E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Gallico Die Schneegans
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70548-2
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-311-70548-2
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
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Ludmila
Eine Erzählung aus Liechtenstein
Talaufwärts von Steig, einem Dorf im FürstentumLiechtenstein, wo von den Gipfeln des Ochsenkopfs und Silberhorns der ungestüme Malbun aus seinem Gletscherbett herabgestürzt kommt, findet man in einer Nische, die über den schäumenden Wassern aus dem Felsen gehauen ist, einen Bildstock der Sancta Ludmila, der heiligen Notburga.
Es ist eine liebliche Gestalt in Sennerinnentracht mit einem sonnengoldenen Strahlenkranz statt des gewöhnlichen Heiligenscheins hinter dem Haupt. In der einen Hand hält sie eine Sichel, in der anderen einen Milchkrug, denn sie ist die Schutzpatronin der Sennen und Melker, der Hirten, Käser und Buttermacher; und das graubraune Alpenvieh mit den breiten Stirnen, den geschwungenen Hörnern und den großen, sanften Augen steht unter ihrem besonderen Schutz.
Ein ausgeblichener Schädel und die fahlen Hörner einer, wie es scheint, einst kleinen Kuh zu Füßen der Figur deuten außerdem auf ein enges Verhältnis der Heiligen mit diesen Tieren hin.
Die jüngste Generation, die nicht mehr mit den Gebirgslegenden aufgewachsen ist, weiß wohl kaum, was es damit auf sich hat; doch so mancher der Ältesten aus dem Tal kann sich noch erinnern, wie er auf dem Schoß der Mutter von dem Wunder hörte, das die heilige Notburga, die selige Milchmagd, vor mehr als hundert Jahren vollbracht hat, als der Sommer zu Ende ging und das Vieh von der Alp nach Vaduz im Rheintal heruntergetrieben wurde.
Alle, die an dem Ereignis beteiligt waren, sind längst tot, der bärtige, nüchterne Senn Alois, seine braunhaarige Tochter Ludmila, die damals erst sieben war und den Namen der Heiligen trug, Pater Polda, der Bergpriester, Kaplan in Steg, und natürlich der kleine Schwächling, die Kuh, deren Schädel und Hörner den Bildstock der Schutzheiligen aller Milchkühe schmücken.
Nur das strahlendblaue Fest kann man noch jeden Herbst in Liechtenstein erleben, sobald es auf den Pässen oben zu schneien droht und das Vieh zu husten beginnt, wenn die kalten Winde vom Sareiserjoch und den Gletschern hinter dem Wildberg und Panülerkopf herunterfegen.
Siebzehnhundert Meter über dem gewundenen Rhein, hinter der Granitmauer der Drei Schwestern oberhalb Schaan verbirgt sich das Saminatal, das nach Malbun hinaufführt. Es zeichnet sich durch sein saftiges Gras und die ruhigen, geschützten Weiden aus, auf denen da und dort eine Pflanze wächst, die man in den Niederungen nicht findet, eines jener seltenen Frauenmantelgewächse der Gattung Alchemilla, das die Liechtensteiner Mutterkraut nennen, weil die Kühe, wie man glaubt, mehr Milch geben, wenn sie es fressen. Die Sennen halten ständig die Augen offen nach den gelbblühenden, breitblättrigen Pflanzen, die am besten an jenen schattigen Plätzen zu gedeihen scheinen, wo der Schnee im Winter am längsten liegen bleibt.
Zugang zu diesem verborgenen und bezaubernden Tal bietet der durch fünfhundert Meter massiven Fels führende Tunnel in der Nähe von Steg, durch den das Vieh, wie es in Liechtenstein üblich ist, jedes Frühjahr ins Gebirge hinaufzieht. Es wird den Sennern, Melkern und Käsern anvertraut, die mit den Tieren aufbrechen und ihre Familien in pferdebespannten Holzkarren mitnehmen.
Dort bleiben sie den ganzen Sommer über, leben hoch oben in den Alphütten, hüten die Kühe auf der Weide, melken sie, machen gleich an Ort und Stelle den fetten gelben Käse, die sahnige Butter und zeichnen den Ertrag eines jeden Tiers sorgfältig auf. Mit dem Tal unten haben sie keine Verbindung. Herde und Hirten sind verschwunden und tauchen erst Mitte September wieder auf.
Doch dann kommt der große Tag.
Meilenweit strömen die Bauern aus dem ganzen Land in Gnalp unterhalb des Kulms am Ausgang des Tunnels zusammen. Von Triesen, Vaduz, Balzers und Schaan unten im Rheintal steigen sie die gewundenen Wege herauf, begrüßen freudig winkend die zurückkehrenden Wanderer und drängen sich so nah wie möglich an den Ausgang des Tunnels, um zu sehen, welche und wessen Kuh als Erste auftaucht und zum Zeichen ihrer Meisterschaft alle andern führen darf.
Die Alpabfahrt, der Abtrieb, beginnt am frühen Morgen, wenn die strahlende Sonne über dem Rheintal die schneidend scharfe Gebirgsluft erwärmt. Zunächst hört man nur das lebhafte Geplauder der Umstehenden, die Rufe spielender Kinder und das ferne Brausen der Gießbäche. Doch plötzlich, sobald ein dumpfes Dröhnen aus der dunklen Tiefe des Tunnels hallt, breitet sich in der gebannten Menge erwartungsvolles Schweigen aus. Das ist der Ton der riesigen Messingglocke, die eigens für diese Gelegenheit gegossen wurde und die das Leittier um den Hals trägt.
Lauter, immer lauter wird das Geläut, mit dem die Herde anrückt, und immer stiller werden die Menschen, bis plötzlich mit dem dramatischen Effekt eines Stars, der unversehens die Bühne betritt, die Meisterin aller Meisterinnen im Licht auftaucht und einen Augenblick in dem dunklen Rahmen des Tunnels verharrt.
Sie bietet einen ungemein prächtigen Anblick. Um ihren weichen, grauen Nacken hängt an einem blanken, dunklen Lederhalsband die riesige Messingglocke, die mit silbernen Herzen und Sternen geschmückt und mit einem silbernen Klöppel versehen ist. Diese Glocke und die Stellung als Leittier zeichnet sie als die beste Kuh der Alp aus, als beste Kuh des Sommers, als bestes Tier im Lande.
Auf der Stirn trägt sie ein rotes Herz oder Kreuz, um zu symbolisieren, dass ihre Milch oder ihr Rahm überdurchschnittlich sind. Doch das Wichtigste von allem, was sie als Beste ihrer Herde im Hinblick auf den Ertrag von Milch, Butter und Käse auszeichnet, ist der einbeinige Melkschemel, der mit dem Fuß nach oben auf dem breiten edlen Haupt zwischen dem anmutigen Schwung der Hörner thront.
Er ist festgebunden wie der lustige Frühlingshut eines Mädchens und mit Bändern in den Liechtensteiner Farben Blau und Rot, aber auch in Rosa, Weiß, Silber und Gold, geschmückt. Auf dem Kopf trägt sie eine Krone von Lorbeerblättern, und hinter den Ohren stecken rot-weiß-blaue Rosetten. Das lederne Halsband ist bunt von Wiesenblumen. Man kann sie nur mit Staunen und Bewunderung betrachten, denn all das erhöht hundertfältig ihre sonst so schlichte natürliche Schönheit.
Aus dem langen Tunnel windet sich der Zug den Berghang hinab; der Siegerin folgen die Zweitbesten, die Gewinner in den unteren Klassen, eine jede mit Herz, Kreuz oder dem Melkschemel zwischen den Hörnern, dahinter die girlandengeschmückten Pferde, die die Familienkarren ziehen, und die Sennen und Melker mit Rosetten aus buntem Band an den Hemden und rosenroten oder himmelblauen Kokarden an den Hüten, zum Zeichen, dass sie alle zurückgekehrt sind. Auch diese Zeichen lösen freudigen Jubel aus. Keine Unglücksfälle, keine Krankheiten, keine Todesopfer. Gott ist gut gewesen. St. Rochus und Sancta Ludmila, die heilige Notburga, haben alle beschützt und jedes Leid ferngehalten. Abermals ist ein Jahr vorüber. In den blumenumrankten Karren zeugen Butterfässer und die wie rote und gelbe Kanonenkugeln aufgestapelten Käse von Wohlstand und Erfolg, den der Schöpfer seinen Kindern durch die Natur geschenkt hat.
Und zuallerletzt kommen, offensichtlich beschämt und mit traurigen Augen, als wüssten sie um ihr Versagen, ohne Insignien oder Farbenschmuck an Horn oder Flanke, von keinem beachtet außer den Hirtenhunden, die nach ihren Beinen schnappen, und den Sennbuben, deren Aufgabe es ist, die Nachhut zu führen, die Tiere minderen Schlags oder von geringerer Leistungsfähigkeit, die sich nicht durch die Menge ihrer Milch, den Fettgehalt ihres Rahms oder die guten Proteine in den Kanonenkugelkäsen ausgezeichnet haben. Ihrem unglücklichen Gesichtsausdruck nach könnte man schwören, dass sie wissen, wie sehr sie versagt haben.
Bis sie aus dem Tunnel auftauchen, ist niemand mehr da, um sie zu begrüßen oder auch nur zu beachten; die Menge hat sich aufgelöst, um die bunte Kavalkade der erfolgreichen Tiere den Hang hinabzubegleiten, und überlässt es den anderen, die Nachhut hinunterzubringen, so gut es eben geht.
Es ist ein Tag der Freude und der Begeisterung mit immer neuen Glückwünschen für die Besitzer der siegreichen Kühe, mit vollen Wirtshäusern und rotem Vaduzer Wein für die Sennen und Melker. Ein großes Fest für die Tüchtigen!
Heute verschwendet man bei den Festen und Zechgelagen, die mit diesem Ereignis verbunden sind, kaum noch einen Gedanken an die heilige Notburga, eine einfache Milchmagd aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert, die durch ihre Frömmigkeit, ihren Glauben und ihre Liebe zur Jungfrau Maria zur Heiligen und Schutzpatronin des Alpenviehs und ihrer Hirten wurde.
Die Skifahrer, die im Winter bei Einbruch der Dämmerung von den Hängen Malbuns zurückkehren, würdigen sie kaum eines Blickes, und das Ave, das ihr einst allabendlich von den Sennen gesungen wurde, ist heute nur noch zwischen den Deckeln eines Buches zu finden statt in den Herzen der Leute.
In den alten Tagen, als man im Gebirge noch an Wunder, Zauberei und Geister glaubte, die einst die Schluchten, Bergwege und dunklen Wälder bevölkerten, war das anders. Die Natur sprach lebendiger zu den Menschen als heute.
In jenen Zeiten gab es noch Hexen, Elfen, Kobolde, kleine haarige Zwerge, gute und böse Feen und Heilige, die menschliche Gestalt annahmen und vom Himmel herniederstiegen, um den Frommen beizustehen oder die Bösen zu bestrafen. Werwölfe strichen über die Hänge, und in den Felsenhöhlen hauste der schuppige Drache mit seinem giftigen Atem und dem tödlichen Stachel. Selbst die großen Adler, die von den hohen Klippen nach pfeifenden Murmeltieren spähten, wurden mit abergläubischer Scheu betrachtet.
Gerade am Ende dieser Periode, zu Beginn der...