E-Book, Deutsch, 1460 Seiten
ISBN: 978-80-272-2424-1
Verlag: Musaicum Books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Neuntes Kapitel
Inhaltsverzeichnis So saßen wir endlich eines Sonntags morgens auf dem Verdeck des Dampfschiffs und eilten dem bekannten Ziele zu. Es waren viele Jahre vergangen, in denen wir diesen Weg nicht genommen hatten, Jahre, die Gutes und Böses gebracht, Jahre, die zersplittert, und Jahre, die vereint hatten. Getrennte Wege hatten unsere Gedanken genommen, aber sie waren sich wiederbegegnet, und wie in einem seltsamen, mystischen Gefühl vereint, das das Schicksal herauszufordern schien, saßen wir Seite an Seite, während Gegend um Gegend an uns vorbeiglitt, von der klaren Lenzsonne beleuchtet, vom blauglitzernden Wasser bespült, das ein leichter Wind kräuselte. Meine Widerspenstigkeit war nun gänzlich verflogen. Ich ließ mich willenlos von meiner Frau führen und nahm jeden Eindruck mit einer Rührung auf, als wäre ich zwölf Jahre jünger und säße auf dem Verdeck, neuen, unbekannten Zielen entgegenziehend, die mein Alltagsleben verändern und dem ganzen Dasein neue Ausblicke geben sollten. Meine Frau schien mir verjüngt, so wie ich selbst. Ihr Gesicht färbte eine zarte Röte, und die Augen leuchteten mit jenem Glanze, den das Glück verleiht. Ihre Stimme hatte Intonationen unbestimmbarer Zärtlichkeit, die mich mit der ganzen Stärke der Illusion liebkosten, die uns beide erfüllte, und zwischen uns kamen und gingen Worte und Lächeln, Blicke und Gebärden, die nur der ersten Zeit der Liebe eigen zu sein pflegen. Und als das Dampfboot uns endlich ans Land setzte und wir allein auf der Brücke standen und das Schiff fortdampfen sahen, da umschlangen wir einander und gingen langsam über den Weg, der sich zwischen Haselstauden und hohen, knorrigen Eichen schlängelte, auf deren Zweigen kaum noch die Spur von den Knospen des Frühlings sichtbar war. Da erst sahen wir, wie wenig entwickelt die Vegetation um uns war. Das Meer, das den ganzen Schärengarten in seiner kalten Umarmung umschlungen hält, legt um Inseln und Schären eine Eiseskühle, die die Arbeit des Frühlings hemmt. Hier war es nicht grün wie im Innern des Landes, wo Wiesen und Haine sich gerade im Schutz dieses weiten Schärengartens belauben, der die harten Nordwinde fernhält. Hier war es öde und kalt, auf den Zweigen der Bäume zeigten sich schwache, lichtgrüne Triebe, die gelb und braun schillerten, die Palmenweide trug Kätzchen, das Gras schlief unter welken Blättern, und die Anemonen, die im Innern des Landes längst verblüht waren, wuchsen blau und weiß unter den Zweigen der Haselsträucher. Gerade diese späte Entwicklung der Natur erfüllte uns beide, die wir in unserer eigenen Stimmung wie gefangen waren, mit einem neuen Glück. »Siehst du, hier kommt es so spät, wie damals?« – »Weißt du noch, man hat einen zweiten Frühling, wenn man in den Schären wohnt?« und wir sahen hinaus über den weiten Fjord, der diesen ganzen späten Frühling umschloß, und freuten uns, daß die Fischmöwen wie einst in weiten Bogen über dem blauen Wasser kreisten, freuten uns über ihre weißen Flügel, die in der Sonne glitzerten, und blieben stehen, um ihr freies Spiel zu betrachten, wenn sie durch die Luft schossen und das Wasser erreichten, wo ihre klaren Augen die Beute erspäht hatten. Hand in Hand wie zwei Kinder gingen wir den Hügel hinauf zu einem kleinen roten Haus, und wir betrachteten einander, als tauschten wir ein Geheimnis aus, als der Fährmann, der uns früher hinüber zu rudern gepflegt hatte, aus der Tür trat und versprach, uns zu unserer Jugendinsel zu führen. Still ging die Fahrt über das blaue Wasser. Ohne ein Wort zu wechseln, von der seltsamen Stimmung erfüllt, die uns beide beherrschte und die sich mit jedem neuen Blicke, der sich auftat, zu vertiefen schien, saßen wir Hand in Hand da und ließen uns von den Erinnerungen durchfluten, wohl wissend, daß dem einen kund war, was der andere dachte. Nie war uns diese Fahrt so herrlich erschienen, nie hatten wir wie jetzt die verführerische Pracht der Mittagssonne gesehen, nie hatte das Schimmern des Wassers und der reichbelaubten Gestade sich so melodisch mit dem ernsten Hintergrund des dunklen Tannenwalds vermählt. Und als wir der kleinen Insel näher kamen, da war es uns, als ob jeder Stein, jeder Baum, jeder Strauch emporwüchse, nicht aus der verringerten Entfernung, sondern aus unserer eigenen Erinnerung, die getreuer als die Wirklichkeit diese Umgebung bewahrt hatte, aus der für uns das Glück des ganzen Lebens entsprossen war. Aber als wir ans Land kamen, blieben wir beide stehen, und der Ausruf des Entzückens, der schon auf Elsas Lippen geschwebt, erstarrte. Schweigend betrachteten wir einander, und wie von etwas Neuem, Unerwartetem bedrückt, das wir nicht einmal sehen oder erkennen wollten, gingen wir langsam den schmalen Pfad von der Landspitze weiter. Was wir gesehen hatten, war, daß das Haus, das jetzt auf der Insel stand, nicht mehr grau war. Es war rot angestrichen. Es war nicht mehr ein breites, zweistöckiges Gebäude. Es war eine niedrige Hütte, die gleichsam auf demselben Platze zusammengeschrumpft war, auf dem unser erstes Heim gestanden hatte. Sie schien sich auf der alten Stelle zusammengekauert zu haben, als hätte Armut und Not sie im Laufe der Jahre gezwungen, sich so klein zu machen. Wir standen eine Weile schweigend, als müßten wir erst Atem schöpfen. »Georg,« sagte Elsa, »was ist das?« Ich brauchte bloß auf die alten Eichen zu weisen, die ringsumher standen. Ihre Äste trugen schwarze Zeichen, und ihre Rinde war versengt. Ich wies ihr den rußgeschwärzten Grundstein, das kleine Gärtchen, das verwildert war, und einen Haufen alter Holzbalken, der quer über dem Grasplatz lag. Sie waren verbrannt und verkohlt, verfault und verwittert. Das war alles, was von unserem ersten Heim übrig war. »Hier ist eine Feuersbrunst gewesen«, sagte ich. Und meine Stimme zitterte. »Verbrannte Stätten.« Als hätten wir uns beide zusammengehörig mit jenem kleinen Fleck Erde gefühlt, den wir seit vielen Jahren nicht wiedergesehen, wurden wir nun von einem ganz neuen Interesse ergriffen, nämlich zu erfahren, was geschehen war, was diese unsere Glücksinsel so verwandelt hatte, daß sie für uns halb unkenntlich geworden war. Dieses Interesse verscheuchte gewissermaßen die ganze Welt der Träume, die uns bis dahin umfangen gehalten, und erweiterte unsere Gefühlswelt dahin, auch das Leben derer zu umfassen, die hier draußen gelebt und gelitten, gearbeitet und gestrebt und die die Jahre so hart geformt und gemodelt hatten, daß keinerlei Glücksträume ihnen mehr die harte Wirklichkeit vergoldeten. Und während sich unsere Gedanken diesen Menschen zuwendeten, deren wir früher nur als eines notwendigen Anhängsels unserer eigenen Freude gedacht hatten, öffnete sich die Tür der Hütte, und in dem Sonnenlicht, das über die Stufe fiel, stand ein gebücktes, altes Mütterchen und blinzelte uns mit einem wiedererkennenden Lächeln zu. Sie sah so alt aus, daß sie geradeswegs einem alten Märchen entstiegen schien, sie war auf einen Stock gestützt, und das runzlige Gesicht verzerrte sich schmerzlich, als sie ihren gichtbrüchigen Körper bewegte. »Das sieht jetzt anders aus, als wie die Herrschaften das letztemal da waren ...«, sagte die Alte. Und indem sie sich mühsam vorwärts bewegte, kam ein alter Mann zum Vorschein, der, seiner Gewohnheit treu, im Hintergrunde gestanden hatte, bis die Reihe an ihn kam. Die beiden Alten begrüßten die beiden, die sich eben jung geträumt, und der Greis rieb sich die Hände, hustete und murmelte unverständliche Worte, wahrend er langsam und bedächtig auf der Schwelle Platz machte, über die die Alte die beiden Reisenden einlud einzutreten. Durch das Skelett einer unvollendeten Veranda sahen wir hinaus auf die Fjorde und Sunde unserer Jugend. Vernachlässigt war der Garten, verfallen schien das ganze neue Haus, das Gras überwucherte die Wege, die wir einst gegangen, und in der Laube unten am Strande faulten Tische und Bänke, weil niemand gut machte, was Wind und Wetter zerstörten. Ohne daß wir zu fragen brauchten, erzählten die beiden Alten, wie das Unglück über sie gekommen war. Die Frau erzählte, und der Mann wiederholte bekräftigend ihre Worte. Und das Unglück war so hinterlistig und unerwartet hereingebrochen, daß niemand ihm Widerstand leisten und niemand helfen konnte. Denn an einem Frühlingstag im März, als der Nordwind frisch blies und das Eis zwischen den Inseln weder trug noch brach, war das Feuer ausgebrochen. Und weil das Eis weder trug noch brach, hatten die Nachbarn ringsumher auf dem Lande gestanden und das Ganze angesehen, ohne ihnen zu Hilfe kommen zu können. Die beiden Alten hatten allein weggetragen, was sie aus dem brennenden Hause retten konnten; und machtlos danebenstehend sahen sie ihr Eigentum zu Asche verbrennen. Mit dieser Asche, in der sie die letzten Funken erlöschen sahen, erlosch ihnen auch jede Hoffnung auf ein sorgenfreies Alter. Denn niedrig war das Haus, das sie nach langen Jahren auf dem Grund des alten aufgebaut. Gering war der Hausrat. Dürftig die Umgebung. Und sie selbst gebrochen und müde. Ein einziger Unglückstag hatte alles genommen, was frühere Jahre aufgebaut. Wie von demselben Schicksal gebeugt saßen die beiden da, die sich eben jung geträumt, und lauschten den schweren, kargen Worten, in denen die Alten von dem Feuer erzählten, das ihr Haus verödet hatte. Gerade das ergreifend Alltägliche dieser Darstellung, unterbrochen von bedeutungslosen Einzelheiten, vermischt mit den Armeleuteerinnerungen an Hab und Gut, das zugrunde gegangen, drückte die Gäste zu Boden, entkleidete unsere eigenen Träume der Pracht der Illusion und ergriff uns mit stiller,...