Gilcher-Holtey | Die 68er Bewegung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2183, 136 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Gilcher-Holtey Die 68er Bewegung

Deutschland, Westeuropa, USA

E-Book, Deutsch, Band 2183, 136 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-62506-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Berkeley, Berlin, Rom, Paris – dieses Buch bietet einen prägnanten Überblick über den Aufstieg, die Ziele und den Zerfall der 68er Bewegung, deren Aktionen auf dem Weg in eine „andere“ Gesellschaft bis heute Debatten über ihre Wirkungen und ihre historische Rolle provozieren.
Gilcher-Holtey Die 68er Bewegung jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I. Alte Linke – Neue Linke:
Die kognitive Konstitution der Bewegung
Soziale Bewegungen entstehen aus sozialem Handeln, das Konflikte und Spannungen innerhalb einer Gesellschaft sichtbar werden läßt. Doch gibt es stets mehr strukturelle Spannungen und soziale Antagonismen als soziale Bewegungen. Eine Mobilisierung sozialen Handelns tritt erst ein, wenn es auf bestimmte Orientierungsmuster und Zielvorstellungen gerichtet wird. Entscheidend für eine erfolgreiche Mobilisierung sozialer Bewegungen ist daher ihre kognitive Konstitution. Es kommt darauf an, daß zumindest die Trägergruppen eine kognitive Identität gewonnen haben, ein symbolisches System der Selbstverständigung und Selbstgewißheit. Diese kognitive Konstitution wird in der Regel bestimmt durch Ordnungsentwürfe von Intellektuellen, die es ermöglichen, Ereignisse und Strukturprobleme zu deuten, Protestursachen zu definieren sowie Unzufriedenheit und Unbehagen zu lenken, auf Ziele zu orientieren. Betrachtet man die 68er Bewegungen, die, ihrem Selbstverständnis nach, neue linke Bewegungen waren, ging dem Mobilisierungsprozeß dieser Bewegungen – in den Vereinigten Staaten, in der Bundesrepublik, in Frankreich und Italien – jeweils die Formierung einer intellektuellen New Left, Neuen Linken, Nouvelle Gauche und Nouva Sinistra voraus. 1. Ausbruch aus der Apathie:
Die dissidenten Intellektuellen der Neuen Linken
Soho, Frühjahr 1960: Nur einen Steinwurf weit vom ehemaligen Wohnsitz Marx’ entfernt, in No 7 Carlisle Street, nimmt im Frühjahr 1960 die Redaktion der ,New Left Review‘ ihre Arbeit auf. Im Erdgeschoß befindet sich das Café Partisan, Londons Left Wing Coffee House, Treffpunkt der kritischen Jugend, die nachvollzieht, was die „Angry Young Men“ in der Literatur vorgedacht haben: individuellen, kulturellen Protest gegen den Zeitgeist, gegen die Erstarrung in der Politik, Gesellschaft und Kultur. Grelle Neonlampen leuchten den Raum aus, in dem gelegentlich auch Folk-Music gemacht oder eine Dichterlesung organisiert wird. Unmittelbar über dem Café hat die Zentrale der Kampagne für atomare Abrüstung ihren Sitz, die den Protest der Atomwaffengegner koordiniert. Im zweiten Stockwerk liegen die Räume des Universities and Left Review Clubs, eines Diskussionsforums der linken Intelligenz. Hunderte pilgern wöchentlich hierher, um teilzunehmen an Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. Nicht alle wissen, was die in einem der Nebenräume untergebrachte Redaktion der ,New Left Review‘ plant, doch vielen ist zumindest der Name der Zeitschrift bekannt, die in einer Auflage von 9000 Exemplaren erscheint. Die ,New Left Review‘ will der Kern einer neuen sozialistischen Bewegung sein. Über die Art dieser Bewegung gehen die Meinungen jedoch auseinander. Der Historiker E. P. Thompson, 37, dessen Versuch, innerhalb der britischen Kommunistischen Partei eine antistalinistische demokratische Opposition zu etablieren, gescheitert war, setzte sich 1959 auf der Gründungskonferenz für die Schaffung einer „neuen populistischen Bewegung“ ein, welche die Labour Party völlig verändern oder ersetzen sollte. Der Soziologe Raymond Williams, 48, erklärte, bereits zufrieden zu sein, wenn die Intellektuellen der New Left in zehn Jahren zwanzig gute Bücher über die Gegenwartsgesellschaft in Großbritannien vorweisen könnten. Die Mehrheit der Teilnehmer entschied sich für eine Kombination beider Standpunkte: Die ,New Left Review‘ erhält die Aufgabe, die sozialistische Tradition theoretisch neu zu fundieren und gleichzeitig praktisch politisch zu mobilisieren. Verflochten sind diese Bestrebungen von Anfang an mit der Kampagne für atomare Abrüstung (CND), doch ist das Ziel der New Left weiter gesteckt. Sie will die Grundlagen schaffen für eine neue Gesellschaft und eine neue Politik jenseits des Kalten Krieges und der Atombombe: durch die Bildung von „Gegenmächten“ (countervailing powers) innerhalb der bestehenden, in allen ihren Teilbereichen durch Apathie gekennzeichneten (Überfluß-)Gesellschaft, durch die Erprobung einer neuen „demokratisch-revolutionären Strategie“ mittels direkter Aktionen sowie durch die Schaffung eines neuen Bewußtseins durch Gesellschaftskritik und partizipierendes Handeln, durch, wie Thompson in der ,New Left Review‘ schreibt, „democratic self activity“ und „community projects“. Was sie erstrebt, ist ein auf Lern- und Kommunikationsprozessen in unterschiedlichen Handlungskontexten beruhender und schrittweise sich entfaltender Transformationsprozeß der Gesellschaft. Den ersten Handlungsrahmen für die Aktivisten der New Left sollen kleine Gruppen bilden, in denen die Unmittelbarkeit der Mitgliederbeziehungen gewahrt, Kommunikation durch persönliche Kontakte entfaltet und Bürokratisierungstendenzen verhindert werden. Dieser Versuch, eine dem antibürokratischen Charakter der Neuen Linken entsprechende Gruppenstruktur zu entfalten, in der sich ihre Wert- und Zielorientierung verwirklichen können, wird auch in Frankreich gemacht. Paris, Frühjahr 1960. Die Anfänge der Lesezirkel, die sich um die Zeitschrift ,Socialisme ou Barbarie‘ gruppieren, die von Cornelius Castoriadis und Claude Lefort, zwei ehemaligen Trotzkisten, herausgegeben wird, reichen bereits in das Gründungsjahr 1949 zurück. Seit 1959 bemüht sich die Redaktion jedoch, auch außerhalb von Paris in der französischen Provinz Gesprächsgruppen zu etablieren. Sie gibt damit einen Anstoß, der von der Zeitschrift ,Arguments‘ aufgegriffen wird, deren Redakteure, zumeist Dissidenten der Kommunistischen Partei Frankreichs, damit innerhalb Frankreichs zu schaffen versuchen, worüber sie außerhalb des Landes bereits verfügen: ein Netzwerk von Gleichgesinnten, die mit der alten Linken gebrochen haben, ohne bereit zu sein, zu resignieren und sich ins Privatleben zurückzuziehen. Der Kreis um ,Arguments‘, dem die Soziologen Edgar Morin und Alain Touraine sowie der Philosoph Henri Lefebvre angehören, verfügt über Kontakte nach Berlin, wo sich 1959 die Zeitschrift ,Das Argument‘ und in deren Umkreis bald danach der Argument-Club gebildet hat, sowie nach Italien, wo ,Ragionamenti‘ im Austausch mit der Pariser Gruppe steht. In Italien folgen als Organe der Nouva Sinistra die ,Quaderni Rossi‘ (1961), ,Quaderni Piaciantini‘ (1962) und ,Classe Operaia‘ (1963). Im Mai 1960 wird schließlich in Paris noch von einer dritten Gruppe ein Zeichen gegeben, das filigrane Netz, das ihre über ganz Europa verstreuten Mitglieder verbindet, auszudehnen: von der Situationistischen Internationale. In der Tradition des Dadaismus, Surrealismus und Lettrismus stehend, fordert sie in einem ,Manifest‘ zur Besetzung der UNESCO auf, um gegen die Bürokratisierung der Kunst sowie der gesamten Kultur aufzubegehren und zugleich über diese Aktion die Produzenten einer neuen Kultur zu organisieren: „in der Organisation des erlebten Augenblicks“. Die skizzierten intellektuellen Zirkel sind klein, heterogen und weit davon entfernt, theoretisch an einem Strang zu ziehen. So würden die Situationisten die Herausgeber von ,Arguments‘ am liebsten in „den Mülleimer der Geschichte“ stecken. Was sie jedoch über alle Gegensätze hinweg eint, ist ihre Abgrenzung von der alten Linken, den traditionellen Sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien. Diese Abgrenzung hat zeittypische Anlässe, zu denen die Ereignisse in Prag 1948, der XX. Parteitag der KPdSU (1956), die Niederschlagung des Ungarnaufstandes, der Kalte Krieg und die Nichtproblematisierung der Atomrüstung in Ost und West gehören. Den Reformismus des demokratischen Sozialismus im Wohlfahrtsstaat und die Perversion des Kommunismus im Stalinismus gleichermaßen kritisierend, erachten sie das Handeln der traditionellen Linksparteien für realpolitisch befangen und unfähig, den Status quo politisch und sozial zu überwinden. Was sie anstreben, ist eine Transformation der bestehenden Gesellschaft auf der Grundlage einer umfassenden De- und Rekonstruktion der theoretischen, strategischen, taktischen und organisatorischen Grundlagen der Emanzipationsbewegungen der alten Linken in kritischer Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Sozialismus und Kommunismus seit den zwanziger Jahren. Die neue kognitive Orientierung, welche die freischwebenden Intellektuellen der Neuen Linken der traditionellen Linken entgegensetzten, läßt sich, idealtypisch zugespitzt, in fünf Punkten beschreiben: – erstens in einer Neuinterpretation der marxistischen Theorie. Die Neue Linke akzentuiert unter Rückgriff auf die Marxschen Frühschriften primär den Aspekt der Entfremdung, nicht den der Ausbeutung und sucht in der Verbindung von Marxismus und Existentialismus sowie Marxismus und Psychoanalyse eine Öffnung der theoretischen Deutung, um das Marxismusverständnis aus der sklerotischen Erstarrung und Identifizierung mit dem institutionalisierten Marxismus zu lösen; – zweitens in einem neuen Entwurf der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sozialismus kann, so die Überzeugung der Neuen Linken, sich nicht erschöpfen in der politischen und sozialen Revolution, in der Eroberung der Macht und der Verstaatlichung der Produktionsmittel, sondern muß die Entfremdung des Menschen in der Lebenswelt aufheben, in der Freizeit, in der...


Ingrid Gilcher-Holtey ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.