E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Praxiswissen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Praxiswissen
ISBN: 978-3-96605-249-8
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Traumata und ihre Folgen sind in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Arbeit ein wichtiges und allgegenwärtiges Thema. Dieses Buch liefert das Grundwissen, um sich traumaerfahrenen Menschen kompetent und rücksichtsvoll zuzuwenden.
Psychiatrisch Tätige kommen in ihrer Arbeit wissentlich und ebenso häufig unwissentlich mit Traumafolgestörungen in Kontakt. Für einen professionellen Umgang ist es daher wichtig, für diese sensibilisiert zu sein, um Reaktionen und Verhaltensweisen einordnen zu können. Der Autor informiert leicht verständlich und kompakt über Trauma-Ursachen, -folgen und -bewältigungsmuster, um Retraumatisierungen zu verhindern, und hilft, die eigenen Belastungen nicht aus dem Blick zu verlieren. So finden traumatisierte Menschen auch in psychiatrischen Settings einen 'sicheren Raum'. Die neue und erweiterte Auflage gibt ebenfalls Hilfestellung bei der Arbeit mit Geflüchteten.
Zielgruppe
Empfohlen für alle Berufsgruppen in der Psychiatrie, insbesondere Soziale Arbeit, Fachpflege, Ergotherapeut*innen, Körpertherapeut*innen usw. sowie Profis, die beruflich mit traumatisierten Menschen arbeiten: in Zentren für Geflüchtete, in Beratungsstellen, in der Jugendhilfe, in Krisendiensten, bei der rechtlichen Betreuung
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Psychiatrische Pflege
Weitere Infos & Material
Vorbemerkung– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 8
Ein Trauma – was ist das? – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 11
Trauma als Ereignisqualität. 13
Trauma als Interaktion zwischen Situation und Subjekt. 16
Kontextabhängigkeit des Traumabegriffs. 18
Körperliche oder seelische Ursache?. 18
Reales Leiden oder vorgetäuschte Störung?. 19
Erklärt das Erlebte allein die Folgen?. 20
Realität oder Fantasie?. 21
Umgang mit unterschiedlichen Traumabegriffen. 24
Retraumatisierung. 26
Was geschieht in einer traumatischen Situation? – – – – – – – – – – 28
Die 'traumatische Zange'. 29
Die neurophysiologische Ebene. 31
Dissoziation und Gedächtnis. 35
Psychische Beeinträchtigungen als Folgen traumatischer Erlebnisse – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 41
Die Akutphase. 41
Die Posttraumatische Belastungsstörung. 45
Zur Epidemiologie der PTBS. 51
Beeinflussende Faktoren der PTBS. 56
Andauernde Traumafolgestörungen – Komplexe PTBS. 58
PTBS und komorbide Störungen. 61
Zusammenhänge zwischen Trauma und psychischer Störung. 63
Traumafolgen unterhalb der diagnostischen Schwelle. 71
Veränderung der Sicht auf Welt und Identität. 71
Veränderungen von Körperwahrnehmung und Körperselbst. 73
Veränderungen im sozialen Umfeld. 73
Verändertes Sicherheitsbedürfnis. 75
Trauer. 77
Traumabewältigung – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 80
Risikofaktoren der Traumabewältigung. 80
Ebenen der Traumabewältigung. 83
Protektive Faktoren der Traumabewältigung. 85
Phasen der akuten Traumareaktion. 86
Soziale Unterstützung bei der
Traumabewältigung. 88
Traumabewältigung und Reifung. 91
Professionelle Hilfen– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 93
Interventionen nach akuter Traumatisierung. 93
Traumatherapie. 99
Indikation von Konfrontation und Stabilisierung. 104
Wirksamkeit von Traumatherapie. 107
Ambulante oder stationäre Traumatherapie?. 109
Professionelle Interaktion mit traumatisierten Patienten– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 111
Die Bedeutung der professionellen Beziehung. 111
Wie über ein Trauma sprechen?. 112
Mögliche traumatische Übertragungen. 115
Mögliche traumatische Gegenübertragungen. 117
Grundprinzipien der Beziehungsgestaltung. 119
Beiderseitiges Expertentum. 120
Stigmatisierung traumatisierter Patientinnen und Patienten. 121
Traumawiederholung. 122
Traumatisierte Menschen mit Fluchterfahrung. 124
Probleme im stationären Setting. 130
Umgang mit Chronifizierung. 133
Suizidalität und Selbstschädigung. 135
Umgang mit Dissoziationen. 139
Stabilisierung durch Imagination. 141
Traumatisierung von Helferinnen und Helfern. 145
Selbstfürsorge und institutionelle Fürsorge für Helferinnen und Helfer. 146
Mit Verwundbarkeit umgehen lernen – Schlussbemerkung– – 150
Ausgewählte Literatur– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 152
Adressen– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 158
Was geschieht in einer traumatischen Situation?
Zu den Situationen, die ein seelisches Trauma auslösen können, gehören Unfälle und Naturkatastrophen ebenso wie Kriegserlebnisse, Gewalt und Folter, starke Vernachlässigung in der Kindheit oder Vergewaltigung. Dabei müssen Betroffene nicht einmal selbst Opfer geworden sein, auch Zeugen oder Helferinnen können traumatisiert werden. BEISPIEL Herr P. ist mit seinem Auto auf einer städtischen Schnellstraße unterwegs, als er das Ende eines Staus erreicht. Es ist Winter, die Fahrbahn ist glatt, und das Stauende liegt direkt hinter einer Kurve. Herr P. ist erleichtert, als er von hinten die Sirenen eines Polizeiwagens hört. Im nächsten Moment jedoch fährt der Polizeiwagen von hinten auf den Wagen von Herrn P. auf. Dieser steigt aus seinem Fahrzeug aus, nachdem er einige Zeit lang benommen sitzen geblieben war. Beide Türen des Polizeiwagens sind geöffnet. Als Herr P. sich auf die Beifahrerseite begibt, sieht er den Körper eines jungen Polizisten, der aus der geöffneten Tür auf die Fahrbahn gesackt ist. Der Polizist blutet stark aus einer Platzwunde am Kopf. Herr P. registriert, dass die Frontscheibe des Polizeiwagens gesplittert ist. Er sieht, dass der zweite Beamte versucht, seinen Kollegen anzusprechen, kann aber nicht hören, was dieser sagt – in diesem Moment hört Herr P. überhaupt nichts mehr. Auch die Kälte außerhalb seines Fahrzeugs spürt Herr P. nicht. Er wendet sich von der Unfallstelle ab, lässt sein beschädigtes Auto stehen und läuft los, bis er nach rund einer Stunde seine Wohnung erreicht. Als seine Ehefrau ihn fragt, warum er denn um diese Uhrzeit und ohne Jacke im Winter zu Hause ankomme, kann er im ersten Moment nur sagen: »Es ist etwas passiert.« Später wird er sich an Details des Unfalls erinnern können – der Weg nach Hause aber bleibt für ihn auch Jahre danach ohne Erinnerung. Bei aller Unterschiedlichkeit weisen traumatische Situationen bestimmte Gemeinsamkeiten auf. Es handelt sich um Situationen, die unser Gehirn und damit unsere Verarbeitungskapazitäten massiv überfordern. Sie sind verbunden mit starken Affekten: Schreck, Todesangst, extreme Hilflosigkeit, Schmerz. Traumatische Situationen durchbrechen in ihrer Intensität den Reizschutz des Ichs und überfluten uns mit aversiven Stimuli. Sie lösen massive Stressreaktionen aus und aktivieren unbewusste Kampf- bzw. Fluchtreaktionsmuster. Häufig werden außerdem Mechanismen aktiviert, die den durchbrochenen Reizschutz wiederherstellen, indem sie Teile der Wahrnehmung ausblenden. In der beschriebenen Situation gelang es dem Betroffenen, sich durch Flucht vom Unfallort der Situation zu entziehen und sich nach Hause, also an einen Ort der Sicherheit, zu begeben. Was aber geschieht, wenn weder Kampf noch Flucht möglich sind? Die »traumatische Zange«
Reaktionsmuster des Kampfes und der Flucht gehören zur Grundausstattung aller Säugetiere und damit auch des Menschen. Sie werden genetisch von Generation zu Generation weitergegeben und ermöglichen es, Gefahren zu überwinden und zu überleben. Solange Kampf oder Flucht möglich sind, ist die Chance groß, dass potenziell traumatische Ereignisse zwar belastend wirken, aber keine dauerhaften seelischen Traumata hinterlassen. Auch das Erleben partieller Handlungsfähigkeit, beispielsweise die Möglichkeit, durch geschickte Kommunikation einen Angreifer zur Beendigung seiner Attacken zu bewegen, senkt das Risiko von Folgeschäden. Bestimmte traumatische Situationen lassen sich aber nicht durch Kampf oder Flucht überwinden. So werden nach Erdbeben immer wieder Menschen gerettet, die stunden- oder tagelang unter schweren Lasten eingeklemmt waren. Opfer von Geiselnahmen können sich der Geiselhaft weder durch Kampf noch durch Flucht entziehen – dasselbe gilt für viele Vergewaltigungsopfer, Opfer kindlichen sexuellen Missbrauchs, von Folter, Kriegsverbrechen etc. Und auch Menschen, die im Verlauf einer Operation feststellen, dass die Narkose nicht mehr wirkt, sich dabei aber nicht verständlich machen können, sind dem Geschehen ausgeliefert. Was dann passiert, hat Michaela Huber (2020) die »traumatische Zange« genannt (siehe Abbildung 1). ABBILDUNG 1 Die »traumatische Zange« (nach Huber 2020) In einer traumatischen Situation sucht das Gehirn unter Hochdruck nach Möglichkeiten, der Bedrohung zu entgehen und die aversive Situation zu beenden. Scheiden Kampf- oder Fluchtreaktionen aus, weil sie unmöglich oder mit zu hohem Risiko verbunden sind, bleibt nur ein in der Natur ebenfalls weitverbreitetes Verhaltensmuster: der Totstellreflex. Auch dieses Verhaltensmuster ist bei vielen Tierarten bekannt und kann tatsächlich Leben retten – manche Raubtiere lassen von ihrer Beute ab, sobald sie sie für tot halten, oder können diese nicht mehr gut sehen, wenn sie sich nicht mehr bewegt. Dissoziationen Beim Menschen ist dieser Zustand zumeist damit verbunden, dass eine innere Distanz zur bedrohlichen Situation eingenommen werden kann, indem einzelne Aspekte der Wahrnehmung (Geräusche, Gerüche, Körperempfindungen etc.) dissoziiert werden. »Dissoziation« bedeutet, dass Sinneseindrücke, die dem Bewusstsein normalerweise zugänglich sind, vom bewussten Erleben und von der Verarbeitung des Erlebten abgeschnitten sind (Wöller 2020). Die integrative Funktion des Bewusstseins ist damit beeinträchtigt. Solche peritraumatischen Dissoziationen finden sich aber auch bei Menschen, die sich einer traumatischen Situation durch aktives Handeln entziehen konnten. Im Fallbeispiel nahm Herr P. weder Geräusche noch Körperempfindungen (Kälte, Zittern) an der Unfallstelle wahr. Seine Unempfindlichkeit gegen Kälte hielt sogar über eine Stunde nach dem Ereignis während des Heimwegs an. Kommt es zu einem Einfrieren, so wird die kontinuierliche Verarbeitung des Erlebens in der traumatischen Situation gestört. Diese gestörte Informationsverarbeitung führt dazu, dass später nur noch Teile des Erlebten erinnert werden, oftmals ohne dass die separaten Erinnerungsstücke von den Betroffenen wieder zusammengesetzt werden können. Sie sind dann nur noch in der Lage, unmittelbar nach dem Erlebnis mitzuteilen, dass etwas passiert ist, aber nicht, was. Diese Aufspaltung des Erlebten und damit auch von Erinnerbarem wird »Fragmentierung« genannt. Ein Zugang zu solchen Phänomenen gelingt mit dem Verstehen neurophysiologischer Prozesse bei Traumatisierungen. Die neurophysiologische Ebene
Traumatische Situationen überfordern die Reizverarbeitung im Gehirn und führen zu akuten und dauerhaften neurophysiologischen Veränderungen. In der akuten Reaktion auf traumatischen Stress, also in der traumatischen Situation selbst, spielen zwei Stressverarbeitungssysteme eine große Rolle: das Hippocampus-System und das Amygdalasystem. Der Hippocampus (= Seepferdchen) ist für die Einordnung von Stressreizen zuständig. Er ist mit dem Neocortex und dem Sprachzentrum vernetzt, er verknüpft Wahrnehmungen miteinander und organisiert die Gedächtnisbildung. Der Hippocampus fungiert dabei als Kurzzeitgedächtnis, aus dem heraus Informationen entweder zur Speicherung ins Langzeitgedächtnis transferiert oder gelöscht, also vergessen werden. Damit spielt der Hippocampus eine wichtige Rolle bei der Abstraktion von Erlebnissen und der Bildung des expliziten Gedächtnisses, also jenes Teils der Erinnerungen, der in Form von Erzählungen gespeichert wird. In der Amygdala (= Mandelkern) werden emotionale Stimuli, vor allem aversiver Art, schnell verarbeitet, was eine Alarmreaktion des Organismus auslöst. Diese Stimuli durchlaufen nicht die langsamere Verarbeitungsschleife des Hippocampus-Systems, sie werden damit nicht organisiert und verknüpft und auch nicht Teil des expliziten Gedächtnisses. Stattdessen werden sie als implizite Erinnerungen gespeichert, als sensorische Eindrücke, die, unverbunden mit anderen Erinnerungen, nicht abstrahierbar und kaum verbalisierungsfähig sind. Es entstehen Erinnerungsfragmente, die später zunächst auch nur fragmentiert erinnert werden können. In einer traumatischen Situation arbeiten zunächst beide Systeme der Stressverarbeitung nebeneinander. Dauert die Situation länger an, so wird aufgrund der Bedrohlichkeit und der immer weiter auf den Organismus einprasselnden Stressreize die Aktivität des Amygdala-Systems ansteigen, während gleichzeitig das Hippocampussystem an seine physiologisch bedingte Verarbeitungsgrenze gelangt. Das ausgeschüttete Stresshormon Noradrenalin wirkt hemmend auf präfrontale Hirnareale, was bewirkt, dass diese nicht mehr modulierend auf die Aktivität der Amygdala einwirken können. Das ebenfalls ausgeschüttete Cortisol behindert die Gedächtnisbildung im Hippocampus. Veränderungen im körpereigenen Opioidsystem führen zu Dissoziationen und zum Einfrieren. INFORMATIONSVERARBEITUNG Spätestens ab diesem Zeitpunkt können Informationen kaum noch integriert werden – es kommt zur Fragmentierung von Sinneseindrücken und Gedächtnisinhalten. Diese Erinnerungsstücke sind häufig mit starken Affekten verbunden und sensorisch gespeichert, beispielsweise als intensiver Geruch, der Ekel auslöst, oder starke Körperempfindung, verbunden mit Todesangst. Sie stehen zunächst weitgehend unverbunden nebeneinander, weil eine sie verbindende Geschichte nicht zur Verfügung steht. Verbindungen zwischen einzelnen Fragmenten bestehen zumeist lediglich als Assoziationen – die Erinnerung an ein Fragment aktiviert...