E-Book, Deutsch, Band 2001, 200 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
Gerigk / Hartmann Drachen! Drachen!
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-317-9
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2001, 200 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
ISBN: 978-3-95719-317-9
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Fatal wäre es, Drachen zu unterschätzen! Wer glaubt, genug über sie zu wissen, hat schon verloren. Diese 23 meisterlichen Geschichten aus verschiedenen literarischen Genres belegen, dass das Thema aktuell, überraschend und packend ist - und gelegentlich fies! Die Print Ausgabe umfasst 352 Buchseiten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Rainer Schorm SANGUIS DRACONIS
Prag, Drazického, 25. April 2012 Als der Mann Hirnbeins Apotheke verließ, schwankte er. Sein Gang war breitbeinig, langsam und unsicher. Er versuchte, sich an einem Laternenpfahl festzuhalten, griff daneben und wäre ums Haar gestürzt. Eine alte Dame, die neben einem Mops auf dem Arm eine breite Nerzstola um den Hals trug, schüttelte indigniert den Kopf; zweifellos hielt sie ihn für betrunken. Das rote Haar hing ihm in die schweißnasse Stirn. Es würde nicht mehr lange dauern, kein Arzt konnte ihm mehr helfen. Dazu war es längst zu spät und er war sich dessen bewusst. Apathie hatte die Todesangst verdrängt, doch ganz unvermittelt brach eine krankhafte Erregung durch. »Isínowksí! … Ich …«, brüllte er plötzlich und schüttelte die Fäuste, als die Stimme versagte. Etwas später lehnte er, sich nur mühsam aufrecht haltend, an eine Mauer. Speichel lief aus seinem Mundwinkel. Er wischte ihn mit einer Bewegung fort, der man ansah, dass sie längst zur Gewohnheit geworden war. Sie verlief sich in einem kräftigen Zittern. Er blickte zurück. Amadeus Hirnbein stand auf einem Schild unter dem Apothekensymbol, und auch wenn die Beschriftung völlig normal wirkte, so hatte doch das gesamte Gebäude eine Aura hohen Alters. »Du mörderischer Hurensohn!«, murmelte der Mann undeutlich. Er hatte Schwierigkeiten beim Sprechen. »… reingelegt!«, nuschelte er. Dann riss er sich zusammen, soweit ihm dies noch möglich war, strich sich die roten Haare aus der Stirn, und wankte weiter, die Seitenstraße entlang Richtung Hradschin, hinein in die Abenddämmerung. Er wollte zu Hause sterben. Prag, Havelská, 27. April 2011 »Was ist denn das für’n Zeug, verdammt noch mal?« Kommissar Wronzek war völlig aus dem Häuschen. Dazu gehörte unter normalen Umständen nicht viel. Er galt als Choleriker, der seinem Temperament gerne und häufig freien Lauf ließ. Doch in diesem Fall gab es niemanden, der sich darüber mokiert hätte. Tatsächlich war die kleine Wohnung von Wládislaw Isínowksí das reinste Kuriositätenkabinett. Sie war vollgestopft mit merkwürdigen, altertümlichen Apparaturen, Glaskolben und Gefäßen, in denen Dinge lagerten, von denen Frantizéc lieber gar nicht wissen wollte, was sie waren. »Sieht aus, als sei der gute Isínowksí ein bisschen verrückt gewesen, oder was meinen Sie, Georg?« Frantizéc nickte. »Sieht nach Alchemie aus, wenn Sie mich fragen.« »Wunderbar!«, schnaubte Wronzek und verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Missfallens. Frantizéc grinste verhalten. Der Kommissar war überzeugter Realist und Pragmatiker. Themen wie Esoterik, Magie, Religion – das Übernatürliche schlechthin – betrachtete er schon beinahe mit Abscheu. Und davon, jemand, der sich mit diesen Themen beschäftigte, ernst zu nehmen, konnte schon gar keine Rede sein. An einem guten Tag hielt Wronzek solche Menschen für verrückt. An schlechten Tagen … Frantizéc neigte dazu, zu glauben, dass vielleicht ein Körnchen Wahrheit darin stecken mochte. Doch die Umgebung hier verriet, dass der verstorbene Wládislaw Isínowksí in dieser archaischen Welt zu Hause gewesen war. »Also, Georg, seh’n Sie nach, was diesen Spinner umgebracht hat! Ich glaube nicht, dass er dazu fremde Hilfe nötig hatte.« Frantizéc runzelte die hohe Stirn. »Selbstmord, denken Sie?« Kommissar Wronzek wedelte mit der rechten Hand, als wolle er den Rauch eines unsichtbaren Feuers vertreiben. »Schauen Sie sich doch um. Ein Mann, der im 21. Jahrhundert Schwarze Magie praktiziert, ist geistig eindeutig neben der Spur; der muss labil sein. Spuren eines Einbruchs oder einer Auseinandersetzung sind nicht zu erkennen. Ich glaube auch nicht, dass die Spurensicherung hier noch etwas Interessantes findet.« Der Rechtsmediziner untersuchte die Leiche. Routiniert. Mit der Erfahrung langer Jahre. Keine Abwehrverletzungen, keine Hämatome oder Einblutungen. Nichts an diesem Toten wies auf einen unnatürlichen Tod hin – zunächst! Am Hals war eine große Tätowierung zu sehen, die sich wahrscheinlich über den Rücken nach unten zog. Ein Drache vielleicht. Eine aufwendige Arbeit, recht neu. Und noch etwas war ungewöhnlich. Gaumen und Rachenraum wiesen eine brandrote, lackartige Verfärbung auf. »Was gefunden?«, erklang Wronzeks Stimme hinter ihm. Frantizéc zog die Handschuhe aus. Er drehte sich um. »Ja. Ich denke schon. Genaueres kann ich Ihnen natürlich erst nach der Autopsie sagen, aber ich gehe von einer Intoxikation aus! Schwermetalle vielleicht …« Wronzek zog die dichten, schwarzen Augenbrauen zusammen. »Eine Vergiftung? Also doch Mord?« Frantizéc schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Ich sehe dort einen Mörser und etliche Reste von diesem roten Pulver. Ich vermute, er hat das Zeug verräuchert. Sobald wir wissen, was er da verbrannt hat, sind wir vielleicht einen Schritt weiter.« Er griff nach seiner Tasche. »Schicken Sie ihn mir so schnell wie möglich in die Pathologie. Die Toxikologie wird uns verraten, was hier geschehen ist.« Wronzek nickte. Er warf einen letzten Blick auf die ungewöhnliche Umgebung, dann sah er dem Gerichtsmediziner nach, als dieser den Tatort verließ. »Ich hatte recht«, meinte Frantizéc und nahm ächzend auf dem unbequemen Bürostuhl Platz. Wronzek sah ihn schweigend an. »Eine Vergiftung. Wahrscheinlich chronisch. Die finale Todesursache war ein vollständiges Versagen der Nieren und anderer Organe.« »Womit hat er sich vergiftet?« Wronzek nahm eine Zigarette und begann, verbissen darauf herumzukauen. »Arsen und Quecksilber. Die Symptome waren deutlich ausgeprägt. Die Quecksilbervergiftung zeigte sich am Quecksilbersaum an den Zahnhälsen und am Lackrachen. Das Arsen verursachte eine akute Zyanose und eine Polyglobulie! Die chemische Analyse hat das bestätigt.« Wronzek schnaufte. »Doktor! Bitte! Sie wissen, dass ich von Ihrem medizinischen Kauderwelsch kein Wort verstehe.« Der Pathologe lächelte. »Entschuldigung.« Er beugte sich nach vorn. »Also. Typisch sind ein grauer Belag an den Zahnhälsen und eine brandrote Verfärbung im Gaumen- und Rachenbereich … Zeichen für eine chronische Quecksilbervergiftung.« »Und das Arsen?« »Hauptsächlich eine kräftige Vermehrung der roten Blutkörperchen. Typisch für Arsen.« »Aha. Und wie hat er das Zeug zu sich genommen?« »Eingeatmet, denke ich. Quecksilberdämpfe sind sehr gefährlich.« Er lehnte sich wieder zurück, wirkte aber nach wie vor angespannt. »Ich verstehe nur nicht, warum er das getan hat.« »Die Tätowierung?« »Aufwendig und tatsächlich ziemlich neu. Vergiftete Farben wären auch eine Option gewesen, aber Fehlanzeige. Sie zeigt einen Drachen, wie ich schon vermutet hatte.« »Einen Drachen?« Frantizéc nickte. »Ich hab’ nachgeschaut. Isínowksí wurde am 21. Dezember 1940 geboren, nicht?« Der Kommissar zog die Akte zu sich heran und sah hinein. »Stimmt.« »Das ist das Jahr des Drachen!« Wronzeks Laune wurde deutlich schlechter. »Und was, bitteschön, bedeutet das nun?« Der Pathologe zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich hab’ nicht die geringste Ahnung«, murmelte er. Wronzek griff nach links, wo ein niedriger Papierstapel lag. Er nahm einige kleine Blätter zur Hand, bei denen es sich um Rechnungen handelte. »Er hat in einem Mörser eine rote Substanz zerkleinert. Wir haben von dem roten Zeug jede Menge gefunden. Was sagt Ihre Analyse dazu?« »Organisch. Ein Harz.« Der Pathologe rieb die Hände aneinander. »Aber nur die Proben im Mörser enthalten Quecksilber und Arsen. Die anderen Funde nicht mal in Spuren.« »Hier steht Drachenblut. Er hat davon eine Menge gekauft. Wir haben auch jede Menge sonderbarer, ziemlich alter Schriftstücke gefunden, viel ausländisches Zeug darunter. Rezepte, oder etwas in der Art, in denen dieses Drachenblut vorkommt. Könnte das wohl dieses … Harz sein?« Frantizéc überlegte. »Drachenblut … Hm. Der Name sagt mir was. Hab’ ich ganz bestimmt schon mal gehört. Woher stammt es?« »Er hat es in einer Apotheke in der Drazického gekauft. Das ist auf der Kleinseite, ganz in der Nähe der Karlsbrücke. Der Apotheker heißt … Moment …« Wronzek zog die Lesebrille hervor und näherte sich dem Blatt. »Hirnbein, wenn ich das richtig lese.« Frantizéc schüttelte den Kopf. »Kenn’ ich nicht.« »Altmodischer Laden. Kein normaler Kassenzettel, sondern eine handgeschriebene Rechnung. Noch so ein sonderbarer Kauz!« Wronzek wandte sich direkt an Frantizéc. »Ich hätte Sie gerne dabei, wenn ich Herrn … Hirnbein … einen Besuch abstatte.« Frantizéc nickte nur. Die alte Apotheke lag versteckt in einer schleifenförmigen Seitenstraße. Das Schild wirkte modern – der Rest allerdings nicht. Im Inneren standen viele alte keramische Flaschen, Glaskolben und Ähnliches herum und erinnerten unangenehm an Isínowksís Wohnung. Daneben allerdings standen moderne Packungen Aspirin neben Paracetamol, und Wronzek erkannte auf einem alten Regal seinen Betablocker und einige Blutdruckmessgeräte. In diesem Moment betrat eine Gestalt den Verkaufsraum, die die Aufmerksamkeit sofort auf sich zog. Hirnbein, der Apotheker, war uralt, faltig, mit schlohweißem, aber dichtem Haar, einer regelrechten Löwenmähne und er wirkte ein wenig verbogen. Die linke Schulter stand deutlich tiefer, als die rechte. Er schien unter Schuppen zu leiden, denn die Schultern waren damit...