Roman
E-Book, Deutsch, Band 4, 496 Seiten
Reihe: Ein Inspector-Lynley-Roman
ISBN: 978-3-641-12026-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was als fröhliches Verlobungswochenende von Lynley mit der Fotografin Deborah im Freundes- und Familienkreis auf Howenstow, dem feudalen Stammsitz der Ashertons, geplant war, entpuppt sich nach und nach als Alptraum. Im nahe gelegenen Dorf wird ein junger Journalist bestialisch ermordet - und alle Spuren führen nach Howenstow, zum gräflichen Verwalter zu Lynleys Gästen, ja sogar zu seinem eigenen Bruder. Auf der Suche nach dem Täter verfangen sich Lynley und St. James mit jedem Schritt mehr in einem schmerzhaften Netz aus lange unterdrückten Feindseligkeiten, nicht eingestandenen Schuldgefühlen und scheinheiliger Moral.Das Prequel zur Inspector-Lynley-Reihe
Akribische Recherche, präziser Spannungsaufbau und höchste psychologische Raffinesse zeichnen die Bücher der Amerikanerin Elizabeth George aus. Ihre Fälle sind stets detailgenaue Porträts unserer Zeit und Gesellschaft. Elizabeth George, die lange an der Universität »Creative Writing« lehrte, lebt heute in Seattle im Bundesstaat Washington, USA. Ihre Bücher sind allesamt internationale Bestseller, die sofort nach Erscheinen nicht nur die Spitzenplätze der deutschen Verkaufscharts erklimmen. Ihre Lynley-Havers-Romane wurden von der BBC verfilmt und auch im deutschen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt.
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NÄCHTE IN SOHO
Prolog
Tina Cogin verstand es, aus dem wenigen, das sie hatte, das Beste zu machen. Dieses Talent war ihr angeboren. Mehrere Stockwerke über dem dumpfen Dröhnen des nächtlichen Verkehrs bewegte sich ihre nackte Silhouette faunisch über die Wände des halbdunklen Zimmers, und sie beobachtete lächelnd, wie jede ihrer Bewegungen den Schattenriß veränderte, so daß immer neue Formen von Schwarz und Weiß entstanden, wie bei einem Rorschach-Test. Und was für ein Test, dachte sie, während sie eine Geste lockender Verheißung mimte. Was für ein Anblick für irgendeinen Psycho! Erheitert über ihre Begabung zur Selbstironisierung, trat sie zur Kommode und musterte verliebt ihren Bestand an Dessous. Um den Genuß zu verlängern, zögerte sie wie unschlüssig, ehe sie ein auffallendes Ensemble aus schwarzer Seide und Spitzen herausnahm. Büstenhalter und Höschen, ein französisches Modell, raffiniert geschnitten und unauffällig ausgepolstert. Sie legte beides an. Ihre Finger erschienen ihr ungeschickt, den Umgang mit so zarten Wäschestükken zu wenig gewöhnt. Sie begann leise zu summen, ohne erkennbare Melodie: Ausdruck ihrer Vorfreude auf den Abend, auf drei Tage und Nächte uneingeschränkter Freiheit und das erregende Abenteuer, die Straßen Londons unsicher zu machen, ohne genau zu wissen, was diese milden Sommernächte bringen würden. Sie schob einen langen lackierten Fingernagel unter den Klebeverschluß einer Strumpfpackung, aber als sie die Strümpfe herausschüttelte, blieben sie an ihrer Hand hängen, deren Haut rauher war, als sie sich gern eingestand. Das Material zog Fäden. Sie fluchte einmal kurz, löste den Strumpf von ihrer Haut und untersuchte den Schaden, ein kleines Loch, aus dem eine Laufmasche werden konnte, hoch oben am Innenschenkel. Sie mußte noch vorsichtiger sein. Den Blick auf ihre Beine gesenkt, zog sie die Strümpfe hoch und seufzte voll Behagen. Das Material glitt so leicht über ihre Haut. Sie liebte dieses Gefühl – wie die Zärtlichkeiten eines Liebhabers – und strich genüßlich mit den Händen von den Fesseln über die Waden und Oberschenkel bis zu den Hüften hinauf. Straff, dachte sie, schön. Und hielt inne, um ihren Körper im Spiegel zu bewundern, ehe sie einen schwarzen Seidenunterrock aus der Kommode zog. Das Kleid, das sie aus dem Schrank nahm, war schwarz, mit hohem Kragen und langen Ärmeln. Sie hatte es einzig gekauft, weil es sich wie flüssige Nacht um ihren Körper schmiegte. In der Taille war es mit einem Gürtel zusammengenommen, auf dem Oberteil glitzerte jettschwarze Perlenstickerei. Sie hatte es in Knightsbridge gekauft und hatte soviel Geld dafür hingelegt – ganz abgesehen von all ihren anderen Ausgaben –, daß sie sich nun für den Rest des Sommers den Luxus, mit dem Taxi zu fahren, nicht mehr leisten konnte. Aber eigentlich machte das nichts. Tina wußte, daß es Dinge gab, die sich letzten Endes immer bezahlt machten. Sie schob die Füße in die schwarzen hochhackigen Pumps, dann erst schaltete sie endlich die Lampe neben der Bettcouch ein. Ins Licht sprang ein einfaches Ein-Zimmer-Apartment, das den unbezahlbaren Luxus eines eigenen Badezimmers bot. Bei ihrem ersten Besuch in London damals – frisch verheiratet und auf der Suche nach einem Rückzugsort – hatte sie den Fehler begangen, ein Zimmer in der Edgware Road zu nehmen, wo sie sich das Bad mit einer ganzen Etage grinsender Griechen hatte teilen müssen, die sämtlich an jeder kleinsten Verrichtung ihrer täglichen Toilette begierig Anteil genommen hatten. Nach dieser Erfahrung hätte nichts sie mehr dazu bewegen können, das Badezimmer mit einer anderen Person zu teilen, auch wenn die zusätzlichen Kosten für ein eigenes Bad zunächst eine beträchtliche Zusatzbelastung bildeten. Sie prüfte noch einmal kritisch ihr Make-up und fand alles in Ordnung: die Augen so geschminkt, daß ihre Farbe betont und ihre Form korrigiert wurde, die Brauen zum Bogen gebürstet und nachgezogen; die Wangenknochen kunstvoll mit Rouge bestäubt, um die Linien des kantigen Gesichts weicher zu machen; die Lippen mit Stift und Pinsel konturiert, um ihnen die Schwellung sinnlicher Verlockung zu geben. Sie schüttelte ihr Haar aus, das so schwarz war wie ihr Kleid, und bauschte ein wenig die feinen Fransen, die ihr in die Stirn fielen. Sie lächelte. Nicht übel. Nein, weiß Gott, nicht übel. Mit einem letzten Blick durch das Zimmer nahm sie die schwarze Handtasche, die sie auf das Bett geworfen hatte, und vergewisserte sich, daß sie nur Geld, ihre Schlüssel, den Zettel mit dem Namen des Nachtlokals und zwei kleine Plastikbeutel mit dem Stoff darin hatte. Dann ging sie. Eine kurze Fahrt mit dem Aufzug, dann trat sie aus dem Haus in die Großstadtnacht, erfüllt von Maschinen- und Menschengerüchen. Wie immer warf sie, ehe sie in Richtung Praed Street losging, einen beifälligen Blick auf die graue Steinfassade des Hauses und die Worte Shrewsbury Court Apartments über der doppelflügeligen Tür, Tor zu ihrem Versteck und ihrer Zuflucht, dem einzigen Ort, an dem sie sie selbst sein konnte. Sie wandte sich ab und ging den Lichtern des Paddington-Bahnhofs entgegen, um von dort mit der District Line bis Nottinghill Gate zu fahren und dann mit der Central Line weiter zur Tottenham Court Road, die Freitagabend im betäubenden Dunst der Abgase und an den schiebenden Menschenmengen zu ersticken drohte. Rasch ging sie zum Soho Square. Hier drängten sich die Kunden der Peep-Shows, eine wogende Masse lüsterner Sensationsjäger, die mit grölenden Stimmen in allen denkbaren Akzenten und Dialekten obszöne Bemerkungen über die aufreizenden Darbietungen von Bein, Busen und mehr tauschten. An einem anderen Abend hätte Tina vielleicht einen oder mehrere von ihnen als Kandidaten für eine amüsante Begegnung in Betracht gezogen. Aber nicht heute. Heute abend war alles vorgegeben. In der Bateman Street sah sie über einem unappetitlich riechenden italienischen Restaurant das Schild hängen, nach dem sie Ausschau gehalten hatte. Kat’s Kradle, stand darauf, und ein Pfeil wies in eine unbeleuchtete kleine Gasse gleich um die Ecke. Sie ging zur Tür und stieg die kurze Treppe hinunter, die so schmutzig war wie die Gasse, und wo es nach Alkohol, Erbrochenem und defekter Kanalisation roch. Für ein Nachtlokal war es noch früh. In Kat’s Kradle war nicht viel los, nur ein paar Gäste saßen an den Tischen rund um die Tanzfläche von der Größe einer Briefmarke. Die kleine Band, Saxophon, Klavier und Schlagzeug, stimmte ein melancholisches Jazzstück an, während die Sängerin an einen Hocker gelehnt rauchte und mit gelangweilter Miene auf ihren Einsatz wartete. Es war sehr düster in dem Raum, der nur von einem schwachen bläulichen, auf die Band gerichteten Scheinwerfer, Kerzen auf den Tischen und einem Licht über der Bar erleuchtet war. Tina schob sich auf einen Hocker vor dem Tresen, bestellte einen Gin Tonic und stellte fest, daß dieses Bumslokal, so verwahrlost es war, ein echt idealer Treffpunkt war, das Beste, was Soho für ein heimliches Rendezvous zu bieten hatte. Das Glas in der Hand, musterte sie ihre Umgebung: schattenhafte Gestalten, Zigarettenqualm, gelegentliches Aufblitzen eines Schmuckstücks oder der Flamme eines Feuerzeugs. Stimmengewirr, Gelächter, Geldgeklimper, Paare, die sich auf der Tanzfläche bewegten. Aber dann sah sie ihn, einen jungen Mann, der allein an einem Tisch in der hintersten Ecke saß. Sie lächelte. Typisch Peter, so einen Schuppen zu wählen, wo er sicher sein konnte, daß ihm niemand von der Familie oder seinen feudalen Freunden über den Weg lief. Im Kat’s Kradle brauchte er nicht zu fürchten, mißverstanden zu werden. Tina beobachtete ihn. Vorfreude flatterte in ihrem Magen, während sie auf den Moment wartete, da er sie hinter Rauchschwaden und tanzenden Körpern entdecken würde. Aber er hatte überhaupt kein Auge für sie, sondern starrte unverwandt zur Tür, hob nur ab und zu die Hand und griff sich nervös in das kurzgeschnittene blonde Haar. Minutenlang beobachtete Tina ihn mit Interesse, während er schnell hintereinander zwei Drinks bestellte und sie hinunterkippte. Sie sah, wie sein Mund mit jedem Blick auf die Uhr, mit der wachsenden Qual des Verlangens immer schmäler wurde. Er war, soweit sie es erkennen konnte, ziemlich schäbig angezogen für den Bruder eines Earl: eine abgetragene Lederjacke, Jeans und ein T-Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck Hard Rock Café. Von einem Ohr hing ihm ein goldener Ohrring herunter, den er von Zeit zu Zeit berührte wie einen Talisman. Unablässig kaute er an den Fingern seiner linken Hand, und mit der Rechten, die zur Faust geballt war, schlug er sich ab und zu beinahe krampfhaft auf die Hüfte. Als eine Gruppe lauter Deutscher in das Lokal kam, sprang er auf, fiel aber gleich wieder auf seinen Stuhl zurück, als sich zeigte, daß die Person, auf die er wartete, nicht dabei war. Er zog eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche, schüttelte eine Zigarette heraus, griff in seine Taschen, brachte aber weder Feuerzeug noch Zündhölzer zum Vorschein. Einen Augenblick später schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und kam zur Bar. Direkt in Mamas Arme, dachte Tina und lächelte in sich hinein. Manche Dinge im Leben waren eben Bestimmung.
Als Justin Brooke am Soho Square den Triumph in eine Parklücke manövrierte, sah Sidney St. James deutlich, wie stark seine Anspannung war. Sein ganzer Körper war verkrampft. Die Hände umfaßten das Steuer mit einem verräterischen Bemühen um Kontrolle, das jeden Moment zu versagen drohte. Er versuchte es vor ihr zu verbergen. Das Verlangen zuzugeben, wäre ein Schritt zum...