Gaudin | Nur die Wahrheit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 193 Seiten

Reihe: Lenos Polar

Gaudin Nur die Wahrheit

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-85787-998-2
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 193 Seiten

Reihe: Lenos Polar

ISBN: 978-3-85787-998-2
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Émile Blanchard, ein ehemaliger Kommissar, überquert jeden Morgen mit geschlossenen Augen die Nationalstraße. Ein Ritual, um eines Tages überfahren zu werden und endlich seinem Leben zu entkommen. Seit dem Tod seiner Frau ist er einsam und verbittert, den Sohn sieht er nur noch gelegentlich. Zudem hadert er mit seinem Unvermögen, denn sein letzter schwieriger Fall blieb ungelöst: drei vergiftete Opfer, denen die Zunge abgebissen wurde - ein schrecklicher Serienmord an zwei Biologen und einem Mathematiker. Zwei von ihnen arbeiteten im selben Forschungslabor, zusammen mit einer jungen Biologin, die beste Beziehungen in einflussreiche Kreise unterhielt ...

"Nur die Wahrheit" ist ein facettenreicher Roman noir, der mit den Grenzen des Genres spielt. Yves Gaudin tanzt aus der Reihe und spitzt zu, er würzt mit einer gehörigen Portion Sarkasmus und einer rhythmischen, atemlosen Sprache. Eine bösartig-schräge Reflexion über den Zustand des Menschen.

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1
Paris wellt sich unter der Hitze. Alle ersticken, kriegen schlecht Luft. Die Neugeborenen schreien nicht mehr, die Alten setzen aus. Der Sommer kommt mit aller Kraft. Und ich warte vorm Cimetière de Belleville, 20, Rue du Télégraphe. Es gibt Schlimmeres ortsmässig, aber na ja, schon ganz schön traurig. All die Gräber, wie sie daliegen, kalt, gnadenlos, und darin Skelette, Kadaver, betreten oder bald schon, morgen, nächste Woche, verwest, vermodert, verdorben, Tattoos auf den Schenkeln, Stecker in den Ohren oder Ringe in der Nase, eine Manie, wie die Hunde, wie die Ochsen, was tut man nicht alles für ein bisschen Extravaganz, Zahnplomben und Metallplatten, Schrauben im Arm, Stifte im Knie und Schrittmacher im Herzen. Medizin ist Mechanik! Und all die Körper, vorher waren sie feist, all das Fett, all die Schmerbäuche, all die Sonntagsspeckpolster, all die Wabbelkinne, na, die schmeckt Ihnen wohl, meine Sauce, Sie nehmen doch noch was, all die Komplexe, die den Niedergeschlagenen des Glücks so viel Kummer machen, Schlacken und Hässlichkeit, die Füsse quellen auf, den Zähnen zieht’s die Schuhe aus, Verräter und Soldaten, Verrückte und Verbrecher, Metzen und Zecher, Diebe und Spinner, finstere Gestalten und empörte Apostel, solche, die das Leben mit Weihrauch und Myrrhe verwalten, mit Lippenstift und Lidschatten Träume aufstecken, sich mit Farbe im Haar und Parfum am Hals eindecken, mit Öl und Glanz ihr Äusseres vernebeln, da sind sie nun, genauso wie sie sind, zu Asche zerfallen, zu nichts, ab in die Krypta, in die Versenkung, alle gleich, sterben Sie wohl, Madame. Sie waren Lehrer, Akademiemitglied, Pamphletist, Trapezkünstler, Krankenwärter oder Apotheker, einerlei, das zählt nicht mehr, müssen alle dran glauben, adieu, Kalb, Kuh, Küken, Schwein, und magst du auch die Queen von England sein. Tolle Sache, das Leben! Da hat sich der ganze Aufwand ja wirklich gelohnt! Viel Lärm um nichts. Jetzt nur noch Brei, Moder, Pilze für die Maden! Ein Kreuz und vorbei, reden wir nicht mehr davon, oder kaum noch, oder schlecht, man kann es nicht mehr sagen. Er ist zu spät. Das kann ich nicht leiden. Die Manieren gehen vor die Hunde. Zumal das schon zum zweiten Mal passiert. An seiner Stelle stellt sich Müdigkeit ein. Gut, ich hab bis in die Nacht über dem Fabergé-Bericht gesessen, nur noch diesen Fall im Kopf, schmutzig, pervers. Wer arbeitet, kann nicht geniessen, nie. Und dann denke ich an meine erste Zeit bei der Polizei. Man hatte mich nach Lille versetzt. Keine Ahnung, warum. Der Norden war wie eine Strafe, viel zu kalt für mich. Das wussten die auch. In dem Winter hätte ich viel darum gegeben, dass man mir Arme, Füsse und Kopf amputiert wie der Lerche im Lied, O du Lerche, rupfen will ich dich! Wie im Halbschlaf, die Kaffeemaschine im Stand-by. Man konnte mich zwicken, zwacken und piesacken, nichts zu machen, ich hielt Winterschlaf, ehe ich sterben würde. Der Chef hatte nichts als französische Chansons im Kopf. Ein Leierkasten. Ein Sängerknabe. Den ganzen Tag trällerte er Zweigroschenwahrheiten in seinen Dreitagebart. In Dauerschleife, zum Verrücktwerden. Die Kälte glitt über ihn hinweg. Die Lächerlichkeit auch. Obwohl er im Grunde kein schlechter Kerl war. Schade, dass ein leichtes Schielen ihn sowohl lächerlich als auch unheimlich wirken liess, sonst hätte er sicher Freunde gefunden. Womöglich eine Frau. Dort, aus Schweiss und Verlangen, omnipotent und inkompetent, eine Schnecke an jeder Ecke und in zarter Spitze, traf ich Marianne. Man muss sie gesehen haben, ihre heidnischen Reize und tödlichen Sünden, die sonnengebräunten Schenkel und das provokante Wesen, Sommersprossen auf dem Rücken und Gelüste auf der Vorderseite. Ich glaube, dass man mich ein wenig beneidete. Genau das gefiel mir. Sie war Sängerin, aber nicht wie der Chef. Sie sang ihre Arien am Konservatorium. Eines Abends sogar in der Oper, erzählte man mir. Wir wärmten uns auf, so gut es ging. Mit den Armen, die wir hatten. Und mit dem Mund. »Kommst du aus dem Süden?« »Nein, aus Paris. Warum?« »Weil dir immer kalt ist.« »Das liegt am Zug.« »Bist du so oft Métro gefahren?« Anfangs gab es Missverständnisse. Das schoben wir auf die Leidenschaft, die Dummheit, die Jugend. Jede Ausrede gilt! Aber dann mischte sich das Leben ein. Und nicht sehr geschickt. Oder vielleicht wollte ich auch nicht Lust gegen Liebe tauschen. Ich weiss nicht, schwer zu sagen. Der Alltag kotzte mich an. Ihre Freundlichkeit passte mir nicht. Als sie begriffen hatte, dass ich nicht lange bleiben würde, gab es ein tüchtiges Drama, das hätte ich ihr doch früher sagen können, so was macht man doch nicht, unglaublich, da bin ich dir ja schön auf den Leim gegangen …! Sie machte mir hysterische Szenen, sprach vom geplanten gemeinsamen Urlaub, von ihrem Leben, das endlich einmal einen Sinn hatte. Sie beschrieb mir, wie sie Seezunge Müllerin zubereitete, es sei am besten, wenn man zum Abziehen der Haut den Schwanz in heisses Wasser tauche, das würde sie mir jeden Freitag kochen. Aber ich hab doch nichts versprochen! Gar nichts! Fehlte nur noch, dass sie mir mit Heiraten kam. Das wäre auch passiert, ganz klar. Eine Frage von Tagen. Vielleicht morgen, was will man noch gross überlegen, wenn man sich sicher ist! Man muss sich trauen! Komm, mein Émile! Ihr Loch war ihr zu Kopf gestiegen. Drinnen brodelte es. Wie fixe Ideen. Das hinderte sie am Denken. Eines Abends hatte sie ein Herz gezeichnet, das könnten wir uns doch auf den Arm tätowieren lassen, sie auf den linken, ich auf den rechten. Ha, ich würde jetzt schön blöd aussehen, ein Stück von ihr auf mir drauf. Das Leben ist zu kurz für ewige Beweise. Grossmanöver waren einfach, ich nahm mir ihre Knospe vor, knetete ihre Apfelsinen, liebkoste ihre Schleusen, das ging einwandfrei. Vom Apfel habe ich gekostet, o ja. Bei allem anderen machte man mir lieber nicht zu viel Druck. Ich könnte sagen, es lag am Nebel, der alles verdeckte, ihre Formen umhüllte und mir die Augen versenkte, aber in Wirklichkeit war sie nur ein Zeitvertreib. Ich erwiderte, dass ich gern Paimpol und die Klippe besichtigen wolle. Und Piräus. In Wirklichkeit glaubte ich keine Sekunde daran. Vielleicht ist es das, wonach man im Leben sucht, wie viel Arschloch in einem steckt, damit man endlich weiss, wer man ist. Ertragreicher Betrug! An dem Morgen, als ich ging, sah ich schon die Szene vor mir, hörte, wie mir die Pflastersteine um die Ohren pfiffen. Aber ich masste mir zu viel Bedeutung an. Sie war ja nicht blöd, die Marianne. Sie sagte kein Wort. Nur eisiges Schweigen. Und drehte sich wieder um, vielleicht voller Tränen, aber himmelhoch erhobenen Hauptes. Da guckte ich schön blöd aus der Wäsche. Und dabei war das erst der Anfang. Im Absurden bin ich zu Hause. Ich warte also auf ihn. Trete auf der Stelle. Spreche ihm zweimal auf die Mailbox. Nichts. Keine Antwort. Und da ist er! »Später ging es wohl nicht!« »Schrei nicht so.« »Ach, die haben keine Ohren mehr.« »Um die geht es gar nicht. Komm, hier lang.« Zwei Strassen weiter, bei der örtlichen Kinderkrippe, ist das Molekulargenetische Labor. Das macht was her, der Name. Falls es noch der Sorbonne gehört, es gibt Gerüchte über Privatinvestoren, Amerikaner. Mal sehen. Was mir sofort aufstösst, ist der Geruch. Nach Schwefel, glaub ich. Nach faulen Eiern. Nach Vergorenem. Ich weiss nicht, vielleicht Feuchtigkeit, Schimmel. Also, es stinkt, ich finde kein besseres Wort. Es geht einen langen Gang entlang, der erinnert mich eher an das bläuliche Flimmern öffentlicher Toiletten als an einen Vorposten der Wissenschaft, einer jungen Frau hinterher, um die zwanzig, weisser Kittel und Pferdeschwanz, rechts, links, wie das schwingt, und ihre hohen Absätze, klick klack, das klappert. Im dritten Stock ist das Institut für Seltene Erkrankungen. Eigentlich ist es nicht besonders gross, aber trotzdem, mir wird ganz schlecht, als mir klar wird, wie viele Bakterien und Viren in den Reagenzgläsern, manche in Regalen, manche auf niedrigen Tischen, herumkrabbeln. Lauter »Her-mit-dem-Tod«, eingesperrt in flüssigem Stickstoff und bei niedrigen Temperaturen. Abgepackte Epidemien. Die Schubladen voll mit Infektionen. Lauter Zeitbomben sind das! Und dann die Mäuse, direkt vor uns, widerlich. Am Schädel angebrachte Elektroden, ein Skalpell im Wanst, Hautfetzen an der Flanke, die Eingeweide freigelegt, und sie bewegen sich noch. Anscheinend die Nerven. Unschön, heisst es, aber es erhält die Art. Die Schweine! Die Arschlöcher! »Wie heisst der noch mal?« »Jacques Ambroise. Forschungsleiter. Ein verdammt kluger Kopf.« Mag sein, aber ganz schön verstört. Und knarzig noch dazu. Vor allem eingebildet. Sieht schlecht aus. Und nun stakst er vor uns herum, mit einer Steifheit im Rücken wie ein Totengräber am Grab. »Sie sind also damit betraut, Licht in diese Sache zu...


Yves Gaudin, geboren 1967 im Wallis. Lebte in Südafrika, Burkina Faso, Australien und Frankreich, heute in Sion. Er ist Autor, Doktor der klinischen Psychopathologie, Musiker und Musiktherapeut. Yves Gaudin veröffentlichte Prosa, Lyrik und einen Theatertext. Nach "Trop tard pour mourir" ist "En vérité" sein zweiter Roman.



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