E-Book, Deutsch, 170 Seiten
Gemeinde Stockstadt am Rhein / (Hrsg. / Brenke Auf der Durchreise
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-935333-81-8
Verlag: glotzi
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Siegerbeiträge
E-Book, Deutsch, 170 Seiten
ISBN: 978-3-935333-81-8
Verlag: glotzi
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Siegerbeiträge des Stockstädter Literaturwettbewerbs 2023/2024 der Gemeinde Stockstadt am Rhein, das Thema lautete "Auf der Durchreise".
Das Buch "Auf der Durchreise" wird herausgegeben von der Gemeinde Stockstadt am Rhein. Es enthält die Siegertexte des so betitelten Wettbewerbs, den die Gemeinde im Jahre 2023 ausgeschrieben hat. Es ist im März 2024 zur 27. Buchmesse im Ried in Stockstadt erschienen.
"Die spannendsten, originellsten, fesselndsten Geschichten, zu denen unser Thema literarisch verarbeitet wurde, finden Sie in diesem Buch! Wer unsere Siegerbücher verfolgt, kann sich immer wieder auf großartige Texte ganz unterschiedlicher Art freuen - die noch dazu oft Bezug auf unsere Region nehmen oder direkt in ihr entstanden sind."
Aus dem Vorwort des Bürgermeisters der Gemeinde Stockstadt am Rhein, Thomas Raschel.
Die Preisträger des Stockstädter Literaturwettbewerbs 2023/2024 sind: Nina Brenke, Robin Dietz, Kathrin Engeroff, Thomas Fuhlbrügge, Jutta Janzen, Tamara Krappmann, Uwe Krüger, Simon Kümmling, Angela Regius, Marie Ritter, Alyssa Sara Schaefer, Dieter Stiewi, Julia Veits und Sara Weber.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Tamara Krappmann
Immer dem Fluss nach Das Rad schnurrte ganz herrlich unter mir, als wäre es nie im Keller verstaubt. Es war ein Ding und konnte sich daher nicht freuen, aber ich schwöre: Es freute sich. Und mir ging es genauso. Ich spürte die Luft in meinen Lungen und die Wärme in meinen Muskeln, die Runde um Runde die Pedale antrieben, als sei es das Selbstverständlichste. Dabei konnte nichts außergewöhnlicher sein als diese Reise. Kerzengerade setzte ich mich hin, nahm beide Hände vom Lenker und streckte sie links und rechts aus, wie Flügel. Das hatte ich schon ewig nicht getan, vielleicht seit fünfzig Jahren. Dann schloss ich noch die Augen, fuhr freihändig und blind. Angst zu stürzen hatte ich nicht, denn ich hatte überhaupt keine Angst mehr. Der Fahrtwind griff mir unter die gestreckten Arme und ließ den Stoff meines Hemds flattern. Ich lachte laut und fühlte mich lebendig. Das war überhaupt das Erstaunlichste: Wie lebendig ich mich fühlte! Damit hatte ich nicht gerechnet. Vor lauter Lust am Leben schrie ich wie eine Möwe und machte dann wieder die Augen auf. Denn vielleicht gab es hier Möwen? Das wollte ich einmal nachsehen. Das Rad war während meines Blindflugs treu in der Spur geblieben. Wahrscheinlich wusste es sowieso besser als ich, wohin wir wollten. Außerdem konnte ich mich nicht verfahren. Im Augenwinkel sah ich eines der blauen Schilder vorüberwischen: EuroVelo 15, der Rheinradweg. Dem hatte ich immer schon folgen wollen. Hatte es aber nie geschafft. Bis jetzt. Jetzt holten wir die Reise nach, das treue Rad und ich. Wobei es nicht die ganze Reise war. Weder hatten wir sie in den Alpen begonnen, noch würden wir je die Nordsee erreichen. Das wusste ich natürlich. Aber immerhin war ich nun hier, hatte die Straße unter und die Sonne über mir, und außerdem den Fluss im Blick, der breit und herrlich Richtung Norden strömte. Möwen sah ich keine. Dafür kreiste ein Rotmilan über einem nahen Feld. Auch wenn ich wenig über Vögel wusste, den gegabelten Schwanz erkannte man leicht. Und Sylphen waren auch unterwegs: durchscheinende Luftgeister, die mit mir um die Wette jagten. Die hatte ich früher nie bemerkt. Früher: Das bedeutete vor meinem Aufenthalt im Krankenhaus. Er hatte mich verändert, das wusste ich natürlich. Früher hätte ich keine Zeit gehabt, auf meinem Rad den Rhein entlang zu reisen. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben, ich hätte mir die Zeit nicht genommen. Aus meiner damaligen Perspektive war das folgerichtig. Nun hatte ich die Blickrichtung aber gewechselt. Und von dort aus gesehen hatte ich eben alle Zeit der Welt und zudem Luftgeister, die mir Gesellschaft leisteten. Ich winkte den Sylphen zu und lachte entzückt, als sie zur Antwort Schleifen tanzten. Ihr Wind rauschte in meinen Ohren. Ich mochte sie wirklich gerne leiden. Schade, dass ich sie vorher nicht gesehen hatte. Und schade, dass die Menschen sie einfach übersahen. In einer Welt voller freundlicher Geister würde ihnen das Leben vielleicht leichter fallen. Bei mir jedenfalls wäre es so gewesen, gerade zuletzt, im Krankenhaus. Da hatte ich mich oft einsam gefühlt. Was, wie ich nun wusste, Unsinn war: Denn wo es Luft gab, da war auch ein Luftgeist. Und so ein Luftgeist war genauso freundlich, wie Andersen in seinem Märchen von der Kleinen Meerjungfrau behauptete. Auch wenn ich nicht wusste, ob der Rest davon stimmte. Das Märchen war schließlich tiefreligiös, die treibende Kraft hinter allem der Wunsch der Meerjungfrau nach einer unsterblichen Seele. Der führt sie zuerst zu den Menschen und anschließend zu den Sylphen. Ich lachte. Mich führten Wind und Fluss immerhin auch zu einer Seele. Meine eigene war es aber nicht. Nein: Ich war auf dem Weg, um eines anderen Menschen Seele zu holen. Das Rad surrte glücklich, die Geister lachten, und ich lachte mit ihnen, denn dort, über den breiten Fluss, glitt nun doch eine Möwe, als hätte ich sie mir bestellt. Sonst hatte ich den Rheinradweg ziemlich für mich alleine. Weil es so kalt war, dachte ich, denn es musste kalt sein, trotz all der Sonne. Aber wir hatten Ende November, zuletzt hatte es viel geregnet, und an den Rändern der Pfützen hatten sich über Nacht sogar Krusten aus Eis gebildet. Mir war das egal, denn ich spürte die Kälte nicht mehr, und würde sie nie wieder spüren. Den Luftgeistern ging es vermutlich genauso. Und die Möwe war allerhand gewohnt und hatte darüber hinaus keine Wahl. Die beiden Frauen aber schon. Ich sah sie bereits von weitem und wurde sofort neugierig. Daher hörte ich auf zu treten und ließ das Rad langsamer rollen, damit ich sie betrachten konnte. Die Frauen waren ebenfalls per Rad gekommen. Ihre Räder standen hinter ihnen, neben dem Rheinradweg. An einem war ein Anhänger befestigt, von der Sorte, mit denen man Einkäufe transportieren kann, oder manchmal auch einen Hund. Die beiden hatten aber etwas Anderes mitgebracht: Auf zwei klappbaren Campingstühlen hockten sie am Ufer, das hier als Rampe abwärts-führte, über die man Boote zu Wasser lassen konnte. Jede hatte eine Decke um die Schultern gelegt und hielt eine Tasse in Händen, aus der es kräftig dampfte. Zwischen ihnen stand eine Thermoskanne. So umfassend gerüstet hockten die zwei dort, schwatzten und betrachteten den Rhein. Auf ihrer Höhe blieb ich stehen, um das zu sehen, was sie sahen. Den Fluss. Am anderen Ufer Bäume, zwischen denen man aber hindurchgucken konnte. Dahinter steigende Hügel, und, schon recht weit entfernt, Windkraftanlagen. Auf dem Fluss glitzerte die Sonne, näherte sich ein Frachtschiff, schwamm ein Schwan. Das alles war hübsch anzusehen, aber nicht außergewöhnlich. Und die verspielten Luftgeister sorgten für einen kräftigen Wind. Man musste den Fluss wohl sehr lieben, um an so einem Tag zum Picknick zu kommen. Forschend musterte ich die Frauen. Zu meiner Überraschung drehte eine sich um und schaute mir direkt in die Augen. Ich fühlte mich eine Braue heben. Daran, übersehen zu werden, hatte ich mich als Erstes gewöhnt. Wider Erwarten war mir das leichtgefallen. Von der anderen Seite betrachtet, entwickelte die Welt ganz neue Selbstverständlichkeiten. Dass die Menschen mich nicht mehr bemerkten, gehörte einfach dazu und hatte seine Richtigkeit. Ich hielt mich nicht in dem Sinne für unsichtbar. Eher war ich zu einem Teil des Hintergrunds geworden. Die Leute bemerkten mich insofern, dass niemand mit mir zusammenstieß. Aber sie sahen mich nicht mehr, oder vielleicht vergaßen sie mich einfach sofort wieder. Diese Frau aber sah mich. Sie sah mich direkt an und zog dabei, ebenso wie ich, eine Augenbraue hoch. Aber sie lächelte. Und ich begriff, dass sie mich nicht nur sah, sondern zudem als das erkannte, was ich war. Menschen konnten so etwas nicht. Wer also war sie? Die zweite Frau hatte nun ebenfalls etwas bemerkt: Dass ihre Freundin sich umwandte nämlich. Also tat sie dasselbe und suchte mit den Augen den Rheinradweg ab. Aber ihr Blick glitt über mich, ohne einen Halt zu finden. Die war ein ganz normaler Mensch. Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Was ist denn, Lore?“ Die Frau, die etwas anderes sein musste, lächelte noch ein wenig breiter. Dann legte sie eine Hand auf die Schulter ihrer Begleiterin. Etwas änderte sich dadurch. Plötzlich fanden auch ihre Augen mich auf meinem Rad. Ich stand keine drei Meter hinter ihnen, und eigentlich hätte die Frau erschrecken müssen: weil da ein Mann auftauchte, wo vorher leere Luft gewesen war. Aber sie zuckte nicht einmal. Offenbar war sie einiges gewohnt. „Guten Tag“, sagte ich. „Wer ist das?“, fragte die zweite Frau, die wahrscheinlich ein Mensch war, aber einer, dem viel Seltsames begegnete. „Das“, sagte Lore, die etwas ganz anderes sein musste, „ist Tod.“ „Tod? Du meinst: der Tod? Oder ist er tot?“ Noch immer war die Frau nicht erschrocken. Stattdessen klang sie neugierig. „Beides“, sagte die hellsichtige Lore. Ich nickte zur Bestätigung. „Das stimmt. Und Sie – sind Sie ein Wassergeist?“ „Oh Gott, nein“, sagte Lore lachend. „Aber nah dran. Ich bin eine Flusshexe. Mein Name ist Lore Nix. Und das ist meine Freundin Petra Sand.“ „Giovanni Pucci“, erwiderte ich. „Sehr angenehm. Sind Sie ebenfalls eine Flusshexe, Frau Sand?“ „Aber nein“, widersprach sie ruhig. „Ich bin Psychotherapeutin.“ „Möchten Sie einen Tee, Herr Pucci?“, erkundigte sich Lore Nix. „Sie wissen, dass ich keinen trinken kann“, lehnte ich lächelnd ab. „Das weiß ich“, bestätigte sie. „Aber nicht zu fragen, wäre sehr unhöflich.“ *** Die Damen hatten keinen dritten Stuhl dabei, doch es machte mir nichts, mich auf den Boden zu setzen. Petra Sand hatte mir ein altes Badetuch, dass ganz unten im Fahrradhänger lag, damit die Fracht nicht rumpelte, als Sitzkissen angeboten, und auch, wenn ich keines mehr benötigte, hatte ich gerne angenommen. Nun hockte ich mit dem...