Ein fotografisches Abenteuer von Helmut Schlaiß - mit einem Nachwort von Denis Scheck
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-641-25000-3
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Meine Italienische Reise
«Das ist das Angenehme auf Reisen,
dass auch das Gewöhnliche durch Neuheit und Überraschung
das Ansehen eines Abenteuers gewinnt.»
Johann Wolfgang von Goethe Träume sind Wünsche, die Halt geben und uns an die Zukunft glauben lassen. Doch irgendwann kommt die Zeit, da es gilt, diese Träume umzusetzen. Meine Liebe zu Italien, dem Land, «wo die Zitronen blühen», führte mich über viele Jahre immer wieder in den Süden. Venedig, die Toskana, Rom und Sizilien faszinierten mich sehr und bedeuteten für mich im Laufe der Zeit auch eine fotografische Herausforderung. Fast zwangsläufig stößt man als Italienreisender auf Goethe, der mit seiner Bildungsreise über die Alpen jene Sehnsucht der Deutschen nach Wärme, nach unbeschwerter Leichtigkeit und südländischer Lebensart auslöste. Welch wunderlicher Plan, sich nach mehr als zweihundert Jahren aufzumachen, um fotografisch auf Goethes Spuren durch Italien zu reisen und dabei akribisch genau nach dem Reisetagebuch des berühmten Dichters die Orte ausfindig zu machen, an denen jener einst verweilte. Während er damals noch sein künstlerisches Talent als Maler hinterfragte und unter dem Decknamen Johann Philipp Möller inkognito unterwegs war, wollte ich Bilder, die der Dichter vielleicht in seinem Kopf entstehen sah, fotografisch Wirklichkeit werden lassen. Es ist nicht einfach, wenn man versucht, die vergangenen Jahrhunderte zu überbrücken, sich immer wieder in eine ganz andere Zeit zu versetzen, um die Motive – die Motive des Dichters – so authentisch wie möglich wiederzugeben. Am besten lässt sich dies in Schwarz und Weiß realisieren. Damit konnte ich mich auf das Wesentliche fokussieren, wurde auf meiner Spurensuche nicht von der Farbe abgelenkt. Bunte Bilder verweigern sich der Geschichte und lenken das Auge des Betrachters vom Gesamteindruck des Motivs ab. Wie der Dichter wollte ich in Italien meine Kunst und meine innere Ruhe wiederfinden. Der umtriebige Alltag, die schnelle und lautstarke Welt lähmen damals wie heute die künstlerische Konzentration. Goethe trachtete einst danach, mit sich selbst ins Reine zu kommen, er stand in der Mitte des Lebens und wollte sich Gewissheit verschaffen, indem er in der Besinnung auf sich selbst Klarheit in seine künstlerische Zukunft brachte. Auch für mich bedeutete diese fotografische Adaption der «Italienischen Reise» eine Besinnung auf die Wurzeln meiner schöpferischen Arbeit. Nach jahrzehntelanger Tätigkeit als Berufsfotograf in der Werbebranche wollte ich mit dieser selbstgestellten Aufgabe mein künstlerisches Vermögen ausloten. Stück für Stück habe ich auf der Route des Dichters versucht, seine Eindrücke bildlich in der Gegenwart festzuhalten. Inspiration dazu war aber immer der Originaltext Goethes. Aus Goethe ist kein großer Maler geworden, was für die Kunst ein zu verschmerzender Verlust ist. Der Dichter aber hat in Italien, seinem Arkadien, wieder zu sich gefunden. Er konnte zurückkehren nach Weimar, gewappnet für die Anfechtungen seiner politischen Ämter und voll poetischer Inspiration für neue literarische Werke. Ich, als Fotograf, der mit Begeisterung dem Weg des Dichterfürsten folgte, fand in dem heutigen Italien gleichfalls mein Traumland. Die Idee, mich auf die fotografische Spurensuche zu machen und Goethes italienischer Reise zu folgen, sollte nicht nur künstlerisch mit einigen Abenteuern verbunden sein. Diese Aufgabe brachte manch schweißtreibendes Erlebnis mit sich, verlangte endlos Geduld beim Auffinden des Motivs und beim Warten auf den richtigen Moment, um den Auslöser zu drücken. In Erinnerung bleiben die vielen Begegnungen mit Menschen, die erstaunt, aber hilfreich mein Projekt begleiteten. Es war von Anfang an klar, dass ich in der schrill farbigen Welt der Gegenwart nur in Schwarz und Weiß arbeiten konnte, um mich Goethes Eindrücken zu nähern. Wie sehr sich die Welt seit dem 18. Jahrhundert doch verändert hat! Rasender Autoverkehr und nicht enden wollende Touristenströme zwangen mich zur Nachtarbeit. Das Kolosseum in Rom fotografierte ich um vier Uhr morgens, die Porta Stuppa in Verona spät nachts, als der Verkehrsstrom endlich abriss. Beim Brunnen der Schande, der berühmten Fontana Pretoria, in Palermo musste ich mir damit behelfen, dass ich zuerst die touristenfreie rechte und dann die linke Hälfte abbildete und die beiden Teile nachträglich zusammenfügte. Möglich war diese italienische Reise nur mit meinem treuen Begleiter, meinem zum «Ein-Mann-Wohnmobil» umgebauten R4-Kastenwagen, Baujahr 1984, in dem ich oft lange ausharrte, bis das Fotoshooting möglich wurde. Ich war mit ihm direkt vor Ort und konnte die Wartezeit hin und wieder mit einem Nickerchen überbrücken. Mein Oldtimer bot mir zwar nicht ganz den Komfort eines echten Wohnmobils, trotzdem empfand ich mein Gefährt im Vergleich mit den Strapazen einer Kutschfahrt zu Goethes Zeiten als Luxus. Im Rückblick bin ich noch immer stolz auf meinen Oldtimer, der mich auf allen Bergstraßen und Pässen, auf alten, baufälligen Pisten, mitten auf dem Land und in der Rushhour von Neapel kein einziges Mal im Stich gelassen hat. Während Goethe von Assisi nach Foligno einen der anmutigsten Spaziergänge seines Lebens unternahm, hieß es für mich, mit meinem Renault die Bergstraßen rauf- und wieder runterzuzuckeln, dann, bei sengender Hitze, zu Fuß weiter, bis endlich das Motiv gefunden war, das Goethe so sehr erfreut hatte. Also galt auch für mich: «Vier volle Stunden an einem Berge hin, rechts ein reichbebautes Tal», bis ich endlich, schweißgebadet, das Motiv der größtmöglichen Übereinstimmung gefunden hatte. Ein Landschaftsbild mit Goethes Augen zu machen versetzte mich, trotz aller Mühsal, in ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Aufgenommen habe ich fast alle Bilder nur mit meiner Leica Monochrom und einem Normalobjektiv, letztendlich um den begrenzten Blick des Menschen als das Maß meiner Fotografie zu nehmen. Goethes Augen, seine Sicht der Dinge, sollten nicht mit einem Weitwinkel oder anderem fototechnischem Schnickschnack verfremdet werden. Längst hätte ich erwähnen müssen, dass ich nicht wie der Dichter meine fotografische Spurensuche auf einer einzigen Fahrt bewältigt habe. Mein Projekt zog sich über drei Jahre hin, während deren ich mit längeren Unterbrechungen immer wieder nach Italien reiste. Beinahe hätte ich sogar, nach einem frühen Wintereinbruch, meinen treuen Oldtimerbegleiter in einer Garage im Süden überwintern lassen müssen. Natürlich hatte ich mit einer Reihe weiterer Widrigkeiten zu kämpfen. Es gab Baugerüste, die mich zwangen, ein Motiv ein Jahr später mit Hoffen und Bangen noch einmal aufzusuchen. Hin und wieder stimmten die Öffnungszeiten nicht mit denen überein, die im Reiseführer angegeben waren. Es galt immer wieder, verschlossene Türen und Tore zu öffnen. So erklärte in Palermo vor Goethes Domizil eine Frau in Uniform unmissverständlich: «Kein Zutritt!» Vielleicht hat ja die «Giuridica del Tribunale» etwas zu verbergen. Nicht selten brauchte es Engelszungen und die größten Überredungskünste, um Einlass und eine Fotogenehmigung zu erhalten. In Ferrara ging ich sogar so weit, eine Museumsdirektorin charmant mit einem Blumenstrauß zu entwaffnen, um an das Ziel meiner Wünsche zu gelangen. Manch ein Bild konnte ich nicht verwirklichen, da findige Kommunalbeamte oder Museumsleiter sämtliche Bildrechte nach Japan verkauft hatten. Doch im Rückblick muss festgehalten werden, dass viele Menschen nach anfänglichem Zögern – was sicherlich zum Teil an der Sprachbarriere lag – meine Projekte unterstützten. Zudem erstaunte es mich, dass ich bei meinen Begegnungen immer wieder auf Italiener traf, die die Reise des großen deutschen Dichters aus längst vergangenen Zeiten noch in ihrem kulturellen Gedächtnis beherbergen. Alle Straßen führen nach Rom oder von dort hinaus in die weite Welt. Doch nicht alle alten Römerstraßen finden sich im Bewusstsein der Tourismusmanager, geschweige denn in den neuzeitlichen Navigationssystemen. Das bedeutete ein abenteuerliches Sich-Durchfragen und Herumirren, besonders dann, wenn der eine Passant hilfreich nach rechts zeigte und der andere nicht weniger freundlich nach links. So geschehen bei der Suche nach der einstigen Hauptstraße der Römer, der Via Appia Antica, südlich der Hauptstadt auf meinem Weg nach Neapel. Von Zweifeln geplagt, von Fliegen umschwirrt und wieder einmal bei großer Hitze, traf ich, kurz davor, aufzugeben, auf eine Landschaft, ein Motiv, wie man es sich besser nicht wünschen kann, und erlebte abermals einen fotografischen Glücksmoment. Dabei musste das Wetter mitspielen, und beim Warten auf den richtigen Sonnenstand und die idealen Lichtverhältnisse brauchte es oft viel Geduld. Wenn «der Seefahrer vom Eigensinne des Wetters und Windes abhängt», wie Goethe im Sizilien-Kapitel schreibt, so liefert sich auch der Fotograf auf der Suche nach dem ersehnten getreuen Abbild auf gut Glück wechselnden Witterungs-, Wind- und Wolkenlaunen aus. Manchmal half mir der Zufall, um mit einem fotografischen Kabinettstückchen aufwarten zu können. Noch ganz am Anfang...