Galsworthy | John Galsworthy: Jenseits - Roman einer Liebe | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 459 Seiten

Galsworthy John Galsworthy: Jenseits - Roman einer Liebe

E-Book, Deutsch, 459 Seiten

ISBN: 978-3-7562-0301-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Im Torgang des Standesamtes von St. Georges blieb Charles Clare Winton einen Augenblick stehen und sah dem Wagen nach, der ihm die Tochter entführte - zusammen mit dem "unmöglichen Geigenkratzer", den sie eben geheiratet hatte. Mißmutig eilte er dann davon, ohne auf den zweiten Trauzeugen, die Kinderfrau Betty, zu warten - nicht aus Hochmut, sondern aus einem gewissen Gefühl für Schicklichkeit und Würde. Die gute, dicke Alte in ihrer aufgewühlten Erregtheit hätte sie beide nur lächerlich gemacht und paßte auch wirklich nicht zu ihm, den seine schlanke Gestalt, die aufrechte Haltung und der leichte, federnde Gang auch heute noch als früheren Reiteroffizier erkennen ließen, obwohl er schon seit sechzehn Jahren nicht mehr aktiv war. 'Die arme Betty', dachte er mitleidig, doch dann wurde er ärgerlich. Daß sie zu guter Letzt noch in Tränen ausbrechen mußte, war zum mindesten recht überflüssig gewesen. Gewiß, jetzt, da Gyp fort war, würde sie sich sehr einsam fühlen, aber doch noch nicht annähernd so einsam, so gottsjämmerlich verlassen wie er selbst. Mit der hellbehandschuhten Linken - die rechte Hand war am Gelenk abgenommen und durch eine künstliche ersetzt - zerrte er nervös an dem kurzgehaltenen, ergrauten Schnurrbart, dessen emporgesträubte Enden die harten Mundwinkel freiließen. Trotz dem trüben Februarwetter trug er keinen Mantel, und zu der völligen, fast beschämenden Unfeierlichkeit dieser Hochzeit paßte es durchaus, daß er nicht einmal schwarzen Gehrock und Zylinder, sondern einen einfachen, blauen Straßenanzug und einen dunklen, steifen Filzhut gewählt hatte. Der heutige Tag war entschieden der schwerste seines ganzen bisherigen Lebens, aber langgeübte soldatische Selbstzucht verbot ihm, sich irgendeine Gemütsbewegung anmerken zu lassen. Nur seine graubraunen Augen verrieten, was in ihm vorging - abwechselnd kniff er sie zusammen oder riß sie weit auf, manchmal wurden sie hart wie von verhaltenem Zorn, und gleich darauf sah es aus, als ob sie müde tief in ihre Höhlen zurücksänken. Sein schmales, hageres, etwas verwittertes Gesicht mit dem energischen Kinn, den kleinen Ohren und den - im Gegensatz zum Schnurrbart - noch dunklen, nur an den Schläfen leicht angegrauten Haaren war das eines klugen, selbstbewußten Tatmenschen. Dabei war er in seinem ganzen Wesen sorgfältig gepflegt, legte überhaupt größten Wert auf äußere Formen, wenngleich er niemals vergaß, daß es auch noch wichtigere Dinge gab. So besaß er alle für seine Gesellschaftsschicht ...

John Galsworthy lebte von 1867 bis 1933 und war ein englischer Schriftsteller.
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2 Wenn Winton auch geglaubt hätte, alle Nebenbuhler bei Gyp ausgestochen zu haben, einer blieb in ihrem Herzen, den er nicht besiegen konnte und dessen Macht er in ihrem vollen Umfang vielleicht zum ersten Male heute erkannte, da sie fern von ihm weilte und er hier vor dem Kaminfeuer der Vergangenheit nachdachte. Wie sollte auch ein Mann von so ausgeprägter Eigenart, dessen Leben bis dahin nur das Waffenhandwerk und Pferde ausgefüllt hatten, begreifen, was die Musik für ein kleines Mädchen bedeuten kann? Daß Gyp Tonleitern lernen mußte, daß »Hänschen klein« und andere, anspruchslose Melodien spielen zu können, in ihren Lehrplan gehörte, war ihm bekannt, aber er hütete sich wohlweislich, in die Nähe ihres Zimmers zu kommen, wenn sie Klavierstunde hatte. Darum wußte er auch nicht, mit welch heiligem Eifer sie stets bei der Sache war, ahnte nicht, daß sie musikalisch bald mehr konnte, als ihre Lehrerin ihr beizubringen vermochte. Er war auch blind gegen das Entzücken gewesen, mit dem sie bei jeder Gelegenheit irgendwelcher Musik gelauscht hatte, den Weihnachtsliedern im Dunkel der Christnacht, den Chorälen und Hymnen in der kleinen Dorfkirche – besonders das »Nunc dimittis« liebte sie – dem Klang der Jagdhörner im regenfeuchten Herbstwald, ja selbst dem Pfeifen Markeys, das seltsam weich und schluchzend war. Ihre Vorliebe für Hunde und Pferde teilte er natürlich, ja er konnte sich sogar, wenn auch mit etwas besorgter Miene, für Hummeln begeistern, wenn Gyp sie einfing und in der hohlen Hand an das zarte, kleine Ohr hielt, um sich an ihrem Summen zu ergötzen. Er billigte es auch durchaus, daß sie dauernd die Blumenbeete des altmodischen Gartens plünderte, der im Frühling von spanischem Flieder und Goldregen strotzte, im Sommer von Rosen und Nelken, im Herbst von Dahlien und Sonnenblumen, obwohl er nur klein und vernachlässigt war, eingeengt durch die viel wichtigeren Pferdekoppeln rings. Er ließ es sich sogar gefallen, daß sie ihn auf den Gesang der Vögel aufmerksam machte – aber zu verstehen, wie innig sie Musik liebte, wie sehnlich sie nach ihr verlangte, das war ihm einfach versagt. Gyp war kein sonnig heiteres Kind, sie litt an rasch wechselnden Stimmungen, ähnlich wie ihre verwöhnte, braune Wachtelhündin – war bald unbeschwert wie ein Schmetterling, bald wieder ernst, beinahe finster. Stolz und Minderwertigkeitsgefühl mischten sich in ihr so stark, daß man nie wußte, welcher von beiden Empfindungen ihre plötzlichen Verdüsterungen entsprangen. Jeden Anschein von Härte nahm sie sich schrecklich zu Herzen, wie sie denn überhaupt in ihrer Überempfindlichkeit oft unter allerlei Einbildungen litt. Aus harmlosen Vorkommnissen, bei denen sich niemand etwas Böses gedacht hatte, glaubte sie schließen zu müssen, daß kein Mensch sie liebe, sie, die doch alle lieben wollte – oder doch fast alle. Dann dachte sie trotzig: »Wenn sie mich nicht leiden mögen – schön, sollen sie’s bleiben lassen, ich dränge mich keinem auf!« Lange hielt diese Verstimmung aber nie an, sie verflog wie ein Sommerwölkchen, und dann war sie wieder heiter und vergnügt – bis etwas von neuem sie aufs tiefste kränkte, was natürlich ebensowenig schlimm gemeint war. In Wahrheit nämlich liebte, ja vergötterte sie das ganze Haus, aber sie war eben eins jener empfindsamen, zarthäutigen Wesen, die – namentlich als Kinder – schwer an sich selber leiden. Reiten lehrte Winton Gyp natürlich selbst – zu seinem Entzücken kannte sie im Sattel keinerlei Furcht. Die Wahl ihrer Erzieherin traf er äußerst gewissenhaft und fand schließlich als geeignetste die Tochter eines verstorbenen Admirals, die in sehr bedrängten Verhältnissen lebte. Später kam noch zweimal wöchentlich ein Musiklehrer aus London nach Mildenham hinaus, ein älterer, etwas verbitterter Herr, der bald im geheimen seine Schülerin noch lebhafter bewunderte, als sie ihn. Eine Zeit linkischer Eckigkeit, die fast jedes junge Mädchen durchmachen muß, blieb Gyp erspart – sie entwickelte sich ebenmäßig und stetig. Winton betrachtete sie oft wie in einem Rausch: die Art, wie sie den Kopf wandte, wie ihre schönen, wundervoll klaren, braunen Augen plötzlich zu blinzeln anfingen, der Halsansatz, der schlanke Wuchs – alles das erinnerte ihn schmerzlich an die, die er einst so innig geliebt hatte. Und doch – bei aller Ähnlichkeit bestand zwischen Mutter und Tochter ein Unterschied, sowohl im Äußern als auch im Charakter. Gyps Körper war ganz außerordentlich fein gegliedert, und darum wirkte sie ein klein wenig anmutiger und graziöser. Geistig war sie etwas anspruchsvoller, seelisch mehr im Gleichgewicht und trotzdem wechselnder in ihren Stimmungen, besonders aber besaß sie bei aller Weiblichkeit die ausgesprochene Neigung, die Dinge nicht einfach als gegeben hinzunehmen, wie ihre Mutter es getan hatte. Wenn sie auch sehr zart war, so war sie durchaus nicht schwächlich – reiten konnte sie jedenfalls den ganzen Tag. Allerdings kam sie dann oft so müde nach Hause, daß sie sich erst einmal auf dem großen Tigerfell vor dem Kaminfeuer ausruhen mußte, bevor sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufsteigen konnte. Man lebte sehr einsam in Mildenham – zu Besuch kamen lediglich Wintons Jagdfreunde, und von denen auch nur wenige, da seine verfeinerte Geistigkeit den durchschnittlichen Landedelmann einfach nicht ertrug und seine eisigkühle Höflichkeit die Frauen abschreckte. Überdies regte sich, wie Betty es vorausgesehen hatte, bald genug der Klatsch. Einen so aufregend pikanten Fall ließ sich diese Gesellschaft natürlich nicht entgehen, er war vielmehr ein gefundener Anlaß für ihre im öden Einerlei des Landlebens stumpf gewordenen Gehirne. Wenn von diesem Geschwätz Winton auch nie das geringste zu Ohren kam, bildete es doch zweifellos den Hauptgrund, warum die Damen Mildenham streng mieden. Darum lernte Gyp außer bei zufälligen Begegnungen auf dem Kirchgang, bei Jagden und örtlichen Pferderennen kaum ein weibliches Wesen kennen. Dieser Mangel machte sie zurückhaltend und in gewissen Dingen spätreif, ließ sie außerdem halb unbewußt die Männer verachten, die sich so eifrig um ein Lächeln von ihr abmühten und gleich aus dem Häuschen gerieten, wenn sie nur die Stirne runzelte. Je älter sie wurde, um so heftiger wurde ihre Sehnsucht nach einer wirklichen Freundschaft mit einem Wesen ihres eigenen Geschlechtes, zumal die Frauen und Mädchen, denen sie flüchtig nähertrat, stets von ihr entzückt waren und dadurch das kurze Zusammensein mit ihnen für sie unbefriedigend, ja fast qualvoll wurde. Gyps geistiger und moralischer Entwicklung schenkte Winton keine sonderliche Aufmerksamkeit – das gehörte für ihn zu den Dingen, über die man am besten gar nicht spricht. Äußere Formen mußten selbstverständlich gewahrt, der allsonntägliche Kirchgang durfte nicht versäumt werden, gute Manieren sollte sie an seinem eigenen Beispiel lernen – was aber darüber hinaus ging, konnte man getrost der Natur überlassen. Gyp las rasch und mit wahrem Feuereifer, behielt aber das Gelesene nicht. Alle Werke in Wintons bescheidener Bücherei – einschließlich Byron, Whyte-Melville und Humboldts »Kosmos« – hatte sie bereits verschlungen, ohne daß diese Werke einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hätten. Die wiederholten Versuche ihrer Lehrerin, Verständnis für religiöse Fragen in ihr zu wecken, hatten einen ziemlich kläglichen Erfolg, und das Interesse, das der Vikar ihr entgegenbrachte, wertete Gyps kritischer Sinn durchaus nicht höher als das der anderen Herren der Schöpfung, die sie kennengelernt hatte. Sie fühlte, daß es ihm Spaß machte, sie »meine Liebe« zu nennen und ihr wohlwollend auf die Schulter zu klopfen, und dies Vergnügen war ihrer Meinung nach hinreichender Lohn für seine geistlichen Bemühungen. Da Gyp einsam in dem alten, düsteren Herrenhaus lebte – in Mildenham genügten nur die Stallungen neuzeitlichen Anforderungen – drei Eisenbahnstunden von London und meilenweit von der großen Welt entfernt, war ihr Bildungsgang natürlich nicht so modern wie der anderer Backfische ihrer Gesellschaftsschicht. Alljährlich nur zweimal brachte Winton sie auf einige Wochen in die Stadt, wo sie dann bei seiner unverheiratet gebliebenen Schwester Rosamunde in der Curzon-Straße wohnte. Diese Zeit förderte zwar Gyps angeborene Neigung, schöne Kleider zu tragen und gut zu essen, befriedigte auch ihre Leidenschaft für Musik und Theater, bot aber keinen Ersatz für das völlige Fehlen der Möglichkeit, alle Lebensfragen mit Gleichaltrigen zu erörtern und mit ihnen Sport zu treiben. Außerdem lagen ihre entscheidenden Lebensjahre, die vom fünfzehnten bis zum neunzehnten, vor dem sozialen Aufschwung von 1906, fielen also in eine Zeit, in der die Welt so langsam vorwärtskam wie eine Winterfliege auf der Fensterscheibe. Überdies war Winton Tory, Tante Rosamunde Tory, ja ihre ganze Umgebung bestand ausschließlich aus stockkonservativen Tories. Das einzig Geistige, was Gyp in ihren Mädchenjahren beeinflußte, war die unbändige Liebe zu ihrem Vater, wenngleich der Sinn für Schicklichkeit und Formen, den beide in hohem Maße besaßen, ihr jeden äußerlichen Überschwang verbot. Das Schönste für sie war, bei ihm zu sein, etwas für ihn zu tun, unbedingt an ihn zu glauben, ihn zu bewundern. Das ging so weit, daß sie es bedauerte, sich nicht so kleiden zu können wie er, nicht gleich ihm kurz, abgehackt und bestimmt reden zu dürfen – um sich dafür zu entschädigen, fand sie wenigstens Anzüge und Sprechweise der anderen Männer abscheulich. Außer dem ausgeprägten Formgefühl hatte sie von ihm die Gabe geerbt, ganz in einem Menschen aufgehen zu können, und da auch er in ihrer Gesellschaft glücklich war, lebte sie ständig wie in einem Liebesrausch. Überströmende...


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