Die Forsyte Saga. Villa Rubein. Der Landsitz. Weltbrüder. Der Patrizier. Die dunkle Blume. Die Freelands. Ein Heiliger. Jenseits.
E-Book, Deutsch, 4379 Seiten
ISBN: 978-3-7543-4067-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
John Galsworthy lebte von 1867 bis 1933 und war ein englischer Schriftsteller und Nobelpreisträger.
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triarchalischem Leben, vom Nomadenleben wilder Stämme, von der Blüte und dem Verfall der Nationen. Er war wie jemand, der einem Baum seit dessen Pflanzung beim Wachsen beobachtete – einem Musterbeispiel an Zähigkeit, Widerstandskraft und Erfolg inmitten hundert anderer absterbender Pflanzen, die weniger verzweigt, saftreich und langlebig waren – bis dieser eines Tages auf dem Gipfel seiner Entfaltung in beinahe abstoßender Üppigkeit mit dichtem, vollem Laub blühte. Am 15. Juni 1886 nachmittags gegen vier, hätte ein zufälliger Beobachter unter den Gästen im Hause des alten Jolyon in Stanhope Gate sich von der höchsten Blütezeit der Forsytes überzeugen können. Der Anlaß des Empfanges war die Verlobung von Miß June Forsyte, der Enkelin des alten Jolyon, mit Mr. Philip Bosinney. Im Festschmuck ihrer hellen Handschuhe, gelben Westen, Federn und Kleider war die ganze Familie anwesend – selbst Tante Ann, die nur noch selten die Ecke im grünen Wohnzimmer ihres Bruders Timothy verließ, wo sie im Schutze eines Büschels gefärbter Pampasgräser in einer hellblauen Vase, von den Bildern dreier Generationen der Forsytes umgeben, den ganzen Tag lesend und strickend saß. Selbst Tante Ann war da; mit ihrem ungebeugten Rücken und der stillen Würde ihres alten Gesichts ein Bild starren Festhaltens an der Familienidee. Wenn ein Forsyte sich verlobte, heiratete oder geboren wurde, waren die Forsytes dabei. Wenn ein Forsyte starb – aber bis jetzt war noch kein Forsyte gestorben; sie starben nicht, der Tod widersprach ihren Grundsätzen, sie trafen Vorsichtsmaßregeln dagegen, ganz instinktiv, wie Menschen von hoher Lebenskraft, die keine Eingriffe in ihr Eigentum dulden. Den Forsytes, die sich heute unter die Schar der Gäste mischten, war eine größere Sorgfalt in ihrer Erscheinung anzumerken, eine wachsame, inquisitorische Sicherheit, eine gediegene Solidität, als wären sie darauf gefaßt, sich gegen irgend etwas zu wehren. Der dem Gesicht von Soames Forsyte eigene schnüffelnde Zug hatte sich ihren Reihen mitgeteilt; sie waren auf ihrem Posten. Die halb unbewußte Feindseligkeit ihrer Haltung stempelte den Empfang beim alten Jolyon zum psychologischen Moment der Familiengeschichte, machte ihn zum Vorspiel ihres Dramas. Etwas verstimmte die Forsytes, nicht persönlich, aber als Familie; und diese Verstimmung äußerte sich in einer mehr als sorgfältig gewählten Kleidung, einem Übermaß von Familienherzlichkeit, einer übertriebenen Betonung der Familienwürde – und in jenem ›Schnüffeln‹. Was die Forsytes witterten, war Gefahr – und eine solche war kaum zu vermeiden, wenn man den Grundeigenschaften einer Gesellschaft, einer Gruppe oder eines Individuums auf die Spur kommen wollte; die Vorahnung einer Gefahr verlieh ihren Waffen Glanz. Zum ersten Mal schienen sie als Familie das Gefühl zu haben, mit einer unbekannten, unsicheren Sache in Berührung zu kommen. Am Klavier drüben stand ein beleibter, stattlicher Mann mit zwei Westen über der breiten Brust, mit zwei Westen und einer Rubinnadel, anstatt der Atlasweste und der Diamantnadel für mehr gewöhnliche Gelegenheiten, und sein glattrasiertes, breites, altes Gesicht von der Farbe blassen Leders, mit den hellen Augen, hatte über der Atlasbinde seine würdevollste Miene aufgesteckt. Dicht am Fenster, wo er mehr als sein Teil frische Luft schöpfen konnte, schaute vornübergeneigt wie immer, sein Zwillingsbruder James versunken auf das Schauspiel vor ihm. Wie der beleibte Swithin war er über sechs Fuß hoch, aber sehr hager, als sei er von Geburt an dazu bestimmt, das Gleichgewicht herzustellen und den Durchschnitt aufrecht zu erhalten – den Dicken und den Dünnen nannte der alte Jolyon diese beiden. Seine grauen Augen hatten einen Ausdruck völliger Vertieftheit in geheime Unruhe, die nur zuweilen durch einen raschen prüfenden Blick auf die Vorgänge um ihn her unterbrochen wurde, und seine Wangen, die zwei gleichlaufende Falten und eine glattrasierte Oberlippe schmal erscheinen ließen, waren von langen Koteletts umrahmt. In den Händen drehte er einen Porzellangegenstand hin und her. Nicht weit davon, neben einer Dame in Braun, der er zuhörte, sah man blaß und gutrasiert, mit dunklem Haar, aber ziemlich kahl, das Kinn seitwärts vorgeschoben, seinen einzigen Sohn Soames, der die Nase mit dem bewußten ›Schnüffeln‹ hob, als verschmähte er ein Ei, das für ihn unverdaulich war. Hinter ihm sein Vetter, der lange George, ein Sohn Rogers, des fünften Forsyte, mit dem durchtriebenen Blick in dem fleischigen Gesicht, über einem seiner boshaften Späße grübelnd. Auf allen lastete ein Druck, der mit der festlichen Veranlassung in Zusammenhang stand. In einer Reihe, dicht nebeneinander, saßen drei Damen – die Tanten Ann, Hester (die beiden alten Jungfern der Familie Forsyte) und Juley (Diminutiv von Julia), die sich, und nicht einmal in ihrer ersten Jugend, so weit vergessen hatte, Septimus Small, einen Mann von schwächlicher Konstitution, zu heiraten. Sie hatte ihn um viele Jahre überlebt. Jetzt wohnte sie mit ihrer älteren und jüngeren Schwester im Hause ihres sechsten und jüngsten Bruders Timothy in der Bayswater Road. Jede dieser Damen hielt einen Fächer in der Hand und betonte durch eine Farbennote, eine effektvolle Feder oder Brosche das Festliche der Gelegenheit. Mitten im Zimmer, unter dem Kronleuchter, stand, wie es sich für einen Wirt gebührt, das Haupt der Familie, der alte Jolyon selbst. Mit seinen achtzig Jahren, dem schönen weißen Haar, der hochgewölbten Stirn, den kleinen dunkelgrauen Augen und einem mächtigen, herabhängenden Schnurrbart, der über die ganze Breite seiner starken Kinnladen reichte, glich er einem Patriarchen, und trotz der hageren Wangen und eingefallenen Schläfen schien er über eine unversiegbare Jugendkraft zu verfügen. Er hielt sich außerordentlich aufrecht, seine scharfen ruhigen Augen hatten nichts von ihrem hellen Glanz verloren, und er erweckte so, dem Zweifel und der Unentschlossenheit unbedeutenderer Menschen gegenüber, den Eindruck von Überlegenheit. Nachdem er unzählige Jahre hindurch seinen eigenen Weg gegangen war, hatte er ein unbestrittenes Recht darauf erworben, und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, Bedenken oder Mißtrauen zu hegen. Zwischen ihm und den vier anderen Brüdern, James, Swithin, Nicholas und Roger, die sich alle eingefunden hatten, herrschte große Verschiedenheit und große Ähnlichkeit. Jeder einzelne dieser Brüder unterschied sich deutlich von den anderen, und doch glichen sie sich alle. Bei aller Abweichung in Zügen und Ausdruck dieser fünf Gesichter war eine gewisse Festigkeit des Kinns auffallend, das trotz äußerlicher Unterschiede als ein Rassenmerkmal – die wahre Zunftmarke und Gewähr für den Familienwohlstand – gelten konnte, aber zu lange bestand, und aus zu ferner Vorzeit stammte, um nachgewiesen und festgestellt zu werden. Bei der jüngeren Generation, dem großen stierähnlichen George, dem bleichen kraftvollen Archibald, dem jungen Nicholas mit seinem liebenswürdig schüchternen Eigensinn und dem ernsten, in seiner Entschiedenheit fast albernen Eustace, bemerkte man, weniger ausgesprochen vielleicht, aber unverkennbar, dasselbe Merkmal – ein unausrottbares Zeichen des Familiencharakters. Auf allen diesen ungleichartigen und doch so ähnlichen Gesichtern hatte sich im Laufe des Nachmittags mitunter ein Ausdruck des Argwohns gezeigt, dessen Gegenstand offenbar der Mann war, den kennen zu lernen, sie sich hier versammelt hatten. Sie wußten, daß Philip Bosinney ein junger Mann ohne Vermögen war, aber Forsytesche Mädchen hatten sich auch früher mit solchen verlobt und sie dann auch wirklich geheiratet. Dies also war nicht eigentlich der Grund ihrer Besorgnis. Sie hätten den Ursprung dieser durch den Nebel des Familienklatsches verdunkelten Bangigkeit nicht erklären können. Jedenfalls ging das Gerücht, er habe seinen Antrittsbesuch bei den Tanten Ann, Hester und Juley in einem weichen grauen Hut gemacht! – in einem weichen grauen Hut! Und nicht einmal in einem neuen – sondern in einem verstaubten, formlosen Ding. »Unglaublich, nicht wahr – sehr merkwürdig!« Als Tante Hester durch den kleinen dunklen Flur ging, hatte sie versucht (sie war ziemlich kurzsichtig) das Ding vom Stuhl hinunter zu scheuchen, da sie es für eine gemeine fremde Katze hielt – ihr Tommy hatte so kompromittierende Freunde! Sie war ganz verstört, als es sich nicht rührte. Wie ein Künstler beständig die bedeutsame Kleinigkeit zu entdecken sucht, in der sich der ganze Charakter einer Szene, eines Ortes oder eines Individuums verkörpert, waren die Forsytes, diese unbewußten Künstler, ganz intuitiv an diesem Hute haften geblieben. Das war für sie die bedeutsame Kleinigkeit, der kleine Nebenumstand, der die Bedeutung der ganzen Sache in sich faßt; denn jeder hatte sich gefragt: »Hättest du diesen Besuch in solchem Hut gemacht?« und jeder hatte erwidert »Nein!« und einige mit mehr Phantasie hatten hinzugefügt: »So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen!« Als George die Geschichte hörte, grinste er. Mit dem Hut hatte der junge Mann sich offenbar einen Scherz erlaubt! Er selbst verstand sich auf dergleichen. »Sehr kühn!« sagte er. »Dieser wilde ›Freibeuter‹!« Und dieses mot, ›Freibeuter‹, ging von Mund zu Mund, bis er die Lieblingsform wurde, mit der man auf Bosinney anspielte. Die Tanten machten June später Vorwürfe wegen des Hutes. »Du hättest das nicht zulassen dürfen, mein Kind!« hatten sie gesagt. Auf ihre herrisch lebhafte Art, in der sich die ganze Willenskraft des kleinen Geschöpfes offenbarte, hatte June geantwortet: »Ach, was schadet das? Phil weiß nie, was er...