E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-95988-199-9
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Frank Göhre, Jahrgang 1943, arbeitete als Buchhändler, Bibliothekar, Verlagsangestellter und Hörfunkautor. Er lebt in Hamburg und schrieb neben Romanen (siehe www. pendragon.de) u. a. die Drehbücher zu den Kinofilmen »Abwärts«, »Die Ratte« und das mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Drehbuch »St. Pauli Nacht« (Regie: Sönke Wortmann). Göhre ist Mitarbeiter bei CULTurMAG (www.culturmag.de).
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DAS HANDYVIDEO
1
Das Osterwochenende nach Davids Tod ist weitgehend sonnig bei milden Temperaturen. Die Ostseestrände und Nordseebäder sind gut besucht. In Hamburg sind Spaziergänge an Alster und Elbe angesagt, Fischbrötchen auf der Großen Elbstraße und der Jazzfrühschoppen in der Fabrik, Dixieland, Pinkeljazz. Am Dienstag nach den Feiertagen meldet sich am späten Abend ein Mann, ein Schwarzafrikaner unbestimmten Alters, bei dem inzwischen dreiundvierzigjährigen Immobilienkönig Nicolai Radu. Nicolai bewohnt mit seiner Frau Hanna, geborene Pietsch, Chauffeur und Hauspersonal eine dreigeschossige Jugendstilvilla am Harvestehuder Weg. Baujahr 1911. Fünfhundertachtzig Quadratmeter Wohnfläche mit Einliegerwohnung und Garten. Der Kaufpreis nicht bekannt. Nicolais privates Büro ist im dritten Stock, mit Blick auf die Alster. Technik dominiert. An der Wand ein großformatiger Daniel Richter. Der Mann erzählt Nicolai und seinem Chauffeur Pjeter eine Geschichte mit vielen Andeutungen und Anspielungen auf Hamburger Prominente. Er belegt das mit der Aufnahme eines Handyvideos. Das sei zu erwerben. Es gebe keine Kopien. Der Mann nennt einen vierstelligen Betrag und deutet mit einem schiefen Lächeln an, darüber könne man aber auch verhandeln. Nicolai betrachtet die Aufnahme genau. Kneift die Augen zusammen, sieht noch einmal hin. Er lässt sich nicht anmerken, was die Bilder bei ihm auslösen. Nicht ein Muskel zuckt in seinem Gesicht. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, hat noch Fragen. Fragen nach Details. Die Antworten scheinen ihn zu befriedigen. Er seufzt jetzt. Er dankt. Er nennt den Betrag, den er zu zahlen bereit ist, wechselt mit seinem Chauffeur einen Blick. Pjeter tritt hinter den Mann. Er wirft ihm eine Drahtschlinge über den Kopf, erdrosselt ihn damit. »Schaff das Arschloch weg«, sagt Nicolai. »Du weißt, was du zu tun hast.« Er legt das Handy des Schwarzen in die Schreibtischschublade. »Wann kommt Ivo raus?« »Vorzeitig. Nächste Woche.« »Dann solltest du das umgehend erledigen.« Als Pjeter gegangen ist, tritt er ans Fenster und schaut über die Alster auf die Lichter der City. Er liebt diesen Blick, er liebt diese Stadt, die nun schon seit vielen Jahren seine Heimat ist. Was er auf dem Handy gesehen hat, geht ihm nicht aus dem Kopf. Es sticht wie mit glühendem Eisen, es schmerzt. Es zerreißt ihn. Er möchte schreien vor Schmerz. Er schreit nicht, obwohl ihn jetzt niemand hören würde. 2
Nicolai betritt Hannas Zimmer. Der Fernseher läuft. Merkwürdige Gestalten zischen über Meer und Gebirge. Flügeltiere speien und grunzen. Nicolai schaltet die Scheiße aus. Hanna sitzt in ihrem hohen Sessel, den Kopf gesenkt, das Weinglas ist ihr aus der Hand geglitten. Sie ist eingenickt. Nicolai betrachtet sie. Er sieht in ihr immer noch die junge, lebensfrohe Frau, die er begehrt, die er liebt. Das blonde Mädel mit dem Hamburger Schnack. Doch sie ist krank geworden, Brustkrebs, Operation und noch andauernde Chemo. Sie ist erschöpft. Wenn sie von der Behandlung zurückkommt, legt sie sich hin, schottet sich ab. Sie will niemanden sehen, sie will nicht reden. Sie trinkt. Trinkt ihren Weißwein entgegen allen ärztlichen Ratschlägen. Das ist nicht gut, tut ihr nicht gut, und sie weiß es. Sein Hals wird eng. Er schluckt, die Augen werden feucht. »Liebes, du darfst nicht schon gehen«, sagt er leise, »ich brauche dich doch.« Er haucht ihr einen Kuss auf die Stirn, drückt ihre Hand. »Du wirst Gesellschaft bekommen, bald schon. Das wird dich ein wenig aufmuntern.« Hanna murmelt etwas Unverständliches. Nicolai nickt zuversichtlich. Er bringt sie zu Bett. Es ist spät geworden. Auch er ist müde. Er geht nach nebenan in sein Schlafzimmer und hofft auf einen tiefen, traumlosen Schlaf. Vergessen. Vergessen können. 3
In der Nacht zum Samstag kommt es um 3.18 Uhr in den hinteren Räumen des vorwiegend von Schwarzen frequentierten Dancing Clubs am Eimsbütteler Park zu einer Explosion. Feuer bricht aus. Schwarzer Rauch steigt auf. Die beiden Pächter und Betreiber des Clubs, ein Portugiese und seine deutsche Partnerin, sowie die studentische Tresenbedienung kommen dabei ums Leben. Die zu diesem Zeitpunkt letzten Gäste können sich ins Freie retten. Einige mit lediglich geringfügigen Verletzungen. 4
Das Tor der Strafvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, Santa Fu, öffnet sich. Ivo tritt heraus, ein mittelgroßer, hagerer Mann mit schmalem Gesicht, dichtem schwarzem Haar und Schnäuzer, bekleidet mit einem grauen Zweireiher, offenem Hemd und blank gewienerten schwarzen Schuhen. Er sieht elend aus. Pjeter steigt aus seinem Range Rover und geht ihm mit weit ausgebreiteten Armen entgegen. Er umarmt und küsst ihn auf beide Wangen. »Nicolai erwartet dich«, sagt er. »Fahr mich zu Kristina«, sagt Ivo. Kristina öffnet ihm. Sie ist schmaler geworden, hat ihr Haar weißblond gefärbt, eine Kurzhaarfrisur, ein Herrenschnitt mit einem akkurat gezogenen Scheitel links. Ivo checkt einen Moment zu lange ihre Figur, die sich unter dem Shirt abzeichnenden hochgepushten Brüste. Ihr Blick verdüstert sich. Wortlos gibt sie ihm zu verstehen einzutreten und geht vor. Die Küche ist neu eingerichtet, viel Metall und Glas, die Wand über dem Herd ist blau gestrichen. Ivo setzt sich an den runden Esstisch und kramt sein Tabakpäckchen hervor. Routiniert dreht er sich eine Kippe, klickt sein Zippo auf. Kristina schenkt Kaffee ein. »Es gibt nichts, was du nicht schon weißt«, sagt sie und stellt ihm den Becher hin. »Wie war er? Ich meine, der Junge.« »Dein Sohn.« Kristina bleibt ihm gegenüber stehen, hält ihren Becher mit beiden Händen, ihr Blick geht ins Leere. »Er war dein Sohn. Mehr kann man eigentlich nicht sagen. Im Guten wie auch sonst. Er hat zuletzt oft nach dir gefragt.« »Warum ist er nicht mal im Knast aufgetaucht?« Kristina zuckt die Achseln. »Ich hab ihn nicht gehindert.« »Super Antwort.« »Glaub ja nicht, ich hätte es leicht mit ihm gehabt. Er hat sich nichts sagen lassen. Von mir nicht, in der Schule nicht. Von niemandem.« »Okay«, sagt Ivo. »Okay. Hatte er Freunde, vielleicht schon ’ne Freundin, ’ne Clique, mit der er rumgezogen ist?« »Ich kenne nur einen Björn. Bei dem war er einige Male. Hat er jedenfalls gesagt. Irgendwo in Övelgönne, direkt an der Elbe.« »Hat der sich bei dir gemeldet?« »Nein«, sagt Kristina. »Warum auch? David ist tot, gestorben wie ein elender Junkie. Frag du dich lieber, wer ihn an das Dreckzeug gebracht hat, frag deine Leute!« Ivo presst die Lippen fest aufeinander. Er fühlt eine unsägliche Wut in sich aufsteigen, kann sie nur mühsam unterdrücken. Am liebsten würde er der Alten eine reinhauen, dieser blöden Schlampe, die es nicht einmal hinkriegt, ihren Sohn unter Kontrolle zu halten. 5
Ein milder Abend. Eine Luft wie Seide. Auch das hat die Hansestadt im Programm. Auf der Krugkoppelbrücke spielt eine ältere Dame Saxofon. Hinreißend schön. Ab neunzehn Uhr fahren am Harvestehuder Weg nach und nach Luxuslimousinen, Cabrios, Harley’s und Taxis vor. Männer in hellen Anzügen, in Jeans und »Miami Vice«-Jacketts, in Leder und Stiefeln, stolzieren oder gehen lässig mit ihren jungen und sehr, sehr jungen Frauen in die Villa, begrüßen sich, geben Küsschen und klopfen sich auf die Schulter. Eine bunte, eine schrille Gesellschaft. Bürgerschaftsabgeordnete, Parteilose und Kaufleute, Sportler und B- und C-Promis, Luden und einige Rocker in Begleitung ihrer Muttis, der Alten, der Liebsten, der Torte. Vor dem Haus und in den Hecken klicken die Kameras. Gern fotografiert wird die Familie. Nicolais jüngere Schwester Valea, geschieden, Anwältin in einer renommierten Hamburger Kanzlei, eine Grace Jones in gestreiftem Hosenanzug. Lucian, der Bruder, Gebrauchtwagenhändler, hellblauer Synthetikanzug, zu kurz gebundene Krawatte. Sein Sohn Dragon, immer ganz in Schwarz gekleidet, aktiv auf dem Kiez, mit zwielichtigen Personen auf Du und Du. Nicolai hat ein rustikales Büfett anliefern lassen, mit Grillfleisch, polnischen Würsten und einem Topf Bohnensuppe, aber auch Aal, Makrele und Beluga, Käse und Obst. Der Champagner perlt, Wein und Bier werden serviert, die Jungs aus dem Milieu ordern gleich zu Beginn des Abends ihre Spezialdrinks. Mit Rum, mit Gin, mit Wodka. Wodka. Wodka. Wodka ist der Hit. Pjeter steht hinter der Bar und verweist den einen und anderen diskret auf einen leeren Champagnerkübel. Viele Männer greifen schon vorher in die Brusttasche. Gefeiert wird das fünfzehnjährige Bestehen der Elbbarkasse. Und im engeren Kreis die Freilassung Ivos. Nicolai entschuldigt in einer kleinen Runde seine Frau Hanna. Es sei für sie zurzeit zu anstrengend, sie freue sich aber über jeden Besuch. Ein junger,...