Das große Versagen der Politik
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-360-50169-1
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Einleitung Kurs Klimakollaps: Wer ist verantwortlich? Der Traktor dreht sich quer zur Straße und droht zu kippen. Sein Anhänger, mit Bruchsteinen beladen, drückt unerbittlich. Mein Vater löst die Bremse, es ruckelt mächtig, während ich versuche, mich festzuhalten. Gerade noch fängt sich der Trecker. Wir rollen vorsichtig den Rest des abschüssigen Feldwegs hinunter. Ich war damals wohl dreizehn Jahre alt. Einige werden ähnliche Erinnerungen haben an Geschehnisse, bei denen alles hätte schiefgehen können. Wenn einem klar wird, dass die Erwachsenen nicht alles unter Kontrolle haben. Dass es Kräfte gibt, mit denen man sich nicht anlegen sollte. Aber auch, dass mit geistesgegenwärtigem Handeln die Katastrophe verhindert werden kann. Ich erinnere mich der Szene noch aus einem anderen Grund. Wir kamen damals aus einem Steinbruch und hatten den Abfall, der kommerziell für den Betreiber nicht verwertbar ist, eingesammelt und aufgeladen. Mit Grünsand- und Feldsteinen baute mein Vater die Außenwände des Hauses, in das wir später einziehen sollten. Er verwendete Naturmaterialien: Altpapier, Kork, selbst die Wolle seiner Schafe für die Isolierung, Baumstämme für die Konstruktion. Er weißte die Wände mit Kalk. Wir lebten zu großen Teilen von dem, was der Bauerngarten hergab, und von den eigenen Schafen. Verschwendung gab es nicht, alles wurde in einem Kreislauf möglichst verwertet. Auch, weil meine Eltern noch Krieg und Nachkriegszeit erlebt hatten. Die Essensreste kamen auf den Kompost oder wurden an die Schafe verfüttert. Dinge reparierte man. Mein Vater, der von Bauer auf Bildhauer und Möbelbauer umgesattelt hatte, verwendete keine Nägel und Schrauben, er verzapfte das Holz. Später pflanzte er einen kleinen Wald an. »Das, was ich der Natur entnommen habe, will ich ihr zurückgeben.« Ich verbrachte Kindheit und Jugend in den 1970er und 1980er Jahren in einem kleinen Dorf in Westfalen. Sicher lebten nicht alle Familien wie wir in unserer »Burg«. Aber der Geist der Nachhaltigkeit war überall vorhanden. Zwar wurde den Leuten auch damals schon eingeredet, dass sie Produkte »verbrauchen«. Aber ich habe noch keinen getroffen, der einen Fernseher kauft, um ihn zu verbrauchen statt zu nutzen und zu pflegen. In Wahrheit versucht eine Marketingmaschinerie, die allein in den USA jährlich ein bis zwei Billionen US-Dollar umsetzt – Kosten, die im Übrigen den Produkten draufgeschlagen werden –, Menschen zu Konsumenten zu degradieren. Die »geplante Obsoleszenz«, das künstliche Verkürzen der Lebensdauer von Produkten, ist nur die Spitze des Eisbergs.1 Das Bemühen um ein nachhaltiges Leben wie das meiner Eltern war in gewissem Sinn aber auf Sand gebaut. Jedenfalls, was den Klimawandel angeht, der heute zu Recht Klimakrise oder Klimakatastrophe genannt wird. Meine Mutter musste als Lehrerin jeden Tag mit dem Auto in die zehn Kilometer entfernte Stadt zur Schule fahren. Zum Einkaufen ohnehin. Das Haus wird bis heute mit einem Kachelofen beheizt, also durch Verbrennen von Holz, in der Küche stocherte mein Vater lange den Ofen mit Kohle, später kam eine Gasheizung dazu. Wir fuhren mit dem Auto nach Italien. Meine Eltern flogen, wenn auch erst spät und dann selten, mit dem Flugzeug in den Urlaub. Meine drei Geschwister und ich haben gewiss einen größeren CO2-Fußabdruck als meine Eltern. Das ist nicht das Resultat von bewussten Entscheidungen, sondern durchs Leben bedingt. So arbeitete ich eine Zeit lang als Journalist in den USA. Wenn ich richtig zähle, habe ich dabei in gut zwei Jahren fünf Transatlantik-Flüge gemacht. Das allein sind insgesamt rund 20 Tonnen Kohlendioxid. Der durchschnittliche jährliche CO2-Verbrauch eines Deutschen lag damals bei rund 11 Tonnen. Heute versuche ich nur noch zu fliegen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. In den letzten Jahren hat das geklappt. Meine Frau will nicht ganz auf Fernreisen verzichten. Ich möchte irgendwann mal meine Freunde in den USA wiedersehen. Es ist nicht leicht. Zudem hat unser Verzicht, der nie genug scheint, keinen Einfluss auf die globale Klimakrise. Er ist natürlich wichtig, für einen selbst, als Signal. Aber die Schwierigkeiten verweisen auf ein Paradox, mit dem wir alle leben. Da Kohlendioxid in allem steckt, was uns umgibt, ist der kalte Entzug nicht vergleichbar mit der Bekämpfung anderer Bedrohungen wie der des sauren Regens oder der schwindenden Ozonschicht. Die konnten quasi per Knopfdruck abgeschaltet werden. Die Klimakrise ist zudem um ein Vielfaches bedrohlicher. Die Vorhersagen der Wissenschaft sind heute derart vernichtend, dass einem schwindlig wird. Die Hitze, die wir bereits jetzt schon nahe der Erdoberfläche durch das menschengemachte Kohlendioxid in der Atmosphäre einfangen, entspricht der von 400000 Hiroshima-Bomben jeden Tag oder vier pro Sekunde. Im Durchschnitt ist die Erdtemperatur bisher um 1,2°C gestiegen. Studien zeigen, dass auch dann schon ein Drittel des Gletschereises schmelzen wird, wenn wir sofort aufhören, Treibhausgase zu produzieren. Aber bisher steigt die globale Emissionsmenge jährlich weiter an. Vorausgesetzt, alle Staaten tun, was sie zum Schutz des Klimas beim Gipfel in Paris versprochen haben, wird die Erde dennoch um 3–4°C aufgeheizt. Bei einem menschlichen Körper bedeutet ein derartiges Dauerfieber den Tod.2 Für uns Bewohner auf dem Planeten wird es bedeuten: In 80 Jahren werden die niedrigen und mittleren Lagen der Erde wegen des Hitzestresses sowie der Dürren nicht mehr bewohnbar sein und die meisten Bevölkerungen kaum noch Zugang zu Trinkwasser haben. Während die Zahl der Menschen zunimmt, wird die Landfläche schrumpfen. Elf Milliarden anstelle der gegenwärtigen knapp acht prognostiziert man für das Ende des Jahrhunderts. Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), stellt vor diesem Hintergrund fest: »Es ist kaum vorstellbar, wie es möglich sein soll, acht Milliarden Menschen oder selbst die Hälfte davon zu versorgen.« Also werden in den kommenden Jahrzehnten viele, wahrscheinlich Milliarden Menschen sterben, wenn es keine Kursänderung gibt. »Eine reiche Minderheit mit modernem Lebensstil wird sicherlich überleben können, aber es wird eine chaotische, von Konflikten angetriebene Welt sein.« Mein Sohn, wie alle, die heute geboren werden, müsste in dieser Welt zurechtkommen. Wenn zudem sogenannte Kipppunkte im Erdsystem bei der weiteren Erhitzung in Gang gesetzt werden, was zu einer nicht mehr kontrollierbaren Selbstverstärkung führt, heißt es auf lange Sicht sogar Game-over für die Spezies Mensch.3 Wer ist aber verantwortlich, wenn nicht wir, die Konsumenten, unsere menschliche Natur, die unablässig nach Verbrauchen trachtet? Die Zahlen sind eindeutig. Die Industriestaaten vor allem in Europa und Nordamerika haben die Klimakrise verursacht, nicht Indien, China oder Afrika. Um genau zu sein: das Geschäftsmodell einer Reihe von Konzernen. So listet eine Studie die großen Profiteure des Kohlenstoffzeitalters auf: fünfzig privatwirtschaftliche Unternehmen, 31 Staatskonzerne und neun zentralistische Staaten, die als fossile Produzenten auftreten. Das Climate Accountability Institute hat die sogenannten Carbon Majors untersucht, die zwischen 1854 und 2010 für die meisten CO2- und Methanemissionen auf der Welt verantwortlich waren. Bis auf sieben Unternehmen, die Zement herstellen, sind alle Öl-, Gas- und Kohleproduzenten. Zusammen setzten sie ungefähr zwei Drittel der anthropogenen Treibhausgase frei. Die sechs größten Emittenten dieses Clubs der Neunzig, mit fast 17 Prozent, heißen: Chevron (USA), Exxon-Mobil (USA), Saudi Aramco (Saudi-Arabien), BP (Großbritannien), Gazprom (Russland) und Royal Dutch/Shell (Niederlande). Der deutsche RWE-Konzern und seine Vorgängerunternehmen haben zu rund 0,5 Prozent auf das Klima eingewirkt. Auch ein Batzen, aber nicht ausreichend für die Top 20.4 Der Klimajournalist Bill McKibben bezeichnet diese Konzerne als »Schurkenindustrie«. Denn sie haben bereits in den 1970er Jahren gewusst, dass das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl zu einem katastrophalen Klimawandel führen wird. Diese Erkenntnisse hielten sie aber unter Verschluss. Seitdem hat man viel Geld mit der toxischen Ware gemacht, während die Öffentlichkeit mit Kampagnen überzogen wurde, um den notwendigen Umstieg auf erneuerbare Energien (Wind, Sonne, Wasser, Geothermie) zu verlangsamen. Etliche Untersuchungen zeigen, wie die »Klimaschmutzlobby« (der Titel eines gut recherchierten Buchs von Susanne Götze und Annika Joeres) immer wieder politisch intervenierte, um Klimaschutz auszuhebeln: vom Bauernverband über die Auto- und Luftfahrtindustrie bis zu den energieintensiven Branchen wie Stahl, Chemie und Bergbau, im Schlepptau stets die jeweiligen Gewerkschaften. Was nicht überrascht. Wenn man den Sumpf trockenlegt, beginnen die Frösche zu quaken. Denkt man einen Schritt weiter, ist das aber nur die halbe Geschichte. Und jetzt wird es etwas ungemütlich für uns. Warum haben wir das zugelassen, vor allem jene, die über Einfluss verfügen? Warum siegte bei einer derart existenziellen Krise die Schurkenindustrie und konnte eine politische Kursänderung verhindern? Parlamente und Regierungen werden ja nicht von RWE und VW gewählt, sondern von uns. Und was ist mit der Presse, den Kontrolleuren der Mächtigen? Was ist mit den öffentlich-rechtlichen Sendern, die finanziert werden von den Gebühren der Bürger, nicht vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI)? Allein in Deutschland arbeiten über...