Gauß | Der Alltag der Welt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Gauß Der Alltag der Welt

Zwei Jahre, und viele mehr
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-552-05749-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zwei Jahre, und viele mehr

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-552-05749-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Alltag: voller Wunder und Zumutungen. Die Welt: ein Ort, der noch zu entdecken ist. In seinem neuen Buch, einem persönlichen Tagebuch zur Zeitgeschichte, nimmt uns Karl-Markus Gauß mit in eine literarische Schule des Staunens. Vom Mai 2011 bis ins Frühjahr 2013 ist der Bogen dieser Gegenschrift zum Zeitgeist gespannt. Die erzählerischen Miniaturen, philosophischen Anmerkungen, historischen Anekdoten, die literarischen Porträts, politischen Widerreden und autobiografischen Entwürfe führen den Autor jedoch weit über diese Zeit hinaus. Ein mitreißendes Dokument geistiger Unabhängigkeit und schöpferischen Eigensinns.

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  Zwischenstück 1   Vom Verschwinden in der Literatur   Dieses merkwürdige Zwielicht in der Prosa von Patrick Modiano! Seine Figuren sind grüblerisch damit beschäftigt, ein Ereignis, das weit zurückliegt, zu ergründen, doch was sie entdecken, droht ihnen gleich wieder zu verschwinden oder zu verschwimmen, Klarheit erlangen sie nie, und Klarheit erlangen auch die Leser nicht. Modiano nimmt sie mit auf eine Suche, in der alles Unsichere unsicher bleibt und sich mit Deutungen auflädt, die bald darauf wieder erlöschen. Ein Mann erinnert sich, dass er einst durch einen Unfall gerettet wurde. Eines Nachts vor dreißig Jahren war er von einem Auto gestreift worden. Als er ins Krankenhaus gebracht wird, fehlt ihm der linke Schuh, und während er im Spital auf dem Behandlungstisch liegt, den betäubenden Äther riecht, sich vom rätselhaften Blick der Unfalllenkerin verwirren lässt, fällt ihm ausgerechnet er wieder ein: Die Vorstellung, der Schuh würde die ganze Nacht auf dem Trottoir liegen, stimmt ihn traurig, als würden auch die Dinge einsam sein können und es verdienen, bedauert, betrauert zu werden. Es war dieser Schuh, wie ihn Modiano als Inbild der Verlassenheit zeigt, der mich in der Lektüre innehalten ließ und mich an einen Vormittag erinnerte, als ich ein Volksschüler war und morgens auf dem Weg zur Schule zu einer Kreuzung kam, von der gerade das Opfer eines Unfalls mit dem Rettungswagen weggebracht wurde. In der Mitte der Kreuzung lag ein blaues Moped, das ein Polizist aufstellte, über die Straße schob und an eine Hausmauer lehnte. Dort stand es, verbogen und kaputt, und dieses Moped, dessen Besitzer gerade ins Spital gebracht wurde, brannte sich mir als Bild namenloser Einsamkeit ein, einer Einsamkeit, die nicht nur das Gerät betraf, das nun verwaist war, sondern auch den, dem es gehörte. In Modianos Roman »Unfall in der Nacht« wird der junge Mann bald aus dem Krankenhaus entlassen, dann humpelt er tage- und nächtelang durch die Straßen von Paris, und wenn er durch die Straßen zieht, spricht er sich deren Namen vor wie Zauberworte, die ihn auf die Spur jener Frau bringen sollen, die ihn angefahren hat und die er doch als seine Retterin empfindet. Die Straßen von Paris und die Sehnsucht – sie sind das eigentliche Metier Modianos, der die zauberische Fähigkeit besitzt, den Stadtplan von Paris so wiederzugeben, dass er als magische Beschwörung anmutet, die Namen der U-Bahnstationen und Straßen, die er aneinanderreiht, sind Verheißungen, dass das Leben ein Geheimnis ist, das nicht verraten werden will. Der Mann glaubt, ein Rätsel lösen zu wollen, aber vielmehr geht es für ihn wie für uns darum, das Leben wieder als Geheimnis zu entdecken und die Welt als jenes Wunder zu erfahren, von dem wir vergessen haben, dass es eines ist.   Eine Erinnerung an das Staunen, das sind die wunderlichen und wunderbaren Miniaturen, die David Albahari seit dreißig Jahren verfasst. Es geht in diesen Prosastücken, von denen die längsten nicht mehr als eine Seite umfassen, um das Staunen, dass wir die Welt noch nicht gesehen haben, wie sie ist, um die Dinge des Alltags, denen die Achtsamkeit des Autors gilt, um den Glanz, der mit einem Mal auf unscheinbaren Gegenständen liegt. Und darum, dass alles, was beschrieben wird, seinen Charakter verändern kann, sodass das Unansehnliche zu leuchten und das Gefährliche zu locken beginnt, das Verbriefte feindselig erscheint, das Unerhörte gewöhnlich. Als ich David Albahari kennenlernte, war er, der so etwas wie der Popstar der serbischen Literatur gewesen ist, gerade dabei, sich neu zu entwerfen, nicht aus freien Stücken, aber aus freier Entscheidung, das zu tun, wovon er überzeugt war, dass es die historische Stunde von ihm verlange. Ein großer Ernst war um den schmalen Mann mit den feinen Gesichtszügen, den schmalen Lippen und den dunkel schimmernden Augen, mit denen er mich mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete. Es war ein Bahnhof, an dem wir uns trafen, damals, als Abertausende Jugoslawen sich aufmachten, ihr Land zu verlassen. Heimatlos waren durch den Krieg gerade auch die Juden geworden, die sich seit jeher als Boten zwischen den jugoslawischen Nationalitäten verstanden hatten und nun die rasch sich bildenden Nationalstaaten in großer Zahl verließen, weil an ihnen, den Boten, kein Bedarf mehr bestand in Staaten, die sich gegenseitig in nationalem Stolz zu übertreffen versuchten. Damals entschloss sich Albahari, dem eine solche Idee in friedlichen Zeiten niemals gekommen wäre, Vorsteher der zerfallenden Jüdischen Gemeinde von Belgrad zu werden. Ein paar Jahre später gab er selber auf und emigrierte nach Kanada, möglichst weit weg von Jugoslawien, das er als seine Heimat entdeckte, just als es in einem blutigen Krieg zerfiel, einem Krieg, vor dem er nun floh und dessen versprengte Zeugen, versehrte Opfer ihn doch überall erwarteten, wohin er kam. Ein paar Jahre, nachdem er auf einen anderen Kontinent übersiedelt war, saß ich im verrauchten Foyer der Jüdischen Gemeinde von Sarajevo in einem Kreis alter Männer, die, als würden sie jeden Augenblick damit rechnen, zur Ausreise aufgerufen zu werden, ihre Mäntel nicht ablegten; sie waren Nachkommen jener Sepharden, der spanischen Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts von einem gnadenlos katholischen König vertrieben wurden und sich, von einem weisen Sultan dazu eingeladen, in Sarajevo ansiedelten und dort ihr »chico Yerusalaim« erschufen, ihr kleines Jerusalem. Einer der Alten fiel mir auf, weil er unter den schweigend vor sich hin brütenden Rauchern mit einem verschmitzten Lächeln saß und unentwegt sprach. Er war ein pensionierter Oberst der jugoslawischen Luftwaffe, hieß Moshe Albahari, behauptete auf meine Frage, der Onkel des Schriftstellers zu sein (was diesen, als ich es ihm erzählte, verwundert dreinschauen und dann ratlos die Schultern zucken ließ), und sagte, er wolle sich, weil er schon viel älter sei als sein Neffe, zum Unterschied von diesem nicht mehr mit der Vergangenheit, nur mehr mit der Zukunft beschäftigen. Tatsächlich hat die Erinnerung an Jugoslawien, von der der Mann, der sich als sein Onkel ausgab, nichts mehr hielt, David eine Reihe grandioser Romane verfassen lassen, die die historischen Verwerfungen Serbiens und die persönlichen Niederlagen seiner Bewohner in einer unerbittlich genauen, schmerzwachen Prosa erkunden. Aber er hat nicht nur beklemmende und verstörende Romane wie »Götz und Meyer«, »Mutterland« oder »Die Ohrfeige« veröffentlicht, sondern all die Jahre auch schwebend leichte Kurzprosa geschrieben. Diese Miniaturen sind, wiewohl über einen Zeitraum von dreißig Jahren entstanden, aus einem Guss; was immer aus seinem Land seither geworden und Albahari selbst widerfahren ist – seinen »Kurzen Geschichten und dauerhaften Wahrheiten über Liebe, Traurigkeit und den ganzen Rest« merkt man die politischen und biografischen Brüche nicht an. Der Ton, den er, seit Jahren von einer schweren Erkrankung geplagt, die seine Gesichtszüge erstarren, seinen schmalen Körper nahezu unbeweglich werden ließ, heute anschlägt, ist derselbe, den wir in den Geschichten vernehmen, die Albahari schrieb, als er jung, populär und gesund und Jugoslawien noch nicht in einem blutigen Krieg zerfallen war. Keinen Unterschied akzentuiert er auch zwischen existentiellen, psychologischen, ästhetischen, philosophischen Erfahrungen und Einsichten: In seinen kleinen Prosastücken nimmt er vielmehr die ganze Welt als zerfallene Einheit wahr, in Form von Scherben, von denen eine jede das Ganze enthält. Einige Geschichten bestehen nur aus wenigen Sätzen: »Manchmal bin ich so müde, dass ich im Stehen, mit offenen Augen, einschlafe. Sobald ich sie schließe, werde ich wach.« Die meisten haben ein alltägliches Vorkommnis, ein wiederkehrendes Gefühl, eine wenig aufregende Beobachtung zum erzählerischen Anlass; und fast alle kippen von einem Satz zum anderen, mitunter von einem Wort zum nächsten, sodass das Alltägliche als etwas Besonderes erscheint, das Wiederkehrende einzigartig anmutet und das Unaufgeregte dramatische Formen annimmt. »Am Abend, während die Schatten wachsen, wächst auch die Angst des Jungen, und sie wird immer stärker trotz der Stimme, die unter seinem Bett ständig wiederholt: Keine Angst, Junge, du bist nicht allein, du bist überhaupt nicht allein.« Die paradoxe Geschichte, dass der begütigende Zuspruch von dort kommt, wo das Unheil droht, könnte auch von Franz Kafka notiert und seinen »Zürauer Aphorismen« eingegliedert worden sein, so rigoros ist hier alles Überflüssige ausgespart. Albahari umspielt die Leerstellen seiner Anekdoten, das macht sie doppelbödig, schauerlich, witzig, mitunter geradezu romantisch: »Von allen Erzählungen, die ich nicht geschrieben habe, mag ich am liebsten die, in der ein Junge und ein Mädchen auf einer Parkbank sitzen, sich an den Händen halten und schweigen.«   Als 1976 in Argentinien die Generäle putschten, verließ mit vielen anderen auch der Dichter Juan Gelman sein Land und ging nach Mexiko. Sein zwanzigjähriger Sohn und seine Schwiegertochter wurden in Buenos Aires auf offener Straße entführt und ermordet: erschossen und einbetoniert der Sohn, die hochschwangere Frau nach Uruguay verschleppt und dort, kaum dass sie ihr Kind geboren hatte, getötet. Nach seiner Flucht, in der »äußersten Einsamkeit des Exils«, hat dieser jüdische Intellektuelle, der politisch immer eine Galionsfigur der Linken war, literarisch etwas höchst Merkwürdiges unternommen. Während ihn die Diktatur nötigte, ihr in Pamphleten und Aufrufen publizistisch entgegenzutreten, eignete er sich dichterisch das alte Spanisch des 16. Jahrhunderts an. Zwei heute legendäre Gedichtbände zeugen von dem Dialog, in den der lateinamerikanische Exilant mit der in Zeit...


Gauß, Karl-Markus
Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon (1997), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2010) und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2022). Bei Zsolnay erschienen zuletzt Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (2019), Die unaufhörliche Wanderung (2020) und Die Jahreszeiten der Ewigkeit (2022).



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