E-Book, Deutsch, 632 Seiten
Gerlinger / Rosenstock / Rosenbrock Gesundheitspolitik
4., überarbeitete Auflage 2024
ISBN: 978-3-456-75968-5
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine systematische Einführung
E-Book, Deutsch, 632 Seiten
ISBN: 978-3-456-75968-5
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zielgruppe
Gesundheitswissenschaftler
Versorungsforscher
Fachjournalisten
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
|15|1 Gesundheitspolitik: Gegenstand, Ziele, Akteure, Steuerungsinstrumente
1.1 Gesundheitspolitik: Bestimmung des Gegenstands
Die landläufigen Vorstellungen darüber, was unter Gesundheitspolitik zu verstehen ist, reichen weit auseinander. In der Öffentlichkeit und auch in wissenschaftlichen Analysen stößt man diesbezüglich immer wieder auf eine doppelte Verkürzung: Zum einen wird Gesundheitspolitik mit Krankenversorgungspolitik gleichgesetzt, zum anderen auf Kostendämpfungspolitik reduziert. Diese Verkürzungen sind wissenschaftlich nicht begründbar und führen zudem zur Ausblendung der eigentlich wichtigen Felder einer auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung bezogenen Politik. Zentraler Bezugspunkt des hier zugrunde gelegten Verständnisses von Gesundheitspolitik ist die Zielgröße Gesundheit selbst. Um die Begrenzungen traditioneller Interpretationen zu überwinden, bedarf es eines Konzepts von Gesundheitspolitik, das das gesamte Spektrum politisch gestaltbarer Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit, also den gesellschaftlichen und bevölkerungsbezogenen Umgang mit Gesundheitsrisiken vor und nach ihrem Eintritt, umfasst. Gesundheitspolitik soll analytisch verstanden werden als die Gesamtheit der organisierten Anstrengungen, die auf die Gesundheit von Individuen oder sozialen Gruppen Einfluss nehmen – gleich ob sie die Gesundheit fördern, erhalten, (wieder-)herstellen oder auch nur die individuellen und sozialen Folgen von Krankheit lindern. Diese organisierten Anstrengungen umfassen den gesamten Politikzyklus von der Problemdefinition über die Politikformulierung (Definition von Zielen und Instrumenten) bis hin zur Implementation und Evaluation der Maßnahmen. Sie schließen insbesondere auch die Bemühungen zur Gestaltung der mit Gesundheit befassten Institutionen und zur Steuerung des Handelns der entsprechenden Berufsgruppen ein. Das normative Ziel von Gesundheitspolitik ist die Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung durch die Vermeidung von Krankheit und vorzeitigem Tod sowie durch die Vermeidung oder Verringerung krankheitsbedingter Einschränkungen der Lebensqualität. Dies schließt die Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten (Prävention) durch Verringerung pathogener Belastungen und die Förderung salutogener Ressourcen ebenso ein wie die Gestaltung und Steuerung der Krankenversorgung, der Rehabilitation und der Pflege (z.?B.: Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1995; Razum & Kolip, 2020). Gesundheitspolitik findet demnach überall dort statt, wo durch die Gestaltung von Verhältnissen, Verhaltensbedingungen oder Verhaltensanreizen die Wahrscheinlichkeit der Krankheitsentstehung sowie der Verlauf von und der Umgang mit Erkrankungen – positiv oder negativ – beeinflusst werden. Gesundheitspolitik, die sich an den skizzierten Zielen orientiert, ist somit eine Querschnittsaufgabe: Kriterien der Gesund|16|heitssicherung bzw. -förderung sollten auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Handlungsfeldern Berücksichtigung finden („Health in All Policies“). Die analytische und praktische Beschränkung von Gesundheitspolitik auf Krankenversorgung und Kostendämpfung ist unter diesen Gesichtspunkten nicht tragfähig. Erstens ist die Krankenversorgung in der Gesundheitspolitik nur ein Interventionsfeld unter anderen. Durch die Reduktion von Gesundheitspolitik auf Krankenversorgungspolitik geraten Prävention und Gesundheitsförderung sowie zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit aus dem Blickfeld. Einschlägige Berechnungen gehen insgesamt von einem geringen Einfluss des Krankenversorgungssystems auf die Gesundheit aus: In reichen Ländern ist der Anteil des Krankenversorgungssystems an der Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Gesamtbevölkerung bei den Männern auf zehn bis dreißig Prozent, bei den Frauen auf zwanzig bis vierzig Prozent zu veranschlagen (Sachverständigenrat, 2002a). Zweitens ist die Finanzierung und Bezahlbarkeit von Gesundheitsleistungen nicht das Ziel, sondern eine – gleichwohl sehr wichtige – Nebenbedingung von Gesundheitspolitik. Dabei ist es für die Praxis von erheblicher Bedeutung, ob sich Gesundheitspolitik vorrangig an der Erreichung bestimmter Gesundheitsziele oder an der Nichtüberschreitung eines bestimmten Ausgabenvolumens orientiert. 1.2 Gesundheitspolitik als Gegenstand sozialwissenschaftlichen Interesses
Gesundheitspolitik erfreut sich einer großen Aufmerksamkeit in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Ganz unterschiedliche Entwicklungen tragen dazu bei. So ist im Zuge des Wertewandels, der sich in den Nachkriegsjahrzehnten in den kapitalistischen Industriegesellschaften vollzog (Inglehart, 1977), die individuelle Gesundheit für viele Menschen zu einem zentralen Bezugspunkt ihres Handelns geworden (Kickbusch & Hartung, 2014; Kühn, 1993; Rodenstein, 1987). Gleichzeitig werden in Politik und Gesellschaft die vielfältigen neuen Herausforderungen für die Gesundheitspolitik thematisiert, ob es sich dabei um die Auswirkungen des demografischen Wandels, die Folgen der sich vertiefenden sozialen Spreizung in der Gesellschaft und des Klimawandels, die Bewältigung des medizinischen Fortschritts oder der zunehmenden Digitalisierung handelt. Darüber hinaus beschäftigen die erwünschten und unerwünschten Wirkungen der zahllosen Gesundheitsreformen beständig sowohl die Forschung und die Politik als auch Versicherte, Patienten und Leistungsanbieter. Schließlich hat sich das Gesundheitssystem, insbesondere das Krankenversorgungssystem, zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickelt, auf den über elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entfallen und der Arbeitsplätze für mehr als fünfeinhalb Millionen Personen, also etwa jeden achten Erwerbstätigen, bietet (Bundesministerium für Gesundheit, 2019a). Probleme und Fragestellungen, die einen engen Bezug zur Gesundheitspolitik aufweisen, werden von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit je eigenen Fragestellungen, Perspektiven und Methoden bearbeitet. In der Soziologie befassen sich mehrere Subdisziplinen mit gesundheitspolitikrelevanten Fragen (Hurrelmann & Richter, 2013; Kriwy & Jungbauer-Gans, 2020). Wichtige Themen sind z.?B. die Verbreitung von Ressourcen, Gesundheitsbelastungen, Krankheiten und gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen in der Gesellschaft (Lampert et al., 2016; Richter & Hurrelmann, 2009; Richter & Dragano, 2018) oder die individuellen und sozialen Voraussetzungen für gesundheitsgerechtes Individualverhalten (Rosenbrock & Michel, 2007; Schmidt, 2008). In dieser Hinsicht weisen soziologische Fragestellungen auch vielfältige Überschneidungen mit |17|der Gesundheitspsychologie (Faltermaier, 2017), der Pädagogik und der Sozialarbeit auf. Im Hinblick auf die Akteure im Gesundheitssystem stoßen vor allem das Handeln von Leistungserbringern und Finanzierungsträgern unter den sich verändernden Rahmenbedingungen auf großes Interesse (Bode, 2010a, 2010b; Bode & Vogd, 2016; Dieterich et al., 2019; Ewert, 2013; Vogd, 2006; Naegler & Wehkamp, 2018) aber auch die Interaktion zwischen Gesundheitsberufen und Patienten, also z.?B. das Arzt-Patient-Verhältnis oder auch die Kooperation zwischen Ärzten und Pflegepersonal (z.?B.: Begenau et al., 2010). Darüber hinaus befasst sich die Soziologie mit den Makrostrukturen von Gesundheitssystemen und deren Wandel, häufig auch im internationalen Vergleich (Wendt, 2013; Reibling & Wendt, 2020). Hier gibt es vielfältige Überschneidungen mit politikwissenschaftlichen und gesundheitsökonomischen Analysen (z.?B.: Rothgang, Cacace et al., 2010; Schölkopf & Grimmeisen, 2021). Politikwissenschaftliche Analysen richten ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die Inhalte gesundheitspolitischer Entscheidungen und Entwicklungen („policies“) – Analysen, die sich häufig auch als Teil der Wohlfahrtsstaatsforschung verstehen (z.?B.: Alber & Bernardi-Schenkluhn, 1992; Blanke, 1994; Böhm, 2017a; Reiter, 2017) –, als auch – und dies vor allem – auf die Prozesse („politics“), die zu solchen Entscheidungen (oder Nichtentscheidungen) führen, bzw. die Akteursbeziehungen, die auf die Formulierung und Implementation politischer Entscheidungen Einfluss nehmen (Bandelow, 1998; Böhm, 2017b; Böhm et al., 2018;...