E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-95988-207-1
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Frank Göhre, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt in Hamburg. Der Autor der der inzwischen legendären »Kiez Trilogie« wurde drei Mal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zuletzt für seinen Krimi »Verdammte Liebe Amsterdam« (2020), für den er auch den Stuttgarter Krimipreis 2021 erhielt. Im September 2021 erschien bei CulturBooks sein aktueller Krimi »Die Stadt, das Geld und der Tod«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Er lag auf der breiten Liege und starrte an die Decke. Er redete. Er redete schon sehr lange. Seine Hände waren nass von Schweiß, und seine Stimme war ihm fremd geworden. Es war die eines kleinen Jungen. Er hatte draußen im Garten gespielt und Durst bekommen. Über den Balkon war er in die Küche gestiegen und hatte ein Glas Milch getrunken, und dann etwas aus seinem Zimmer holen wollen. Keine Ahnung mehr, was. Nein, er erinnerte sich wirklich nicht. Das war doch auch nicht wichtig, oder? Er war jedenfalls über den Flur geschlichen. Er stockte. Es fiel ihm jetzt selbst auf, was er gesagt hatte. Geschlichen. Also heimlich. Ja, um nicht zu stören. Seine Schwester übte für das Schulfest. Sie spielte Cello. Die große Schwester. Sie war älter als er. Papas Liebling. Er hörte Papas Liebling im Schlafzimmer der Eltern. Die Tür war nur angelehnt. Er hatte seine Schwester vorher nie ganz nackt gesehen. Jetzt sah er sie. Sie lag auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Ihre Hand war zwischen den Beinen, und sie stöhnte leise. Er konnte einfach nicht wegschauen. Ganz genau sah er, was sie da mit sich machte. Sah ihren dunklen Pelz und das Auge. Das Bärenauge. Die Muschi. Die Möse. Die Votze. Er kannte diese Wörter schon. Er war nicht mehr so klein. Er war dreizehn, und auf der Straße sprachen sie oft davon. Von den Ischen und Weibern und was sie da unten hatten. Die Hand wurde schneller und schneller, und er hielt den Atem an und sein Herz klopfte heftig. Seine Schwester keuchte und wand sich, als habe sie Schmerzen, wurde lauter und er spürte plötzlich, dass vorn seine Hose feucht wurde. Erschrocken stürzte er ins Bad und vergaß, abzuschließen. Und dann war sie auf einmal da und riss ihn an den Haaren und schlug ihn und schrie. Sie schlug ihn hart, prügelte ihn. Er wehrte sich nicht. Er ließ sich nur zu Boden fallen, und irgendwann war es vorbei. Er atmete schwer. Seine Schwester hockte auf dem Wannenrand und heulte. Sie hatte Papas Schlafanzugjacke übergezogen und sonst nichts. Sie zitterte am ganzen Körper. Es dauerte lange, bis sie etwas sagen konnte. Niemand durfte es erfahren, schluchzte sie schließlich. Obwohl es nichts Schlimmes war. Es war nicht schlimm, in Papas Bett zu liegen und Bauchweh zu haben. Das war von der Hitze gekommen und dem vielem Eis. Und dann versprach sie ihm Geld und dass sie ihm bei seinen Schularbeiten helfen würde. Er nickte nur. Nickte und sah sie wieder an. Sie lächelte zaghaft und strich ihm das Haar aus der Stirn, streichelte sein Gesicht. Und dann umarmte sie ihn und zog ihn an sich, redete leise weiter. Dass er sicher schon verstehe, wie das ist. Wenn einem so heiß sei. Er verstand alles. Er verstand sie sehr gut. Ihm war auch heiß, furchtbar heiß. Ja, ja! Unvermittelt schlug er die Hände auf die Liege und schrie: Jaaahhhh! Ein gellender, durchdringender Schrei. Ja! Sie! Sie wollte es so. Gottschalk ließ die Jalousie herunter. Sie hakte und er rupfte sie zurecht. Es war ein ungewöhnlich schöner Apriltag. Der Himmel war klar und die Sonne schien. Eine grauenhafte Vorstellung, dass es so bleiben würde. Dieses Hühnerficker-Wetter. Gestern hatte es geregnet, den ganzen Tag über. Das hatte ihm gut gefallen. Regen und ein starker Wind: Regentropfen, die an mein Fenster klopfen. Er hatte die Melodie wieder im Kopf. Sie würde bleiben. Hauptkommissar Gottschalk seufzte. Regentropfen. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und betrachtete noch einmal das Zeitungsfoto. Es zeigte den »Samurai« in klassischer Pose. Mit breitem Stirnband und Schwert. Der »Samurai« war ein schlanker Mann mit gepflegtem Lockenkopf und sauber gestutztem Schnäuzer. Er hatte hohe Wangenknochen und einen leichten Silberblick. Der Tod des Samurai, war der Artikel überschrieben, in dem der Tathergang bemerkenswert exakt geschildert wurde: Das Lokal »Die Grotte« kennt jeder auf St. Pauli. Von der U-Bahn-Station Reeperbahn sind es nur wenige Schritte bis zum muschelförmigen Eingang. Im vorderen Schankraum trinken Kiez-Touristen aus aller Welt ihr Bier und sehen scharfe Pornofilme. Im Hinterzimmer dagegen verkehrt die »einschlägige Kundschaft«. Am 21. März, einem Montag, ist nicht viel los in der »Grotte«. Die beiden Bardamen stehen hinter der Theke und langweilen sich. Im Hinterzimmer sitzt einsam der 44-jährige Herbert Botan (»Der Stone«) vor seinem Bier. »Der Stone« ist ein auf dem Kiez gefürchteter Schläger und enger Vertrauter des Mannes, der mit einstweiligen Verfügungen untersagen lässt, ihn den »Paten von St. Pauli« zu nennen. Werner »Emma« Stobbe ist hanseatischer Kaufmann und in keine dunklen Machenschaften verwickelt. Das muss in diesem Zusammenhang nachdrücklich erwähnt werden. An diesem Abend wartet der »Stone« auf Franz Auer. Auer unterrichtet im Sportcenter Winterhude in der »Kunst des Bogenschießens« und wird aufgrund seines Japan-Ticks »Der Samurai« genannt. Der 35-jährige Rosenheimer kam 1981 nach Hamburg, arbeitete als Kellner und war kurzfristig Wirtschafter im »Palais d’Amour«. Heute will Botan ihm ein Angebot machen. »Der Samurai« soll in das Sportstudio seines Spezis Magath überwechseln. Gegen 20 Uhr erscheint dann im Lokal statt des erwarteten Auer ein dunkelhaariger Mann. Der Unbekannte ist ganz in Schwarz gekleidet. Am Tresen bestellt er in holprigem Deutsch: »Biera«. Um 20.13 Uhr kommt der »Samurai« ins Lokal. Er geht an dem Unbekannten vorbei ins Hinterzimmer, begrüßt den »Stone« und setzt sich zu ihm. Die beiden kommen nicht zu ihrem Gespräch. Der Unbekannte ist dem »Samurai« gefolgt, zieht wortlos einen 38er Revolver und drückt dreimal ab. Franz Auer fällt getroffen vom Stuhl. Zwei Kugeln haben sein Herz durchschlagen, eine steckt in der Lunge. Der Killer hat gut gezielt. Der Revolvermann flüchtet aus dem Hinterausgang in die Tiefgarage, wirft seine Waffe in einen Abfalleimer. Der »Stone« sitzt apathisch da, erst die Barfrauen überwinden den Schock und rufen die Polizei. Zu spät, der Todesschütze entkommt. Die Tatwaffe, ein Smith & Wesson-Revolver vom Typ »Military and Police« wird untersucht – ohne Ergebnis. Die Barfrauen erinnern sich, dass der Unbekannte dünne, weiße Handschuhe trug. Ein Phantombild wird angefertigt – niemand erkennt den Killer darauf. Beamte der Mordkommission vernehmen insgesamt 125 Personen. Alle sagen nur das Beste über den Toten, aber über den Mord will niemand etwas wissen. »Der Stone« schließlich fühlt sich nach dem Tod Auers isoliert. Er sieht sich auf dem Kiez von vielen ehemaligen Freunden gemieden. Glauben die etwa, er wäre nicht nur unbeteiligter Zeuge der Todesschüsse an der Reeperbahn? Gottschalk seufzte wieder und faltete die Zeitung zusammen. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte. »Ja?« Broszinski schien genervt zu sein. »Nur kurz«, sagte Gottschalk. »Bleibt es bei heute Abend?« »Klappt’s bei dir nicht?« »Doch, doch. Acht Uhr?« »Ja.« »Gut, dann nur eine ...« Gottschalk zog die Augenbrauen hoch. Broszinski hatte bereits aufgelegt. Gottschalk hielt den Hörer noch in der Hand, als Kollege Fedder hereinkam und grüßend nickte. Er trug diese scheußliche grün-blau karierte Bundhose und einen gelben, einen knallgelben Pullover über dem schwarzen Hemd. Gottschalk ließ den Hörer auf die Gabel fallen. »Ja?«, fragte Fedder. »Land in Sicht?«, fragte Gottschalk leichthin. »Bitte?« »Hast du eine Verabredung?« »Wie kommst du darauf?« »Nur so. Du siehst – na ja, eine neue Frau wäre sicher nicht schlecht für dich.« Er zupfte am Revers seines dunkelblauen Blazers. Fedder bekam schmale Lippen. Gottschalk winkte beschwichtigend ab: »Vergiss es. Du bist heute ein bisschen spät dran.« »Die Spritze«, sagte Fedder. »Das hab ich vergessen. Wie lange geht das noch?« »Bis zum ersten Pollenflug und länger. Drei Jahre. Vorläufig jede Woche, jeden Freitag halb neun. Seit Oktober schon, und du fragst mich jedes Mal wieder.« »Entschuldige.« Fedder griff sich eine Akte und schlug sie auf. »Was steht alles auf dem Programm?«, fragte er. »Eine Menge«, sagte Gottschalk, nahm die Zeitung und rollte sie zusammen. Er hatte keine Lust mehr, noch weiter mit Fedder zu reden. Seine Spritze, zum Teufel damit. Helfen würde ihm die Behandlung ohnehin nicht viel. Heuschnupfen, Allergien. Das war in erster Linie ein psychisches Problem. Da musst du mal ran, Junge, dachte Gottschalk. An deine ganzen verkorksten Geschichten. Er ließ kurz einen fahren und stapfte zur Tür. Die Maschine aus Berlin war pünktlich gelandet, und Birte verspürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Sie hatte Regina eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, nur in letzter Zeit einige Male mit ihr telefoniert. Regina. Die Schulzeit in Walsrode, die gemeinsamen Freunde. Der langandauernde, intensive Kontakt mit ihr, als sie bereits in Berlin war. Kaum eine Woche, in der sie nicht von ihr gehört oder eine Karte bekommen hatte. Sie waren zusammen in Urlaub gefahren, in die Toskana, nach Paros. Und dann diese Tage auf Sylt. »He!« Sie stand plötzlich vor ihr. »Birte!« »Regina!« »Schön. Schön, dich zu sehen.« Regina setzte ihre Tasche ab und breitete die Arme aus. Sie hatte sich verändert, war schmaler geworden. Die Haare kurz und nachgedunkelt. Ein leichtes Make-up, dezentes Parfüm. Modisches Jackett, hautenge Edeljeans und hochhackige Pumps. Regina registrierte Birtes Blicke. ...