Geiser | Verfehlte Orte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Geiser Verfehlte Orte

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-906910-52-9
Verlag: Secession Verlag für Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der x-fach preisgekro¨nte 69-ja¨hrige Christoph Geiser ist ein Dichtkunst-Sonder- fall: multifunktionaler Grenzga¨nger und dabei immer "Jetztmensch", Erstwohnsitz Bern und doch merkbar Lebensmittelpunkt Berlin, spu¨rsinniger Rechercheur, ka¨mpferischer Zeitdiagnostiker beim allgemeinen wissen- und gewissenlosen Vergessen und Verdra¨ngen, melancholischer Nostalgiker und sprachartistischer Spezialist fu¨r politische Ost-West-Weltbetrachtung und verwirrte Gefu¨hlsem- pfindung, up-to-date bis zur ju¨ngsten Tagesaktualita¨t (Trump in Nordkorea), begnadeter Feuilletonist und Essayist, penibler Fakten-Realist und Fiktion- Phantast, philosophierender Logiker und ortskundiger Logistiker, tabubrechender Psychologe, eminent belesen mit Stilverwandtschaften zu Du¨rrenmatt und Robert Walser, bea¨ngstigend authentischer Augenzeuge als Undercover-Gerichtsreporter im Schweizer Hinterland, verspielt witzig gru¨belnder Etymologe mit Unter- scheidungsvermo¨gen zwischen "lebenslang" und "lebensla¨nglich", virtuoser Reflexions-Stilist mit Vorliebe fu¨r Kleist'sche Satzungeheuer, setzt sich als Schwuler fro¨hlich von "Klemmschwestern" ab, u¨berlebt aber eigentlich nur als glu¨hend scho¨nheitstrunkener Museums-Freak zwischen dem Darmsta¨dter Landesmuseum, der Berliner Nationalgalerie, wo er, ungeniert vorbei an allen zuru¨ckhaltenderen Kunsthistorikern, die er u¨brigens beim Namen nennt, Menzel als Knaben-Lieb- haber outet, und dem Promi-Friedhof von San Michele. Kurz und gut: Dieser sonderliche Autor nimmt seine Leser zum unweigerlich direktesten Nachfu¨hlen u¨berallhin mit ...
Haben wir alles u¨ber diese wundersam-wunderbaren Texte gesagt? Entdecken Sie mehr, entdecken sie Christoph Geiser wieder!
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DIE VERGRÄMUNG DER ZAUNEIDECHSEN
Anlässlich der Exhumierung des Kopfes der 1991 in hundertelf Teile zerlegten und im Köpenicker Forst, dem sogenannten Müggelwald, entsorgten und später daselbst vergrabenen Statue Lenins, einem Denkmal, das seit 1970, zum hundertsten Geburtstag des russischen Revolutionsführers errichtet, den Leninplatz zierte und nach der sogenannten Wende, wie wir zu lesen Gelegenheit hatten, keinem öffentlichen Bedürfnis mehr entsprach, sind wir unter anderen auf den Begriff der Gigantothermie gestoßen, wie uns auch das von Robert Walser in seiner Erzählung Kleist in Thun verwendete Verb eidechseln plötzlich wieder einfiel; überhaupt haben wir uns aus genanntem Anlass ausführlich mit Eidechsen befasst, ja, mit Echsen überhaupt, den Sauriern, sowohl den echsenhüftigen als auch den vogelhüftigen, ausgehend in Sonderheit aber und vorab von den Zauneidechsen, diesen streng geschützten, und in Folge der Frage, ob diese nun eigentlich die geschrumpften Nachfahren der Saurier oder aber, nachdem ja die Vögel viel direkter mit den Sauriern verwandt zu sein scheinen als die heute lebenden Echsen und man sich den Tyrannosaurus Rex Tristan, dessen Skelett neuerdings im Naturhistorischen Museum zu Berlin ausgestellt ist, als monströses Truthuhn vorstellen muss, nicht vielmehr die Nachkommen der mythischen Drachen seien, Miniaturdrachen quasi. Und so wäre denn unsere Wiener Bronze, die wir vor Jahresfrist im Antikmarkt der Friedrichstraße für siebenhundert Euro gekauft haben und die seither unsere Bücherwand aus hellem Bergahorn bewacht, sollte sie denn, wie wir wähnen, einer Zauneidechse nachempfunden sein, ein kleiner Drache? Der Unterschied zwischen Sauriern und Drachen ist nämlich quasi fundamental. Drachen kennt die Menschheit aus Erfahrung, Saurier hingegen nicht. Was so ein Kopf nicht alles zueinanderfügt und somit bewirkt! Lenins Kopf erst. Und der entleibte erst recht. Nun aber mal schön der Reihe nach. Als wir am 7. September 2015 bei Alfio oder im Samrat, dessen sind wir uns nicht mehr gewiss, wartend auf das Mittagessen wie immer den Tagesspiegel lesend, unter der Überschrift Jetzt nur nicht den Kopf verlieren, lasen, dass der Kopf des Lenindenkmals – als Exponat einer Dauerausstellung über Berlins Denkmäler unter dem Titel Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler – ausgegraben und in die Zitadelle Spandau, in welcher heute, wie man liest, die Fledermäuse überwintern, überführt werden soll (jene Zitadelle, die wir, wie so viele Ortsfremde, zunächst mit dem Kriegsverbrechergefängnis Spandau verwechselten, das inzwischen geschleift ist und in welchem Speer und die Seinen einsaßen, und bis zuletzt noch Rudolf Hess, bevor dieser sich mit über neunzig Jahren unter Zuhilfenahme eines Elektrokabels strangulierte), da fiel es uns plötzlich wie Schuppen von den Augen: Der Platz der Vereinten Nationen ist’s! Und die drei Hochhäuser stehen noch immer – ja, sind sogar unter Denkmalschutz gestellt! –, und der Leninplatz 1, wo wir damals – war’s 72, 73, oder doch erst 74? – unseren Hauptstadtkorrespondenten, den wir unter dem Decknamen Hans der Schlimme führten, besucht haben, ist somit heute mutmaßlich der Platz der Vereinten Nationen 1, was vergleichsweise plump klingt, banal, schlicht. Ein Denkmal, übrigens, das zerlegt und vergraben wurde, gilt, laut Berliner Denkmalverordnung, nicht mehr als Denkmal, sondern als Bauschutt und somit nicht mehr als denkmalgeschützt. Oder sollten wir nicht doch lieber mit den Zauneidechsen beginnen, diesen laut Bundesnaturschutzgesetz streng geschützten Wesen, statt mit unserem Besuch beim schlimmen Hans, diesem mutmaßlichen IM Erwin? Der Name Zauneidechse, lesen wir auf www.reptilien-brauchen-freunde.de, verweist auf bevorzugte Aufenthaltsgebiete der Tiere, namentlich Grenzstrukturen und Übergangsbereiche. Sehr treffend sei auch das französische lézard des souches – »Eidechse der Baumstümpfe«. Das niederländische zandhagedis und das englische sand lizard verweisen auf häufig besiedelte Böden. Der lateinische Artname Lacerta agilis lautet übersetzt flinke Eidechse. Zauneidechse, Sandeidechse, flinke Eidechse – es eidechselt da so entlang an Säumen von Waldrändern, in Hecken und an Zäunen, allgegenwärtig einstmals, heißt es, anspruchslos im Grunde. Ein wenig Sand für die Eiablage; leicht lockerer und gut zu durchgrabender Boden; eine nicht ganz geschlossene Krautschicht, Sonnenplätze, ein Baumstumpf; oder etwas Gestrüpp und ein paar Sträucher oder Bäume als Deckung und Überhitzungsschutz. Das genügt zum Leben! Kräftig gebaut ist sie, diese Zauneidechse, mit recht massigem, vom Rumpf deutlich abgesetztem Kopf und oftmals mit sogenannten Augenflecken an den Flanken, die aus dunklem Grund und hellem Punkt bestehen. Vor allem diese Augenflecken und der massige, deutlich vom Rumpf abgesetzte Kopf sind es, die uns denken lassen, unsere Wiener Bronze sei als Denkmal einer Zauneidechse gedacht, auch die Größe könnte in etwa stimmen, circa fünfundzwanzig Zentimeter mit unversehrtem Schwanz, ein sehr großes, mutmaßlich männliches Exemplar. Insgesamt, so lesen wir, seien die bei Zauneidechsen auftretenden Zeichnungsmuster überaus vielfältig und dienten, da die hellen Linien und farbigen Punkte auf dem Rücken zeitlebens erhalten blieben, gleich einem Fingerabdruck der lebenslangen Wiedererkennbarkeit der einzelnen Tiere. Anspruchslos, sagten wir? Und wenig genüge fürs Leben? Selbst so bescheidene Ansprüche ans Leben, wie oben beschrieben, lesen wir, seien jedoch heutzutage oftmals zu viel verlangt vom Leben. Mit dem Verschwinden von Säumen an Waldrändern nämlich und unbefestigten Wegen, von Heckenlandschaften, Ackerrainen und ähnlichen Lebensräumen verschwand auch die Zauneidechse aus vielen Gegenden. Schuld daran, wer will’s bezweifeln, sei der Mensch mit seiner raumgreifenden Zivilisation. Der Ausbau von Fließgewässern, der Verlust von Ödland, der Ausbau von Verkehrswegen, die Rekultivierung von Abgrabungen, die Bebauungen von südexponierten Hängen und Dünen und vieles mehr entziehen den Tieren ihren Lebensraum. Aufgrund der Unscheinbarkeit der Lebensräume und der guten Tarnung der Eidechsen erfolgt dies oft unbemerkt. Nährstoffeinträge tragen durch Düngung zum Verlust von vegetationslosem Boden und somit zum Verlust der Eiablageplätze bei; dies kann, so lesen wir, zu einem langsamen Erlöschen der Bestände führen, zum Ende allen Eidechselns schlussendlich womöglich, sodass dann ausgeeidechselt wäre, und so verwundert es nicht, dass die Zauneidechse mittlerweile auf den Roten Listen der meisten Bundesländer geführt wird. Die besondere Biologie der Zauneidechse und ihr strenger Schutz erweisen sich bei Bau- und anderen Vorhaben gern als Problem. Leider, so müssen wir lesen, existieren sehr fragwürdige Empfehlungen, die vorgeblich dem Artenschutz dienen, tatsächlich aber nur Vorhabensträgern helfen. Dazu zählen zum Beispiel falsche Angaben zur Biologie, sehr fantasievolle Interpretationen der Rechtslage, pseudowissenschaftliche Berechnungen und Korrekturfaktoren zur Verringerung des Flächenbedarfs für Ausgleichsmaßnahmen und nicht zuletzt kaum verbrämte Vorschläge, die Tiere vorab doch einfach zu töten … Wer nun aber vorhat, Lenins Kopf zu exhumieren, ist freilich nicht nur ein Vorhabens-, sondern auch ein Verantwortungsträger – trägt, meine ich, nicht nur ein Vorhaben mit sich herum oder führt es quasi im Schilde, sondern trägt auch Verantwortung nicht nur für den Fortschritt der Menschheit und den Fortbestand der Welt, sondern ebenso für den Fortbestand der Zauneidechsenpopulation! Wer will’s denn bezweifeln? So dürfen wir mutmaßen, dem siebzehnseitigen Bergungskonzept samt sechsseitigem Anhang sowie der zwölfseitigen Expertise eines ungenannten Diplombiologen zur Umsiedlung der Zauneidechsen und der siebenseitigen Ausnahmegenehmigung der Obersten Naturschutzbehörde hätte, neben vielen anderen Entscheidungsgrundlagen, auch die sogenannte Handreichung der Reptilienfreunde mit dem Titel Zauneidechsen im Vorhabensgebiet – was tun?, Schneeweiss et al. 2014, als PDF-Datei kostenlos herunterzuladen, zugrunde gelegen. Zauneidechsen nämlich sind heutzutage insbesondere an Waldrändern und auf Lichtungen, auf Halbtrockenrasen und Heiden, in Dünen und auf Felskuppen zu finden. Und quasi unseligerweise liegen Lenins hundertelf Trümmer, sorgfältig nummeriert, ausgerechnet auf einer Waldlichtung, ursprünglich frei herumliegend, 1992 aber zugeschüttet, seither folglich unter einem Hügel aus märkischem Sand. Grabhügel in einer Waldlichtung, sonniger Sandhügel, ideales Habitat für unsere Echsen! Für Männchen wie Weibchen, Paarungsmarsch wie Paarung, Eiablage wie Schlüpfling, für Kommentkämpfe, Imponiergehabe, Demutsgesten, sogenanntes Treteln, dieses ganze stark ritualisierte Sozialverhalten der Zauneidechsen....


CHRISTOPH GEISER, geboren 1949 in Basel, hat fu¨r sein Werk zahlreiche Preise erhalten, zuletzt 2018 den Großen Literaturpreis von Stadt und Kanton Bern. Stipendien fu¨hrten ihn an das Oberlin College in Ohio, als Gast des DAAD nach Berlin und nach London, Paris und New York. 2000 war er Stadtschreiber in Dresden.
Christoph Geiser ist Mitglied des Deutschschweizer PEN-Zentrums sowie korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie fu¨r Sprache und Dichtung, Darmstadt. Er lebt und arbeitet in Bern und Berlin.


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