Buch, Deutsch, 488 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 604 g
Integrationsfirmen und Behindertenwerkstätten zwischen Markt- und Sozialorientierung
Buch, Deutsch, 488 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 604 g
ISBN: 978-3-593-50275-5
Verlag: Campus
Intellektuell und psychisch beeinträchtigte Menschen werden am Arbeitsmarkt stark benachteiligt. Für die Ersteren wurden in den 1960er-Jahren Werkstätten für behinderte Menschen gegründet, für die Letzteren in den 1980er-Jahren Integrationsfirmen für psychisch Kranke. Manfred Gehrmann zeigt, dass beide Teilhabeformen am Arbeitsleben marginale Arbeitsorganisationen darstellen, die ständig das Spannungsverhältnis zwischen Markt- und Sozialorientierung ausbalancieren müssen. Unter Berücksichtigung des soziologischen Konzepts der Marginalität und seiner aktuellen sozialtheoretischen Diskussion wird die Geschichte der stetigen Verbreitung von Werkstätten und
Integrationsfirmen rekonstruiert.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Arbeit/Sozialpädagogik Soziale Arbeit/Sozialpädagogik: Kranken-, Alten- und Behindertenhilfe
- Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftssektoren & Branchen Sozialwirtschaft
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Invalidität, Krankheit und Abhängigkeit: Soziale Aspekte
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort 9
1. Einleitung: Zum Spannungsverhältnis zwischen der Ökonomisierung von sozialen Dienstleistungen und der aktuellen Inklusions-Emphase 11
1.1 Integrationsfirmen und Werkstätten für behinderte Menschen als marginale Arbeitsorganisationen im chronischen Zwiespalt zwischen Markt- und Sozialorientierung 13
1.2 Die sozialpolitische Forderung nach mehr "Inklusion" unter den Bedingungen voranschreitender "Exklusion" 22
1.3 Die Umsetzung von Inklusion als Testfall für "gesellschaftliche Selbststeuerung" im Sinne von Amitai Etzioni 28
1.4 Ausblick 31
2. Sozialtheoretischer Bezugsrahmen: Zur Bewältigung von marginalen Situationen im Lebenslauf 35
2.1 Die Zweck-Mittel-Relation in der soziologischen Handlungstheorie 35
2.2 Inspirationsquellen von Robert Parks Konzept der Marginalität 43
2.3 Das psychologische Konzept der Ambivalenz 56
2.4 Zur frühen Chicago School of Sociology 57
2.5 Marginalität, sozialer Wandel und die Konflikttheorie 68
2.6 Ausgewählte interaktionistische Beiträge zur Rehabilitationssoziologie 78
2.7 Gesellschaftliche Individualisierung im "Zeitalter der Kontingenz" 89
3. "Zwischen den Welten" - Die Firmen für psychisch Kranke der achtziger Jahre 98
3.1 Die Firmen für psychisch Kranke als ungeplante Nebenfolge der Psychiatriereform 102
3.2 Marginalität bei Psychiatern 123
3.3 Die Verringerung der "sozialen Distanz" zwischen Beschäftigten mit und ohne Behinderung in Firmen für psychisch Kranke 126
3.4 Die erste Annäherung an den allgemeinen Arbeitsmarkt 130
3.5 Das Konzept der "sozialen Welten" bei Tamotsu Shibutani und Anselm Strauss 135
4. Das Konzept der Marginalität: Zwiespältige Identität als Folge von doppelter und partieller Assimilation 141
4.1 Zur begrifflichen Präzisierung des Marginalitätskonzepts 141
4.2 Zur Ausweitung des Marginalitätskonzepts auf Kollektive, Institutionen und Organisationen 147
4.3 Aktuelle Beispiele von Marginalität in Deutschland 153
4.4 Analysen des Zusammenhangs von Marginalität und Behinderungen bei vier Autoren 158
4.5 Marginalität bei intellektuell beeinträchtigten Menschen 178
5. Behinderte Menschen auf und vor dem allgemeinen Arbeitsmarkt 203
5.1 Das System von Beschäftigungspflichtquote und Ausgleichsabgabe und die Grenzen seiner Wirksamkeit 203
5.2 Mobbing am Arbeitsplatz als Folge oder Ursache von Behinderungen 221
5.3 Psychisch beeinträchtigte Menschen 229
5.4 Intellektuell beeinträchtigte Menschen 241
6. Die Assimilation der Integrationsfirmen an den allgemeinen Arbeitsmarkt 276
6.1 Die Erschließung zusätzlicher Geschäftsfelder 278
6.2 Die offizielle Anerkennung als Teil des allgemeinen Arbeitsmarktes 283
6.3 Marginalität bei Beschäftigten von Integrationsfirmen 286
6.4 Übergänge von behinderten Beschäftigen aus Integrationsfirmen in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes 327
7. Werkstätten für behinderte Menschen als marginale Arbeitsorganisationen 334
7.1 Zur Geschichte der Werkstätten 335
7.2 Die steigende Relevanz der Funktion der Werkstätten als Auffangbecken für die am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht (mehr) Konkurrenzfähigen 346
7.3 "Abkühlung" als Voraussetzung der Werkstattmitgliedschaft 364
7.4 Marginaliät bei Werkstattbeschäftigten 372
7.5 Ausgelagerte Werkstattarbeitsplätze als potenziell marginale Positionen 379
7.6 Marginalität beim nicht behinderten Werkstattpersonal 386
7.7 Eine kritische Gesamtbetrachtung der Werkstätten 389
8. Die gegenseitige Annäherung von Integrationsfirmen und Werkstätten 397
8.1 Der steigende Anteil von psychisch beeinträchtigten Menschen in Werkstätten 397
8.2 Der sinkende Anteil von psychisch beeinträchtigten Menschen in Integrationsfirmen 410
8.3 Ausgründungen von Integrationsfirmen aus Werkstätten 413
8.4 Der hohe Anteil von schwerbehinderten Beschäftigten in vielen Integrationsfirmen 416
9. Personen und Betriebe in marginalen Situationen: Zusammenfassung und offene Fragen 421
9.1 Zur sozialtheoretischen und gegenwartsdiagnostischen Einordnung des Konzepts der Marginalität 421
9.2 Behinderte Personen in marginalen Situationen 430
9.3 Marginale Arbeitsorganisationen 437
9.4 Offene Fragen und Probleme 445
Literatur 454
1. Einleitung: Zum Spannungsverhältnis zwischen der Ökonomisierung von sozialen Dienstleistungen und der aktuellen Inklusions-Emphase
Der im August 2013 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) herausgegebene Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen nennt zum Auftakt folgende Zahlen: "Über 7 Millionen Menschen gelten in Deutschland als schwerbehindert, rund 17 Millionen Menschen im Alter von über 18 Jahren leben mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder chronischen Krankheiten, die sie im täglichen Leben einschränken. Das sind jede vierte Frau und jeder vierte Mann." (BMAS 2013: 7) Die Teilmenge der als schwerbehindert anerkannten Personen entspricht 9 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von etwa 82 Millionen (Statistisches Bundesamt 2013: 121). Dies ist absolut und prozentual ein deutlicher Anstieg seit der deutschen Wiedervereinigung. Ende 1991 betrug die Zahl der Schwerbehinderten noch 5,4 Millionen (Statistisches Bundesamt 1993: 519), was einem Anteil an der Bevölkerung von 6,6 Prozent entsprach. Nach der Definition im Neunten Sozialgesetzbuch Paragraph 2 Absatz 1 sind Menschen behindert, "wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist". Eine "Schwerbehinderung" hat, wer einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt stellt und von diesem einen Grad der Behinderung von mindestens 50 bis maximal 100 zuerkannt bekommt. Im Jahr 2011 lebten in Deutschland nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA 2013: 3) 3,27 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter.
Mehr als die Hälfte der Schwerbehinderten - knapp vier Millionen - sind 65 Jahre oder älter. Darin schlägt sich nieder, dass gesundheitliche Probleme mit voranschreitendem Alter zunehmen. Einzelne Beeinträchtigungen können sich während des Lebenslaufs kumulieren, bis der für die Schwerbehinderteneigenschaft erforderliche Grad der Behinderung von 50 erreicht ist. Das Statistische Jahrbuch 2013 nennt als die Ursache der schwersten Behinderung gut 300.000 angeborene Behinderungen (= 4,3 Prozent; Statistisches Bundesamt 2013: 121). Die allermeisten Behinderungen werden erst zu späteren Zeitpunkten im Laufe des Lebens erworben. Mehr als die Hälfte der amtlich anerkannten Schwerbehinderungen stellen mit gut 3,9 Millionen die verschiedenen körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen (ohne Sinnesbehinderungen). Als Behinderungsursache wird für gut sechs Millionen Fälle eine "allgemeine Krankheit" genannt (ebd.). Die meisten Schwerbehinderten sind demnach chronisch Kranke. Der Anstieg der Zahl der Schwerbehinderten geht also in erster Linie darauf zurück, dass der Anteil der chronischen gegenüber den akuten Krankheiten ansteigt. Doris Schaeffer schreibt, dass im Jahr 2006 schon 44 Prozent der gesetzlich Versicherten und 36,5 Prozent der privat Versicherten unter einer chronischen Erkrankung litten (2009: 7). Die höhere Quote der gesetzlich gegenüber den privat Versicherten ist ein weiteres Indiz für den lange bekannten Sachverhalt, dass die unteren Sozialschichten von chronischen Krankheiten weit häufiger betroffen sind als der Bevölkerungsdurchschnitt. Dieser Zusammenhang mit der sozialen Schichtung ist seit den siebziger Jahren auch für andere als körperliche Behinderungsarten bekannt. So weist etwa Walter Thimm in seinem Buch Mit Behinderten leben (1977: 52) darauf hin, dass die Schüler der Sonderschulen für Lernbehinderte "fast ausschließlich aus unteren sozialen Schichten" stammen. In weniger stark ausgeprägtem Maße trifft dies auch auf seh- und hörbehinderte Schüler/innen zu (ebd.: 62-70).
1.1 Integrationsfirmen und Werkstätten für behinderte Menschen als marginale Arbeitsorganisationen im chronischen Zwiespalt zwischen Markt- und Sozialorientierung
Von den gut drei Millionen Schwerbehinderten im erwerbsfähigen Alter nimmt nur etwa die Hälfte am Arbeitsleben teil. Laut dem Teilhabebericht erhielten im Jahr 2010 knapp 1,6 Millionen Menschen Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (BMAS 2013: 131). Eine Erwerbsminderung oder -unfähigkeit ist in den meisten Fällen mit der Anerkennung der Behinderteneigenschaft verbunden. Im Jahr 2010 gab es gut 1,2 Millionen schwerbehinderte Erwerbspersonen (abhängig Beschäftigte und Arbeitslose). Von diesen waren ungefähr 175.000 arbeitslos (ebd.: 142) und gut eine Million in Beschäftigung (ebd.: 134).
In den amtlichen Angaben über die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten werden irreführender Weise die ihnen rechtlich "gleichgestellten" Personen mitgezählt. Eine Gleichstellung erfolgt auf Antrag der betroffenen Person durch die Arbeitsagentur. Die rechtlichen Grundlage dafür ist Paragraph 2 Absatz 3 des Sozialgesetzbuches IX, der besagt: "Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, "[…] wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz […] nicht erlangen oder nicht halten können […]." In diesem Text wird der Ausdruck Behinderte als Bezeichnung für das gesamte Spektrum der Menschen mit einem amtlich anerkannten Grad der Behinderung verwendet, schließt also die Schwerbehinderten mit ein. Das ist im formal-logischen Sinne korrekt, im Unterschied zur üblichen umgekehrten Praxis, von der Teilmenge der Schwerbehinderten zu reden und eigentlich eine größere Menge zu meinen, in der auch die "nur" Gleichgestellten mit eingeschlossen sind.
Zu den arbeitenden Behinderten gehören außer denjenigen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch gut 300.000 Beschäftigte in 684 Werkstätten für behinderte Menschen (im Folgenden: Werkstätten). Diese Werkstattbeschäftigten haben nur ein (erst seit 1996 rechtlich kodifiziertes) "arbeitnehmerähnliches" Verhältnis zur Werkstatt und sind damit keine Erwerbspersonen. Sie gelten im Sinne von Paragraph 43 Absatz 2 Sozialgesetzbuch VI als "voll erwerbsgemindert", da sie "wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein". Gleichwohl arbeiten die meisten Werkstattbeschäftigten in Vollzeit, wobei sie im Jahr 2010 im Durchschnitt ein monatliches Entgelt von 180 Euro erzielten.