesstheoretische Perspektiven: Paarintegration und Selbst-Institutionalisierung 105
2.3.4 Synthese: Zeitstrukturbildungsprozesse im Zuge der Familiengründung 113
3 Empirischer Teil 116
3.1 Methodik: Zur Fallrekonstruktiven Analyse von Paarbiographien 116
3.1.1 Zeitlichkeit als Schlüsselbegriff der Biographieforschung 117
3.1.2 Zur Analyse von Paar- und Familienbiographien 122
3.1.3 Fallrekonstruktive Forschung am Leitfaden von Objektiver Hermeneutik und Grounded Theory 127
3.1.4 Reflexion des Forschungsprozesses 135
3.2 Strukturbildungsprozesse im Übergang von Partnerschaft zur Elternschaft: Drei Fallstudien 146
3.2.1 Individualisiert-offen: Stefanie und Alexander 147
3.2.2 Traditional-offen: Alexandra und Philipp 163
3.2.3 Familistisch/traditional-integriert: Michaela und Peter 180
3.2.4 Zwischenfazit: Der Gegensatz offener und geschlossener Prozesse 197
3.3 Wir-Repräsentation und Paarfiktionen 201
3.3.1 Stefanie und Alexander als Fall von Konsensfiktionen 202
3.3.2 Jürgen und Annamaria als Fall von Dissensfiktionen 206
3.3.3 Gesellschaftliche Voraussetzungen, prozessuale Bedingungen und Effekte von fiktionalen Wir-Repräsentationen 214
3.4 Geschlechterdifferenzierung und Reflexivwerden geschlechterasymmetrischer Orientierungen 222
3.4.1 Familiengründung als Geschlechterdifferenzierung 222
3.4.2 Reflexivwerden der Geschlechterdifferenz im ›familistischen Milieu‹ 228
3.4.3 Quellen der Geschlechterdifferenzierung im Übergang zur Elternschaft: Herkunftsbezüge und Schlüsselereignisse 246
3.5 Wechselwirkungen zwischen Strukturbildungsprozessen und externen Zeitstrukturen 255
3.5.1 Diskontinuität in offenen Prozessen 257
3.5.2 Kontrast: Fragwürdigkeit in geschlossenen Prozessen 265
3.5.3 Zur kollektiven Inkorporierung beruflicher Zeitstrukturen 276
3.5.4 Zur vermittelnden Relevanz politischer Zeitstrukturen: Polarisierung zwischen offenen und geschlossenen Prozessen 280
3.6 Zeitstrukturierung 287
3.6.1 Vorgreifende Bestimmtheit im Übergang zur Elternschaft (Sandra und Tim) 289
3.6.2 Verstetigte Offenheit im Übergang zur Elternschaft (Yvonne und Torsten) 304
3.6.3 Zeitkonstruktion und Verzeitlichungsmodi 319
3.6.4 Erwartungsbildung im Ereigniszusammenhang der Elternschaft 323
3.6.5 Strukturiertheit und sinnhafte Gliederungen von Zukunftshorizonten 330
3.6.6 Zeitstrukturierungen im Übergang zur Elternschaft und soziale Differenzierungen (Konzeptintegration) 334
4 Schluss 338
Literatur 352
Tabellen und Abbildungen 369
Anhang 370
Transkriptions- und Anonymisierungsregeln 370
Fallübersicht 372
Datentypen und Textsorten im Forschungsprozess 376
Memotypen im Forschungsprozess 383
Dank 387
1 Einleitung
'The time is out of joint: – O cursed spite,
That ever I was born to set it right.'
William Shakespeare, Hamlet, 1604
Die Krise der Familie und eine aus den Fugen geratene gesellschaftliche Zeitordnung bilden zwei Seiten ein und derselben gesellschaftlichen Grunderfahrung, die mit dem Übergang zur Moderne ins kollektive Bewusstsein rückt und nach einer politischen, kollektiv bindenden Gestaltung ruft. Zum einen wird mit der Ausdifferenzierung von Wertsphären mit je eigenen, inkommensurablen Codes die Selbstverständlichkeit einer intergenerationalen Abfolge in einer festgefügten Gesellschaftsordnung destruiert; zum anderen erfahren Lebensläufe einen ungemein hohen Grad von Standardisierung, der mit den Unwägbarkeiten des Familienlebens in vergangenen Epochen (wie Kindersterblichkeit, geringe Lebenserwartung, plötzlicher Tod des Partners) kaum vergleichbar ist. Die Moderne als Verzeitlichung des Lebens und von Lebensformen, als Standardisierung wie Rationalisierung von Abläufen und sozialen Prozessen formt Familie zu einem Gebilde, das bestimmte und prinzipiell erwartbare Phasen des Zusammenlebens (einen Familienzyklus) durchläuft. Die zeitliche Ordnung von Familie rückt gegenwärtig neu in den Fokus einer politischen Regulierung. So werden mit dem Achten Familienbericht unter dem Titel Zeit für Familie (BMFSFJ 2012) sowohl die Alltagsorganisation des Familienlebens (Alltagszeit) als auch die zeitliche Lagerung von Fürsorgephasen im Lebenslauf (Lebenszeit) einer politischen Gestaltung zugeführt. Verortet man diese Thematisierung kursorisch in die längerfristige Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, werden zumindest zwei Aspekte deutlich: Sie kommt erstens parallel zum Geltungsverlust des bürgerlichen Familienmodells und seiner impliziten bis expliziten politischen Förderung auf. Und zweitens scheint darin eine veränderte Auffassung staatlicher Steuerung des Lebenslaufes hindurch: Nicht primär oder zumindest nicht allein die 'äußeren' Bedingungen, also die Herstellung von kontinuierlichen Lebensphasen und ihrer geordneten Reihenfolge, sondern die Haltungen der Leute gegenüber dem Verlauf ihres Lebens sind es, die als gestaltbar bewusstwerden. Die gegenwärtig zu beobachtende Neuverhandlung von Zeit erscheint symptomatisch für einen Formenwandel des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, im Zuge dessen ein etabliertes Verständnis des Verhältnisses von Familie und Staat sowie politisch normalisierte Lebenslaufmuster gleichermaßen fragwürdig werden.
Transformationen im Verhältnis von Familie und Staat
Der Kontext der vorliegenden Untersuchung bilden die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesse, die in den entwickelten Wohlfahrtsstaaten und so auch in Deutschland seit den 1980er Jahren und verstärkt seit der Jahrtausendwende zu beobachten sind. Diese Wandlungsprozesse vollziehen sich schleichend und längerfristig, haben gleichwohl grundlegende Veränderungen zur Folge; es handelt sich um eine 'gradual transformation' (Streeck/Thelen 2005: 9; vgl. Pierson 20030F ) des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, eine 'grundlegende Veränderung […], die gerade auch innerhalb stabiler institutioneller Ordnungen vollzogen [wird]' (Götsch/Kessl 2017: 188; vgl. Lessenich 2003: 195; vgl. Kessl 2013). Paradigmatisch sind diese Wandlungsprozesse insofern, als dass sich mit ihnen nicht nur die institutionellen Regime, sondern auch die Ideen, von denen diese geleitet werden, also die Begründungsmuster von Sozialpolitik, wandeln (Hall 1993): An Bedeutung gewinnen insbesondere die Ideen Aktivierung, Eigenverantwortung und Autonomie, die gerade in 'konservativen', auf Statussicherung zielenden und insbesondere geldlastigen Sozialstaaten ein Novum darstellen (Klammer u.a. 2017). Stephan Lessenich (2008) fasst dies als eine 'Neuerfindung des Sozialen' und meint damit nichts Geringeres als eine Umkehr der Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnisse zwischen Individuum und Gesellschaft, wonach dem/r Einzelnen eine Verantwortung nicht nur für die eigene Wohlfahrt, sondern für das Kollektiv, für die Produktion des gemeinen Wohls übertragen wird (Lessenich 2012).
Diese Verschiebungen sind allerdings von inhärenten Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet: sei es dergestalt, dass Leitbilder in Konkurrenz zueinander treten oder in Gestalt von 'Spannungen zwischen institutioneller Ausgestaltung und den vorherrschenden normativen Leitbildern oder sozialen Praktiken' (Bogedan u.a. 2009: 102; vgl. Betzelt/Bothfeld 2011); Ungleichzeitigkeiten, die in Reform- und Umbruchsphasen wahrscheinlich werden. Aber nicht nur die offensichtlichen Widersprüche zwischen institutioneller Ausgestaltung und normativer Begründung, sondern auch die konstitutive Offenheit von Regelkomplexen, die zwar den Rahmen der Praxis, aber nicht die Ausführung von Regeln festlegen (Streeck/Thelen 2005: 14), sind dabei immer wieder Ausgangspunkt von kreativen Impulsen innerhalb des Wandels. Sozialstaatliche Transformation ist so gesehen kein nahtloser Austausch von Ideen und Strukturen, sondern geht mit einer 'Fragmentierung' (Bogedan u.a. 2009) des institutionellen Regimes einher.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Wandel hinsichtlich seiner Ursachen wie Wirkungen kaum in kurzfristigen Zeithorizonten ('short-short' Fokus im Sinne von Pierson 2003: 179) erfassen, ebenso wenig wie angenommen werden kann, dass er allein auf Ebene der Leitideen abläuft. Die mehr oder weniger weitreichende und schleichende Umsetzung dieser Paradigmen – von Reformen sozialpolitischer Instrumente bis zur Nutzung oder Nichtnutzung sozialpolitischer Leistungen – und die entsprechenden alltäglichen Umgangsweisen unter veränderten Bedingungen bilden ein Untersuchungsfeld, das von der Transformationsforschung nicht ignoriert werden kann. Es muss daher verwundern, dass die Wohlfahrtsstaatsforschung immer wieder die Annahme einer unmittelbaren und kausalen Entsprechung von makro-sozialen Strukturveränderungen und Mikrostrukturen implizit zu Grunde legt (Dörre u.a. 2013: 16 ) und so empirische Analysen von Lebenspraxis als eigenständige Strukturierungsebene sozialstaatlicher Transformation weitgehend fehlen oder methodisch und/oder konzeptionell zu kurz greifen. Ausnahmen im Umkreis der Wohlfahrtsstaatsforschung finden sich in der AdressatInnen- und NutzerInnenforschung, die Lebensführungen systematisch rekonstruieren (vgl. Graßhoff 2013; Bitzan/Bolay 2013; 2017; Klammer u.a. 2017; Gille/Klammer 2017). Bezogen auf die verschiedenen AdressatInnengruppen der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit – wie zum Beispiel junge Erwerbslose, Eltern, MigrantInnen, Pflegebedürftige – verfolgte das Promotionskolleg Leben im transformierten Sozialstaat das Programm, einer solchen mehrdimensionalen Transformation nachzugehen. Wie verändern sich also Alltagspraxen in einem veränderten und sich verändernden wohlfahrtsstaatlichen Arrangement? Die vorliegende Untersuchung fokussiert Familienpolitik als ein wesentliches Feld dieser Transformationen, als ein Feld, in dem Eltern neu und auf veränderte Art und Weise adressiert werden.
Transformationsprozesse vollziehen sich in post-industriellen Gesellschaften grundlegend im Verhältnis von Familie, Markt und Staat (Haller 2012; Streeck 2011): Familie bildet in sogenannten 'konservativen' Wohlfahrtsstaaten einen primären Ort der Wohlfahrtsproduktion, was historisch über die normativ verbindliche Etablierung eines geschlechtsspezifischen Musters häuslicher Arbeitsteilung in der Bundesrepublik im Laufe des 20. Jahrhunderts zeit- und teilweise realisiert wurde (Lessenich 2003). Dieses politisch stabilisierte Arrangement der Normalfamilie, in der Pflege- und Kinderbetreuungsaufgaben unentgeltlich von Frauen geleistet werden, unterliegt grundlegen-den Veränderungen, die in regimeübergreifenden Tendenzen der Auslagerung von Sorge- und Pflegetätigkeiten an Markt und Staat zum Ausdruck kommen. Die Wohlfahrtsstaatsforschung erfasst diese als De-Familisierung (oder auch: De-Familialisierung), verstanden als 'the degree to which individual adults can uphold a socially acceptable standard of living, independently of family relationships, either through paid work or social security' (Lister 1994: 37). Werden damit Strukturveränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts begrifflich und empirisch erfasst, bleiben doch einige Fragen zurück: So finden sich kaum Indizien für einen linearen Wandel in Richtung des Verlustes der Wohlfahrtsfunktionen von Familie, es scheint vielmehr, dass parallel zum Ausbau öffentlicher, quasi-marktlicher Betreuungs- und Pflegeinfrastrukturen Familie in neuer Art und Weise in die Pflicht genommen wird: So werden in der Grundsicherungspolitik Hilfeleistungen an die Bedürftigkeit des Haushalts geknüpft und damit innerfamiliale Abhängigkeitsverhältnisse über das Konstrukt der 'Bedarfsgemeinschaft' verfestigt (Brand/Rudolph 2014: 91f.). Die 1995 eingeführte Gesetzliche Pflegeversicherung stärkt unter anderem durch ein Pflegegeld die familiale Pflege neu; und der Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur erfolgt zu einem nicht unerheblichen Teil über 'Tagesmütter', also über familienähnliche Settings. All dies verweist auf Tendenzen der Re-Familisierung (Auth u.a. 2015; Oelkers/Richter 2009), die gleichzeitig zu De-Familisierungsprozessen ablaufen. Diese widersprüchlichen institutionellen Verschiebungen finden schließlich ihre sozialstrukturelle Entsprechung – so gehen mit dem Geltungsverlust politischer Leitbilder neue Auseinandersetzungen einher, im Zuge derer sich familiale Milieus hybridisieren und so auch 'konservative', bürgerliche Familienformen in neuer Art und Weise mit individualisierten Lebensstilen kombiniert werden, wie es Cornelia Koppetsch in der These einer 'Wiederkehr der Konformität' (Koppetsch 2013) formuliert. Die gesamtgesellschaftliche Neukonfiguration im Verhältnis von Familie und Staat ist weder eine lineare Entwicklung noch reagiert sie lediglich auf eine Flexibilisierung im Erwerbssystem, sie ist konflikthaft und 'an ongoing process, far from complete, and possibly not even quite settled in its character and scope' (Mätzke/Ostner 2010b: 468).
Zum Wandel familialer Zeitstrukturen
Transformationen des Familienlebens, die sich als Verschränkung von Wandel und Kontinuität zeigen, bilden den Ausgangspunkt der Familiensoziologie. Elisabeth Roudinesco argumentiert in ihrem Buch Die Familie ist tot – es lebe die Familie (2008 [2002]), dass im Zeitalter der Reproduktionsmedizin und der Pluralisierung privater Lebensformen zwei Grundpfeiler von Familie, die väterliche Autorität zum einen, die Geschlechterdifferenz zum anderen, infrage gestellt werden (ebd.: 203). Diese Krisenerfahrung ginge paradoxerweise mit einer neuen Aufwertung des Familienlebens einher, da Familie 'angesichts des weitläufigen Friedhofs ausgemusterter patriarchaler Bezugspunkte – Armee, Kirche, Nation, Vaterland oder Partei' (ebd.: 204) – als letzter Zufluchtsort verbleibt, 'als einzige Sicherheit […], auf die niemand verzichten kann und auch nicht will' (ebd.: 203).
Die Diagnose einer Krise der Familie oder auch einer 'Reproduktionskrise' (Jürgens 2010) ist dabei keineswegs neu – folgt man Maiwald (2012), ist der 'Krisendiskurs von Beginn an Teil der Familienforschung' (ebd.: 113; vgl. Sieder 1998: 226ff.; vgl. Donzelot 1980 [1977]: 18). Moderne Familiensoziologie hebt demnach an mit der Entdeckung von Familie als 'soziales Gebilde eigener Art', das von Wirtschaft, Recht, Politik und anderen Wertsphären strukturell unterschieden ist (Maiwald 2012: 113). Aufgabe ist es, das Verhältnis von Familie und Gesellschaft zu objektivieren. So gesehen verlangen und ermöglichen gerade die Krisenerscheinungen des Familienlebens theoretische Bestimmungen, die über deskriptive (und folglich immer alltagsnahe) Familienbegriffe hinausgehen und verständlich machen, was familiales Handeln von dem Handeln in anderen sozialen Feldern unterscheidet (ebd.: 117).
Der Diskurs um die Zeit von Paaren und Familien lässt sich in diesem Kontext verorten – und zwar zunächst insofern er ebenso ein Krisendiskurs ist (für einen Überblick vgl. Heitkötter u.a. 2008; Rinderspacher 2008). Ein 'Zeitmangel', wie er öffentlich heraufbeschworen wird, ist dabei keineswegs generell zu erkennen: Zwar ist es vielfach belegt, dass die verwendete Zeit für unbezahlte Hausarbeit insgesamt insbesondere bei Frauen tendenziell abnimmt (Bianchi u.a. 2012), aber
'[a]bgesehen davon, dass die quantitativ verbrachte Zeit noch nicht viel über die Beziehungsqualität aussagt, zeigen eine Reihe von Zeitbudgetstudien […], dass die Zeit, die amerikanische Eltern mit ihren Kindern verbringen, in den letzten Jahren konstant geblieben ist.' (Dornes 2012: 45)
Als problematisch erweist sich viel mehr die Heterogenität von Zeit-strukturen: Beruf und Familie müssen laufend miteinander synchronisiert werden, zudem verschwimmen eindeutige Grenzen zwischen den Sphären (Jurczyk u.a. 2009), nicht nur dergestalt, dass eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung zunehmend emotional eingefärbt wird, also eine (auch) affektive Identifikation mit dem Beruf erwartet wird (Hochschild 2006 [1998]), sondern auch in dem Sinne, dass im Familienalltag Rationalisierungsstrategien wie Planung und Zeitmanagement eine dominantere Rolle spielen (Dornes 2012; Ludwig u.a. 2002). Familien und Paare werden dahingehend als 'Herstellungsleistung' (Jurczyk u.a. 2009: 64ff.; Jurczyk 2014) oder auch als 'alltägliche Lebensführung' (Lenz 2014) konzipiert, die heterogene und nur begrenzt vorhersehbare Zeitstrukturen integrieren.
Nicht nur der Alltagszeit, sondern auch der zeitlichen Ordnung des Lebens, insbesondere der zeitlichen Lagerung von Fürsorgephasen im Lebenslauf, wird eine solche Krisenhaftigkeit attestiert. Die Synchronisationsprobleme des Familienlebens sind demnach eine direkte Folge des Phänomens, dass sich bei weiblichen Lebensläufen vor allem innerhalb der Mittelschicht berufliche Etablierung und Familiengründung zeitlich überlagern. Eine standardisierte und in der Regel geschlechterdifferenzierte Integration von Erwerbs- und Familienphase ist in der 'rush hour' des Lebens (Klammer 2012; Bertram 2012) immer weniger lebenspraktisch tragbar. Für die Modernisierungstheorie (Rosa 2005) ergibt sich somit der erklärungsbedürftige Sachverhalt, dass die De-Standardisierungsprozesse in Familie und Berufsleben nicht zu mehr Gestaltungsspielräumen, sondern mit sehr viel mehr Zwängen einhergehen, die sich nicht nur als subjektive Erfahrungen von 'Zeitnot', sondern auch objektiv in Form von teils sehr viel rigideren Lebenslaufplanungsmustern äußern (vgl. Hareven 1999).
Bei genauerer empirischer Betrachtung dieses Wandels familialer Zeitstrukturen lässt sich jedoch kaum eine lineare Entwicklungsrichtung erkennen. Die familiale Zeitgestaltung ist vielmehr von Differenzierungen und Variationen gekennzeichnet, die nicht zufällig so sind, sondern systematisch aus der Sozialstruktur hergeleitet werden können: Gerade in der lebenszeitlichen Dimension verdeutlichen quantitative Ereignisanalysen, dass das 'Timing' familienrelevanter Ereignisse wie die Familiengründung stark je nach Bildungshintergrund variiert (Scherger 2007; 2009) und externe Bedingungen wie Beschäftigungsunsicherheit wenn überhaupt dann nur vermittelt darauf Einfluss nehmen (Kreyenfeld 2008; 2010; Kreyenfeld u.a. 2012), ein genereller Trend der De-Standardisierung familienrelevanter Ereignisse empirisch also zu relativieren ist. Komplementär dazu zeigt die qualitative Milieuforschung (Burkart/Kohli 1989; Koppetsch/Speck 2015) kontinuierlich auf, dass lebenszeitliche Orientierungen gegenüber dem Familienleben je nach Milieu variieren. Praktiken der laufenden Synchronisation individueller Karrieren, wie sie häufig für allgemeingültig erklärt werden, sind demnach auf bestimmte Milieus ('individualisierte' Milieus, also typischerweise Akademikerpaare) innerhalb der Mittelklassen begrenzt.