Gomringer | Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Gomringer Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-86391-134-8
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der Dichter als Lieferant abrufbarer Stimmungen ... so versteht sich Nora Gomringer nicht. Was die Lyrikerin neben der Poesie so umtreibt, kann man diesem heiteren und doch profunden zweiten Band Gomringers mit Texten und Reden entnehmen. Es geht um Freiheit und Fremdheit, Fernsehen und Kino, Literatur und Lesungen, Sprache und Rhythmus. Auch enthalten: der Text "Recherche", für den sie den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Nora Gomringer mag zwar nicht dazu da sein, ihre Leser zu amüsieren, kann dieses aber mit Leichtigkeit tun.
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Beständiges Soundchecken
Wann singt das Sprechen? Natürlich ist die Fragestellung »Wann singt das Sprechen?« bereits von zahlreichen bewanderteren, rhythmischeren Persönlichkeiten erschöpfend analysiert worden. In den letzten Jahren waren dies u. a. Raoul Schrott (»Erfindung der Poesie«, 2009), Heinz Schlaffer (»Geistersprache: Zweck und Mittel der Lyrik«, 2012) und Volker Klotz (»Verskunst: Was ist, was kann ein lyrisches Gedicht«, 2011), deren Ausführungen uns die Bandbreite, die Rhythmenfülle, die Schlagkraft der lyrischen Silben für die Germanistik wieder in Erinnerung gerufen haben. Was ist es also, das ich der Debatte hinzufügen könnte? Ich dichte seit meinem 16. Lebensjahr. Ich tue dies seitdem regelmäßig. Seit 2006 habe ich alle zwei Jahre einen Lyrikband herausgebracht. Im Ganzen sind es nun sieben Lyrikbände und zwei Essay- und Redensammlungen. Zum Glück fanden alle diese Bücher in der Regel sehr freundliche, ja fördernde Beachtung in den Medien, bei Leserinnen und Lesern, bei den Besucherinnen und Besuchern meiner Lesungen. Ich hatte bisher großes Glück, gesehen, gehört, wahrgenommen zu werden. Dieses Glück verdanke ich sicherlich auch einer gewissen Prädisposition: Im privaten Leben eher unauffällig, bin ich gerne sichtbar auf einer Bühne, wenn es dort etwas für mich zu tun gibt. Etwas, was ich im Scherz als »beständiges Soundchecken« bezeichne. Ich habe eine musikalische Ausbildung genossen, die im Ganzen und im Vergleich mit geschätzten Kolleginnen und Kollegen eher rudimentär, aber für mich ausreichend und hilfreich war für fast alles in meinem bisherigen Leben. Meine Beziehung zur Bühne ist eine sehr intime. Sie sagt aus, dass mir etwas fehlt, was ich just dort suche, wo mir alle dabei zusehen können, und meine Art des Auftretens sagt hoffentlich auch, dass ich meine Verantwortung gegenüber dem Publikum erkenne und wahrnehme, mir jeden Auftritt zu Herzen nehme, ihn versuche zu strukturieren, mich sogar bei großer Eile noch einmal umkleide für mein Bühnenwerken und -wirken. Mich begleitet eine tiefe Demut vor der Exponiertheit und dem Moment der Fixierung des Betrachters auf diese eine Frau auf der Bühne, die den Mund so gerne weit öffnet, ihn voll nimmt und doch manchmal – gleich dem Rühmkorfschen Zitat – »der Lieder leer« findet. Literatur und Rhythmus – diese Kombination will uns zurückführen zu den Anfängen der Klänge, Silben genannt, die in bestimmter Kombination semantische Information auf einen hörenden Kommunikationsteilnehmer übertragen, lange bereits bevor es so etwas wie schriftliche Systeme geben konnte. Seit den frühesten Anfängen meiner erst rein rezitatorischen Arbeit – ich finanzierte mir die letzten Schuljahre wie die ersten Studienjahre mit Sprechprogrammen zu Walt Whitman, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler und Heinrich Heine – arbeite ich gerne und oft mit Musikern zusammen. Vom lyrisch vorgeprägten Saxophonisten (E. Koltermann), zum legendären Jazz Drummer (Prof. G. Baby Sommer) und lebhaften DJ (Roland Krefft alias DJ Kermit) kenne ich die Zeilen von Texten anderer Autoren wie auch die eigenen mit musikalischer Zeile unterstrichen, konterkariert, komplettiert, kontrastiert, komplimentiert. Was für ein Glück das ist! Nicht nur, dass Dichtung und musikalischer Klang eine Verbindung eingehen, sondern, dass diese zunächst so private Leidenschaft zur Mitteilung, Wiederaufführung alter Sprach- und Sprechzeugnisse begeisterungsfähige Kollaborateure im Jetzt finden kann. Seit ich die Texte anderer Dichter auf den Lippen trage, bin ich nur noch selten einsam. 2014 waren es Programme zu Shakespeare und Goethe, die mich beschäftigten. Wann singt das Sprechen also? Immer. Das Singen ist dem Sprechen immanent. Dieselben Muskeln werden im Kehlkopf gefordert, ob wir sprechen oder singen. Das Baby ruft mit seinem ersten Schrei den Kammerton a in seiner Kehle wach. Es macht für unsere Anatomie keinen besonderen Unterschied, ob wir singen oder sprechen, nur dass unsere Lungen sich daran gewöhnen, in anderen Intervallen zu funktionieren. Denken wir an dieser Stelle auch an andere Sprachen und Varietäten, die mit verschiedenen Tonhöhen (im Chinesischen sind es vier grundlegende, die Bedeutung bewusst verändernde) zum Teil morphologisch identische Silben zu anderen Worten wandeln. Die erstaunliche französische Formation »Encyclopédie de la parole« tritt mit Produktionen bei Festivals auf, die eine Gruppe von Sprechern zeigen, die mit z. T. klassischem Textrepertoire (Schiller, Molière etc.) Gesprächssituationen, genauer: Gesprächsmelodien chorisch gesprochen nachstellen. Dabei tritt der gesprochene Text durch das Augen- und Hörmerk auf die prosodische Struktur einzelner Gesprächs- und Kommunikationsformen (erklärender Monolog auf YouTube, Gespräch im Café, trauriges Telefonat, Begrüßung einer Kindergartengruppe etc.) in den Hintergrund. Das Sprechen wird als musikalische Leistung vorgeführt, ja »ausgestellt« und durch die Pluralität der Stimmen zur Sprachmusik abstrahiert. Dirigiert durch einen animierten Dirigenten, gelingt es der Chorformation wie eine Stimme mit mehreren Klangfarben zu wirken. Wann singt das Sprechen? Lyrisch betrachtet dann, wenn Texte geformt wurden mit dem Bedacht auf Klang, Miteinander in der Sprache und bei schwingender Semantik. Eben wenn das Gedicht funktioniert. In der Uni hatte ich einmal einen Dozenten, der aus den USA für ein Semester bei uns landete und alle gehörig verwirrte. Der Mann sprach ständig vom game, das Gedichten innewohnen würde, die etwa Wallace Stevens oder Gwendolyn Brooks geschrieben hätten. Wir lasen und lasen, und bis zum Abschluss des Seminars log ich, dass ich das game nicht nur sehen, sondern auch verstehen könne. Ich log so, wie man als Student eben lügt: erfolgreich, zum Erfolg gereichend und schloss das Seminar mit »sehr gut« ab, aber verstanden – das verstand ich erst Jahre später – hatte ich wenig. Das vom Dozenten stets erwähnte game, das Spiel des Gedichts bzw. das Spiel, das der Text mit seinem Leser spielen möchte, ist in der Tat das Wichtigste an der Lyrik. Der Dichter fordert mich mit jedem Gedicht zum Tanz, zur Schachpartie, zum Gesangsduett auf. Egal, ob ich meine, tanzen, Schach spielen oder singen zu können. Er liefert mir, was ich brauche, um mit ihm zu schwingen. Es liegt an mir, dem Gedicht als Schrittfolge, Partie oder Notation zu begegnen, mich in ihm zu finden, mich in ihm zurechtzufinden. Das Spiel und die Bereitschaft zum Spiel sind das Erkennen. Von Eugen Gomringer gibt es den erklärenden Satz aus seiner Rede »Der Dichter und das Schweigen« aus dem Jahr 1963: »Das Spiel ist keine Spielerei. Das Spiel setzt Heiterkeit und Bejahung voraus […].« Daran möchte ich mich immer halten. Das tröstet mich und spiegelt meine persönliche Erfahrung mit der Lyrik anderer Dichter wider. Mit der eigenen Lyrik habe ich besondere Erfahrungen gemacht, seit sie von verschiedenen anderen Künstlern eingesetzt wurde, um Vertonungen, Libretti oder Textversionen für Klanginstallationen daraus zu fertigen. In den letzten zehn Jahren haben Theatergruppen, einzelne Schauspieler, Choreographen, Sprecher, Musiker, Komponisten, Theatermacher und Sänger meine Texte verwendet, sie in andere Werkbezüge gesetzt. Mal haben mich die Ergebnisse entsetzt, mal befreit und mir Grundsätzliches zum Text aufgezeigt. Durch die verschiedenen Lesarten hat sich die Produktion verändert, sich mir entgegengekehrt, ist mir fremd und dadurch auf neue Weise bekannt geworden. 2014 war ich mit der Jazzsänger-Formation Wortart Ensemble auf Reisen, um das neue gemeinsam konzipierte Text- und Lied-Programm »Wie sag ich Wunder« an verschiedenen Orten aufzuführen. Die Zusammenarbeit mit diesen fünf eigenständigen künstlerischen Persönlichkeiten war für mich eine besondere Herausforderung, weil ich dem A-cappella-Quintett nicht nur als Texterin und damit Librettistin diente, sondern als Mitsängerin. Sie ließen es zu, dass ich mit meiner rudimentär ausgebildeten Singstimme in ihren Arrangements »herumfuhrwerkte«, ja sie beteuerten sogar, dass ihnen meine Stimme als weitere Farbe gut gefiele im Gefüge. Meinen Ansprüchen genügt mein gesanglicher Beitrag nur selten, aber ich gebe es zu, es hat eine besondere Kraft, die eigenen Zeilen – generell alle lyrischen Zeilen – von ihrer Blattbündigkeit auf fünf Notenzeilen zu heben. Es scheint mir, man spürt, dass der Gesang sie von ihrer Schwere...


Nora Gomringer hat sieben Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Zuletzt veröffentlichte sie den Band "Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded" (Voland & Quist 2015) sowie "Morbus" (2015). "Sag doch mal was zur Nacht" (2006) und "Klimaforschung" (2008) wurden ins Schwedische bzw. Französische übersetzt. Für Goethe Institut und Pro Helvetia reist sie um die (Literatur-)Welt. Sie war Poetikdozentin an den Universitäten Koblenz-Landau, Sheffield und Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik 2015 (DVA). Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Berlin, Ahrenshoop, Krems und Novosibirsk wurde ihr 2011 der Jacob-Grimm-Preis als Teil des Kulturpreises Deutsche Sprache und 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Weilheimer Literaturpreis und im Juli den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet.


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