Der Anarch in der Musik
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-552-07536-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anton Bruckners (1824 bis 1896) Kompositionen fanden zu seinen Lebzeiten keine Beachtung, sie wurden von seinen Kritikern und Widersachern – allen voran Johannes Brahms – ignoriert, mit Unverständnis abgetan und verunglimpft. Lediglich mit Richard Wagner verband den von Selbstzweifeln geplagten Bruckner eine wenn auch paradoxe und nicht eindeutige Beziehung.
Rüdiger Görner versteht es, Leben und Werk des Solitärs Bruckner auf neuartige und erzählerische Weise zu verschränken. Und er zeigt eindrucksvoll, wie das schlichte Leben dieses aus der Provinz stammenden, anarchistischen Biedermanns in eine beeindruckende musikalische Weltläufigkeit mündete und direkt in die Moderne führte.
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Einübungen in ein Komponistenleben
Welches Bild haben wir von Anton Bruckner? Gemeinhin dieses: Bruckner, der Anekdotenlieferant, tapsig bis tollpatschig, in der Hoffnung auf etwas Geselligkeit hinein ins Wirtshaus Zum roten Igel, leicht weinselig schwankend, krummbeinig, die Hosen zu kurz, der Gehrock sichtbar ausgebeult, abgestoßen an den Ärmeln und am Revers: die Karikatur eines schrulligen Menschen und Eigenbrötlers, von dem niemand wusste, was in ihm vorging, weil auch niemand auf den Gedanken gekommen wäre, danach zu fragen. Mit den Höhen der Kunst, gar der Musik, hätte ihn niemand in Verbindung gebracht, der ihn nicht kannte. Für die Kunst wirkte er einfach zu schwerfällig. Man hätte ihn für einen unversehens in die Stadt geratenen Waldarbeiter halten können, auf den ersten Blick, der nur einen Wunsch hatte, möglichst rasch wieder aus der Stadt zu finden. Bruckner, ein Mensch am Rande der Gesellschaft, leicht hinkend. Oder so: Bruckner im Scherenschnitt: mal mit Sonnenschirm gravitätisch zu schreiten versuchend, die kleinen Kritiker hinter ihm mit gezückter Feder, eifrig bemüht, etwas auf einen Partiturbogen zu kritzeln, den er abweisend hinter sich hält. Bruckner an der Orgel, Bruckner mit Zylinder und Notenrolle in der Hand, von Wagner begrüßt, Bruckner am Fenster mit Richard Wagner stehend, der ihm eine Prise Schnupftabak anbietet, Bruckner begegnet Wagner in Bayreuth, ohne Notenrolle dieses Mal, aber wieder mit gezogenem Zylinder: beide klein, Bruckner eine Spur kleiner, gedrungener, ehrerbietig, unbeholfen vor dem kleinen Großmeister des Musikdramas, derweilen in ihm symphonische Dramen brüten. Bruckners Mund ist auf diesen Scherenschnitten von Otto Böhler leicht geöffnet, wie erstaunt, um ein verbindliches Wort bemüht, wogegen die Lippen Wagners geschlossen bleiben. Bruckner, irgendwie vorzeitig gealtert. Eine Fotografie des Dreißigjährigen wirkt da schon wie eine Überraschung. Zwar scheint er darauf älter, als er ist, aber mit einem Anflug von Eleganz; das Revers aus Satin, eine Wohlstand vortäuschende Uhrenkette, die Rechte geradezu lässig zur Hälfte in der Hosentasche, in der Linken vermutlich eine kleine Notenrolle. Der Blick im Sinne von: Auch ich bin da. Nein, nicht scheu, eher unverwandt. Nicht unauffällig der Kehlkopf, der über der leicht schief sitzenden Kragenbinde beim Schlucken hüpfen dürfte. Das rechte Bein leicht vorgestellt, als wollte er demnächst noch wohin … Aber der Anflug von Eleganz reichte nicht zu einem feschen Aussehen. Von Anbeginn scheint er auf das andere Geschlecht ohne tiefere Wirkung gewesen zu sein. Melancholie umgab und durchdrang ihn. Nur durch sein Orgelspiel gewann er Herzen. Das Erotische ging bei ihm, dem durchaus hingebungsvollen Lehrer, der er war, im pädagogischen Eros auf. Man ist gut beraten, sich diesem Komponisten fragend zu nähern, denn wie ein Leben erzählen, das keines gewesen zu sein schien, doch dabei aus einer Überfülle an musikalischen Einfällen bestand. Vermeintliche Lebensleere traf in ihm auf unbestreitbare Kunstfülle. Die Grundspannung in seinem Leben erzeugte der Kontrapunkt, bestehend aus Einsamkeit und Sehnsucht nach ihrer Überwindung durch die Kunst. Als Organist brandete ihm ungeteilte Begeisterung entgegen, als Komponist entzweite er die Hörgemüter. Der Star auf der Orgelbank, wo ihn niemand sah, nur hörte, wusste oft auf dem Dirigentenpult nicht, wohin mit sich und seiner Musik. Zu erzählen ist von einem Künstler, der geradezu leidenschaftlich seine Werke Revisionen unterzog, dabei in sie und in sich hineinhörte, vermeintliche Missklänge aufspürte, neue Klangansätze wählte (nicht immer wirkungsvollere) und dabei etwas einführte, was ich perspektivisches Komponieren nennen möchte. Seinerseits ermöglichte es ein perspektivisches Hören, ja, es machte ein solches unbedingt erforderlich. Eigentlich bedürfte es einer katzenbeweglichen Ohrenfertigkeit, um den Richtungswechseln und -wendungen in diesem symphonischen Werk hörapparativ gerecht zu werden. Knapper gesagt: Anton Bruckner fordert den Radarhörer. Wagen wir einen Versuch. Fahnden wir nach einer Lektüre, die sich annährend plausibel mit Bruckner in Verbindung bringen ließe, mit dem, was wir heute eine »Selbstaussage« nennen. Die gängigen bedeutenden Musikerromane kommen hierfür nicht in Frage. Soweit bekannt, gibt es nur einen, der von einem Komponisten handelt, der gewissermaßen in Orgelnähe Symphonien komponiert, und das auch deswegen, weil sein Urheber Organist war, der Schriftsteller Hans Henny Jahnn, der zu den verkanntesten literarischen Modernisten deutscher Sprache zählt, fraglos aber neben Robert Musil, Hermann Broch und Alfred Döblin zu orten ist, und das nicht zuletzt aufgrund seines Romans in drei Teilen Fluss ohne Ufer, aus den »Niederschriften« des fiktiven Komponisten Gustav Anias Horn bestehend. Im zweiten Teil dieses Romans führt ein sogenannter Kulturjournalist mit dem Komponisten Horn ein Gespräch über eine im Entstehen begriffene Symphonie. Horn berichtet auf eine Weise darüber, die der Art Bruckners nicht unverwandt gewesen sein dürfte: Ich konnte ihm nicht erklären, aus welchen Bezirken die musikalischen Wirklichkeiten in mir aufsteigen und welche Wahrheiten oder Irrtümer sie enthalten. Meine Sinne weigerten sich gleichsam, ihren Anteil am Bau einer Strophe zu verraten. Das Bewußtsein drängt sich vor, um Formen zu erklären, rhythmische Konstruktionen, mathematisch-harmonische Zusammenhänge herzustellen. Schon die Wahl der Tonarten ist kaum zu erklären. Die Klangfarben, der irdischste Teil der Musik —: warum greift der Geist zu einer bestimmten Instrumentierung und nicht zu einer anderen? Welche Entsprechungen werden ausgedrückt? Wo sind die Grenzen zwischen Eingebung, Willkür und saurer Arbeit. […] Ich fühle mich in meinem eigenen Werk verloren, sobald ich es näher betrachte. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.1 Bruckner war ein Musikhöriger, und das mit einer solipsistischen Ausschließlichkeit. Dass er noch als Mittfünfziger aussichtslos um eine Siebzehnjährige wirbt, wiederholt Heiratsanträge an Zwanzigjährige schrieb, verstärkte nur seine Isolation. Als Komponist großer, von »Gemeinschaft« und Zusammenklang bestimmter Werke war er der Einzelgänger schlechthin, dessen Triebleben aus Verdrängung und Projektion bestand. Man sollte vorab festhalten: Bruckner kannte offenbar kein sexuelles Erwachen; eher dämmerten seine Lüste — zunächst jedenfalls. Zu dominant war seine Bindung zur Mutter, selbst noch nach ihrem Tod; zu sündhaft belegt schien ihm der körperliche Vollzug des Liebens, selbst ein Kuss gehörte in die Selbstverbotszone. Doch sollte dies nicht mit Liebesunfähigkeit oder einer grundsätzlich mangelnden Leidenschaft verwechselt werden, nur dass sich eben beides auf die Musik, den Glauben, das Komponieren richtete. Anton Bruckner war bis zuletzt ein tiefreligiöser Einzelgänger, der sich keiner Schule oder Lehrmeinung anschließen wollte. Er schuf zahlreiche geistliche Vokalwerke wie seine drei Messen, die Missa Solemnis b-Moll (1854), das Te Deum (1881—1884) und Motetten. Als Symphoniker komponierte er von 1863 an insgesamt neun Symphonien und zahlreiche symphonische Studien, wobei eines unmittelbar auffällt: In einer Zeit, die dem Virtuosentum huldigte, verweigerte er sich der Komposition von Solokonzerten. Keinem Instrument räumte er solistische Vorrechte ein, nicht der Violine, nicht dem Klavier, nicht dem Cello, nur der Orgel, die er wohl für das Instrument Gottes gehalten haben dürfte. Aber für sie komponierte er nichts. Für sie schien schon alles komponiert von seinen Vorgängern. Und es war ihm ein Instrument der großen Improvisationen, bezeichnenderweise nicht selten über das Thema aus Richard Wagners Siegfried (zweiter Aufzug, zweite Szene), als der Titelheld zärtlichst, von einer Vogelstimme umspielt, seiner Mutter gedenkt (»Meine Mutter, ein Menschenweib«). Die Orgel — sie ist in Wahrheit kein Soloinstrument, sondern ein mechanisch die Macht der Musik verkörperndes Sinnbild,...