Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-492-99888-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ann Gosslin ist in einer Kleinstadt in den USA aufgewachsen und war schon als Kind von Landkarten und Geschichten aus fernen Ländern fasziniert. Als Wissenschaftlerin, Übersetzerin und Lehrerin hat sie Europa, Asien und Afrika bereist, bevor sie sich in der Schweiz niedergelassen hat. Sie arbeitet derzeit an ihrem zweiten Roman.
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The Meadows
Lansford, New York
Februar, Gegenwart Kapitel 1
Ihr dunkles Haar, offenbar mit einem Küchenmesser abgesäbelt, war das einzige Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Sie trug kein Make-up, schlief in einem schmalen Bett und sah wie ein normales Mädchen aus, das von Jungs und Samstagen im Einkaufszentrum träumte. Doch sobald die Wirkung der Drogen nachließ, würde sie zu dem Albtraum zurückkehren, der sie hergebracht hatte. Erin legte ihre Finger an das Handgelenk des Mädchens und wartete auf den Pulsschlag. Wie jeder gute Arzt versuchte auch sie ihre Emotionen im Zaum zu halten, doch einige Patienten machten ihr mehr zu schaffen als andere. Hätte ein Mitarbeiter am Ende seiner Schicht den leblos wirkenden Körper des Mädchens nicht in einer Schneewehe am Tor entdeckt, hätte sie die Nacht nicht überlebt. In ihrer Umhängetasche hatte man ein fünfzehn Zentimeter langes Schälmesser, eine Handvoll Haare und zwei Schlüssel an einem einfachen Metallring gefunden. Aber keinen Ausweis, und auch sechs Stunden später gab es noch immer keine neuen Informationen von der Polizei. Während dieser ersten hektischen Minuten in der Notaufnahme der Klinik nach ihrer Einlieferung hatte Erin ihr das Glitzeroberteil ausgezogen, ihre Strumpfhose zerrissen und verzweifelt versucht, etwas Leben in die gefrorenen Glieder des Mädchens zu reiben. Nur um festzustellen, dass die Haut an Armen und Oberschenkeln mit Schnitten übersät war. Ein Netz aus rautenartigen Zeichen, die wie Schuppen ihre Haut überzogen. Schneeflocken stoben gegen das Fenster, und sie spürte mehr, als sie sah, dass sich Schneewehen bildeten, die gegen das Glas drückten. Es war noch zu dunkel, sie konnte nicht viel von dem erkennen, was jenseits der gespenstischen, schneebedeckten Sträucher geschah. Ein Geräusch durchbrach die Stille. Hohe Absätze, die wie Schüsse auf den Steinboden knallten. Erin trat in den Flur und sah eine junge Krankenschwester, die mit einem panischen Ausdruck auf dem Gesicht auf sie zurannte. »Es gibt ein Problem. Ich habe Dr. Westlund angepiept, aber er ist noch immer nicht da.« Am anderen Ende der Empfangshalle stritt eine Frau in einem kurzen Mantel und schwarzen Lederstiefeln lauthals mit der Krankenschwester. Sie knallte ihre Handflächen auf den Tresen und zischte wütend. Sie war groß, blond, und ihr Mund sah aus wie ein roter Strich. Erin erstarrte. Konnte das sein? Nein. Sie hielt sich abseits und zögerte, das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ich möchte meine Tochter sehen. Cassie Gray. Wo ist sie?« Cassie. Und das war die Mutter des Mädchens. Nicht die warmherzige Frau, auf die sie gehofft hatte. Die Stationsschwester schien die Situation unter Kontrolle zu haben, aber wo war Niels? Für Fälle wie diesen gab es ein Protokoll. Aber er war nicht hier, und das hier konnte nicht warten. Sie riss sich zusammen und näherte sich dem Tresen. »Ich bin Dr. Cartwright, Ihre Tochter ist außer Gefahr, aber sie schläft jetzt. Könnten Sie vielleicht etwas leiser sprechen …« Spitze Ohrringe, billiges Parfüm und dieser verbissene rote Mund. Die Frau überragte sie wie eine Walküre. »Was glotzt du so, Tinkerbell?« Tinkerbell. War es ihre Größe oder der britische Akzent, der etwas in der Frau ausgelöst hatte? Ihr kam eine Antwort in den Sinn, doch Erin verkniff sie sich. Sie war den Umgang mit wütenden Eltern gewohnt. »Ich kann verstehen, dass all das sehr verwirrend für Sie ist, aber bitte versuchen Sie, ruhig zu bleiben …« »Ruhig? Ich bekomme mitten in der Nacht einen Anruf von irgendeinem Punk, dass meine Tochter in dieser Irrenanstalt ist, und Sie wollen, dass ich ruhig bleibe? Fick dich.« Sie stieß Erin hart zurück und schob sich an ihr vorbei. Der Schmerz schoss ihren Arm hinunter, und sie keuchte. Noch bevor sie reagieren konnte, hatte die Frau mit ihrem lächerlichen Stiefelgeklapper bereits den halben Gang hinter sich gelassen. Wenn niemand sie aufhielt, würde sie noch die ganze Klinik wecken. Doch da kam Niels. Fröhlich und putzmunter kam er um sechs Uhr morgens durch den Bogengang des Atriums. Er trug ein perfekt gebügeltes, oxfordblaues Hemd, eine hellbraune Hose, und sein Haar war akkurat gescheitelt. Hatte er deshalb so lange gebraucht, weil er noch vor dem Spiegel gestanden und sein Haar gekämmt hatte? Als er sich Cassies Mutter näherte, hatte sein Gesicht bereits einen angemessen sorgenvollen Ausdruck angenommen. »Ich bin Dr. Westlund«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. »Keine Sorge, Ihre Tochter ist in besten Händen.« Noch bevor er sie berühren konnte, zuckte die Frau zurück. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich es zulasse, dass Sie ihr den Kopf verdrehen. Ich will sie sehen.« »Warten wir, bis sie wach ist, in Ordnung?«, sagte Niels und schnippte einen Fussel vom Ärmel seines weißen Kittels. »Wenn es nach mir ginge, Mrs Gray, würde ich Ihnen ja gestatten, einen kurzen Blick in ihr Zimmer zu werfen, nur damit Sie beruhigt sind. Aber leider mach ich hier nicht die Regeln.« »Ich habe ein Recht, sie zu sehen. Ich bin ihre Mutter«, sagte sie, und in dem gedämpften Licht wirkte ihr Gesicht totenbleich. »Tut mir leid«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich ausruhen. Wir rufen Sie an, sobald wir mehr wissen.« Mit entschlossenem Blick schob sie sich an Niels vorbei und ging weiter den Flur hinunter, wobei sie immer wieder den Namen ihrer Tochter rief. Doch sie kam nicht weit, ein Sicherheitsmann trat aus dem Schatten und versperrte ihr den Weg. Einen Moment lang schien sie sich auf ihn stürzen zu wollen, blieb dann aber vor ihm stehen und drehte sich aufgebracht zu ihnen um. »Okay, ich gehe. Sie können Ihre Schläger zurückpfeifen.« Dieser Mund, dieses höhnische Grinsen. Erin blieb fast das Herz stehen. Erst nachdem die Frau durch das Eingangstor hinausgeleitet worden war, konnte sie wieder normal atmen. Cassie. Sie eilte zum Zimmer des Mädchens. Noch schlief sie, ihr fahles Gesicht umrahmte ein trauriges Büschel Haar. Erin zog ihr die Decke bis zum Kinn hoch. »Hier bist du sicher«, flüsterte sie, »ich werde dich beschützen«, und ein Kribbeln durchfuhr ihre Handflächen. Das wünschst du dir. Doch niemand ist sicher. Wieder diese Stimme – wessen Stimme? Sie hielt sich die Ohren zu, um den Ton zu dämpfen. Cassie war in Sicherheit. Natürlich war sie das. Solange sie in der schützenden Umarmung des Meadow blieb. Draußen in der Welt, da begannen die Probleme. Von der Fensterbank oben in ihrem Büro blickte Erin auf die verschneite Landschaft hinaus, die sich in der Morgenröte still unter ihr ausbreitete. Es war so ruhig, dass man eine Uhr hätte ticken hören, wenn es denn hier eine geben würde, die den Lauf der Zeit anzeigte. Der scharlachrote Kardinalvogel, der vorbeiflitzte, war der einzige Farbfleck in der weißen Winterlandschaft. Das steinerne Herrenhaus glich in dieser Stille eher einem englischen Landsitz denn einer psychiatrischen Klinik. Ihre Augenlider wurden schwer. Nur ein paar Stunden Ruhe hatte sie sich seit gestern Abend gegönnt, auf dem harten Ledersofa in einer Ecke ihres Büros. Nicht unbedingt ein günstiger Start in einen Tag, der eigentlich ein Freudentag werden sollte. Nach drei Monaten intensiver Behandlung durfte Sara, eine ihrer Patientinnen, die sie beinahe verloren hätten, nach Hause gehen. »Tock, tock.« Niels stand in der Tür und schwenkte einen Umschlag. »Der ist gestern angekommen. Ich wollte ihn dir schon früher vorbeibringen, aber bei all dem Krawall gestern Abend und heute Morgen habe ich es einfach vergessen.« Er durchquerte mit zwei schnellen Schritten den Raum. »Ich habe bereits letzte Woche die Zustimmung hierzu erhalten, vorab vom Vorstand abgesegnet.« Sie glitt von der Fensterbank und nahm den Umschlag entgegen. Sie ahnte, was sich darin befand. Es ging vermutlich um eine dieser ehrenamtlichen Aufgaben, denen sie bei ihrer Einstellung zugestimmt hatte. Grundsätzlich eine durchaus löbliche Initiative, doch bis jetzt hatte sie es noch immer geschafft, jedem Fall aus dem Weg zu gehen. Außerdem blieb ihr neben Klinikalltag und ihren eigenen Patienten, um die sie sich kümmern musste – war das nicht der Grund, warum der Vorstand sie aus London abgeworben hatte? –, wenig Zeit für etwas anderes. Sie warf einen Blick auf den Absender: Psychiatrische Einrichtung Greenlake, Atherton, New York. Greenlake? Der Name klang vertraut, aber die Einrichtung hatte früher anders geheißen. Atherton State Asylum for the Criminally Insane, so hieß sie richtig. Früher wurden Heime in psychiatrische Kliniken umgewandelt, damit sie ihren schlechten Ruf verloren, auch wenn die Namensänderung meistens reine Augenwischerei war. »Ist das nicht eine forensische Einrichtung?« »Genau«, sagte er und zog die Augenbrauen hoch. »Ganz deine Richtung.« Sie ließ den Umschlag fallen. »Ich bearbeite keine Kriminalfälle«, sagte sie und starrte auf die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, um seinem Blick auszuweichen. »Nicht mehr. Und ganz sicher nicht, wenn es sich um gewalttätige, gestörte Männer handelt.« »Tu mir den Gefallen und nimm das hier an«, sagte er und schob sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund. »Der Vorstand trifft sich kommende Woche. Es wird unangenehm werden, wenn ich ihnen mitteilen muss, dass du dich noch immer nicht für ein Projekt angemeldet hast.« Er hatte recht. Ein gewisses Maß an ehrenamtlichem Engagement war Bedingung für diesen Job gewesen, und sie hatte bereits drei Projekte abgelehnt. Dennoch, in ihrem Vertrag stand nichts...