E-Book, Deutsch, 202 Seiten
Reihe: zur Einführung
E-Book, Deutsch, 202 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-048-0
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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I Einleitung
In der Schweiz hat man entschieden, dass überzählige Embryonen für Forschungszwecke verwendet werden dürfen: therapeutisches Klonen. Ethiker und Theologen wandten ein, man solle die Embryonen sterben lassen. Aber kann sterben, was nicht geboren wurde? Heißt sterben lassen unter solchen Umständen nicht zwangsläufig töten? Nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter therapeutischen Klonens berufen sich bei ihren Erwägungen auf die unantastbare Menschenwürde und das Recht auf einen menschenwürdigen Tod. Indem sie dies tun, zeigen sie, dass mit seinem Leben und seinem Tod auch der Mensch Definitionssache (geworden) ist. Manche ziehen die Konsequenz, dass man deshalb nach dem Menschen, seinem Leben und seinem Tod, nicht mehr fragen dürfe. Agamben meint, man müsse die Frage »Was bedeutet ›Mensch bleiben?‹« anders formulieren. Es sei »die Bedeutung des Wortes Mensch so weit zurückzunehmen, daß sich der Sinn der Frage selbst dadurch vollkommen verwandelt« (A 50). Wenn das Leben Definitionssache ist, stellt sich das Problem der Zuständigkeit. Wer darf, muss und kann Leben definieren? In bioethischen Kommissionen werden auch Theologen und Philosophen hinzugezogen, aber weder die Kirchen noch die Philosophie sind entscheidungsbefugt. Man könnte vermuten, dass den Wissenschaftlern die Definition des Lebens zukommt. Aber auch dort erklärt man sich für unzuständig. Agamben zitiert die Bemerkung eines Biologen, dass Diskussionen über Leben und Tod unter Wissenschaftlern Zeichen eines Gesprächs unter Niveau seien (HS 173). Also muss die Politik, muss der Staat entscheiden, und in ihm die Instanz, deren Geschäft das Entscheiden, Beurteilen und Definieren nun einmal ist: das Recht. Mit Gesetzen, die festsetzen, was Leben heißt und welches Leben als menschlich gilt, reagiert der Staat auf eine Situation, in der Leben Definitionssache ist. Aber mit jeder Grenze, die per Gesetz gezogen wird zwischen dem, was noch als Leben gilt und was nicht, ist deren weitere Verschiebung gleichsam vorprogrammiert. Verzweifelt bemüht sich die Rechtsprechung, Schritt zu halten mit der expandierenden Forschung. Ob man nun für oder gegen therapeutisches Klonen ist, für oder gegen Gendiagnostik, Einigkeit herrscht darüber, dass einzig eine gesetzliche Regelung die anstehenden Fragen und Probleme bewältigen kann. Was Leben ist, wird so immer mehr zu einer Frage seiner gesetzlichen Definition. Diese grundlegende und stetig zunehmende Politisierung des Lebens durch seine Verrechtlichung zu erkennen und zu exponieren ist Agambens erster Schritt auf dem Weg zu einer Umformulierung der Frage, was Menschsein heißt. Agamben ist kaum der erste, der die Politisierung des Lebens beklagt. ›Mein Körper gehört mir‹ lautete ein Slogan aus den Debatten um den §218. Aber auch ›mein Körper‹ bedarf einer gesetzlichen Definition. Wer das Recht auf ›seinen‹ Körper beanspruchen will, muss überdies zahlen. Das Leben hat seinen Preis. Buchstäblich. Nach dem Entwurf des GendiagnostikGesetzes müssen sich Menschen, die eine Lebensversicherung über 250 000 Euro abschließen möchten, von den Versicherungsgesell- schaften um Gentests bitten lassen. Eine hessische Lehrerin soll nicht verbeamtet werden, bis sie sich einem Test auf die Huntington-Krankheit unterzogen hat, an der ihr Vater litt. Agamben hat hier keine Lösungen parat. Aber er zeigt eindringlich, dass die Diskussionen um das Leben jenseits der verschiedenen Standpunkte insgeheim von einem gemeinsamen Grund getragen werden: vom Vertrauen in genau die rechtlichen Lösungen, die die Politisierung des Lebens zwangsläufig fortsetzen. Wer heute auch nur mit halber Aufmerksamkeit die Medienberichterstattung verfolgt, weiß, dass es neben den Debatten um wissenschaftlich mögliches und rechtlich zu kodifizierendes Leben noch eine andere Welt gibt. In ihr geschehen Dinge, die sich wie ein archaischer Rückschritt in finsterste Zeiten ausnehmen. Weltweite Bürgerkriege haben Flüchtlingskrisen ausgelöst, die kaum zu bewältigen scheinen. Auf Schiffen und in Lastwagen kommen Flüchtlinge an den Küsten und Grenzen Europas an. Bevor ihr Status geklärt ist, leben sie in Auffanglagern und Transitzonen, deren rechtlicher Status nicht weniger dubios ist als derjenige der in Guantanamo Bay auf Kuba von den Amerikanern inhaftierten Muslime.1 Der zunehmenden Verrechtlichung menschlichen Lebens steht die zunehmende Entrechtung von Menschen gegenüber, die, um es mit Hannah Arendt zu sagen, dem Anschein zum Trotz das Leben von Wilden führen.2 Dass zwischen diesen Phänomenen ein systemischer Zusammenhang herrscht, darf man vermuten. Mit der Figur des homo sacer hat Agamben aus der Vergangenheit des archaischen römischen Rechts eine Figur ans Licht geholt, die den Nexus zwischen Verrechtlichung und Entrechtung schlagartig erhellt. Der homo sacer bezeichnete im archaischen römischen Recht eine Art vogelfreien Menschen, der nichts hat und nichts ist als ›bloßes Leben‹. Jeder durfte ihn töten, aber keiner ihn opfern, so dass er von göttlichem wie weltlichem Recht ausgenommen war. Und nichts anderes als diese doppelte Rechtlosigkeit konstituierte seinen Rechtsstatus, denn der homo sacer ist keine religiöse, sondern eine juridische Figur. Für Agamben verkörpert er das Leben im Ausnahmezustand, wie er in Lagern, den zones d’attente der Flughäfen und auch in Guantanamo Bay faktisch herrscht und wie er in der Beschneidung von Bürgerrechten im Namen der Staatssicherheit nach dem 11. September 2001 auch in den USA latent drohte. Die heute von vielen verzweifelt beschworene Heiligkeit menschlichen Lebens führt Agamben auf diese Figur als ihren Ursprung zurück, um nachzuweisen, dass die Heiligkeit von vornherein an Tötbarkeit gebunden war und es geblieben ist. Doch der aufwendige Nachweis eines strukturellen Zusammenhangs zwischen Verrechtlichung und Entrechtung menschlichen Lebens ist nur ein Aspekt von Agambens Bemühungen. Obwohl seine pointierenden Studien gelegentlich den Eindruck erwecken, dass ein Ausweg aus den dilemmatischen Verstrickungen von Recht und Leben schlechterdings unmöglich sei, setzt Agamben seine Hoffnungen in einen neuen Politikbegriff. Ihm schwebt ein Verständnis von Politik vor, in dem das Leben nicht als definierbare Substanz erscheint, sondern untrennbar verbunden ist mit einer bestimmten Form von Leben. Dem durchs Recht verarmten Politikbegriff möchte er auf diesem Wege sein ontologisches Fundament zurückerstatten, der Philosophie ihren seit Platon vergessenen politischen Primat. Ob Agambens skandalträchtige These von einer »innersten Solidarität von Totalitarismus und Demokratie« (HS 20) gerechtfertigt ist, kann nur die weitere Entwicklung zeigen. Gegenwärtig deutet nicht nur in den USA einiges darauf hin, dass sie sich im Namen des Schutzes der Demokratie zu bewahrheiten anschickt. Ob, wie Agamben formuliert hat, eine »›geschützte‹ Demokratie keine Demokratie mehr ist« (AZ 23), sei dahingestellt. Gewiss ist aber, dass geschütztes Denken kein Denken ist. Und Agamben denkt ungeschützt. Er riskiert etwas und hat, so lässt auch die internationale Rezeption seiner Homo- Sacer-Studien vermuten, mit dem Begriff des nackten oder blo- ßen Lebens etwas getroffen, das uns alle umtreibt. Den Definitionen des Lebens setzt er ein Wissen um Lebensformen entgegen. Solches Wissen findet sich bei den Disziplinen, die in Deutschland Geisteswissenschaften, in den meisten anderen Ländern Humanwissenschaften heißen. Emphatisch insistiert Agamben auf ihren möglichen Beitrag zu einer Analyse des Lebens, die nicht – wie die Naturwissenschaften und das Recht – von den Formen abstrahieren, in denen Leben sich bezeugt, reflektiert und tradiert. Zu einem Zeitpunkt, da das Leben ganz in den Zuständigkeitsbereich des Rechts und der Biowissenschaften zu rücken scheint, klagt Agamben die Kompetenz und das Potential der Humanwissenschaften ein. Agambens Thesen sind kühn, seine Formulierungen provokant. Dennoch darf man sich wundern, wenn ein derart anspruchsvoller, auch schwieriger, vergrübelter und voraussetzungsreicher Denker von alteuropäischer Belesenheit zu einer internationalen Kultfigur avanciert. Denn mit dem plakativen Gestus z.B. der in den USA jüngst reüssierenden Studie Empire von Michael Hardt und Antonio Negri haben seine Schriften nur wenig gemein.3 Gewiss verdankt sich der enorme Erfolg seiner in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher zum homo sacer vornehmlich der unbezweifelbaren Aktualität seines Anliegens. Aber Agamben verhandelt Tagesnachrichten mit der gleichen intellektuellen Intensität wie archaische Rechtstexte, mittelalterliche Darstellungen, Erzählungen Kafkas oder einen Essay Walter Benjamins. Seine passionierte Intensität kümmert sich wenig um Gattungen, Disziplinen oder Epochenschwellen. Auch in unsere Vorstellungen von den intellektuellen Strömungen und ihrer politischen Verrechenbarkeit im 20. Jahrhundert bringt er Unruhe. Die Reihe derer, mit denen er sich jenseits ideologischer Umzäunungen auseinander setzt, reicht von Walter Benjamin und Michel Foucault...